Stefan G. Rohr

Das Kontingent


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das besonders bei den Mädchen in den Häfen der nahen und fernen Länder Aufmerksamkeit erregt haben wird.

      Irgendwann braucht aber auch der noch so sprunghafteste Seemann einen festen Hafen und Fredo heiratete. Während er auf den Weltmeeren unterwegs war, wartete sie all die Monate sehnsüchtig auf ihn. Ihre Sehnsucht war so groß, dass sie sich mit einem Pizza-Lieferanten tröstete. Aufgrund der vielen neuen Lieferservices zog es Fredo vor, hiernach nicht noch einmal zu heiraten und verschrieb sich nun ganz der Seefahrt. Er fuhr unter griechischer Flagge an die dreißig Jahre und es gab kaum ein Land, das er nicht gesehen hat. Mit der Wirtschafts- und Bankenkrise ging auch seine Reederei Konkurs. Seine Betriebsrente und Altersversorgung hatte sich damit gleichermaßen in Rauch aufgelöst. Und weiter fahren lassen sie ihn nicht mehr. Zu oft hat er dafür seinen Kummer ertränkt. Sein Patent hat sich seiner Rente angeschlossen – und hat somit nur noch Erinnerungswert.

      Genau genommen, sind die meisten von uns Verlierer. Jeder hat dafür so seine eigene Geschichte, Interpretation und Rechtfertigung. Tatsache aber ist, dass wir wohl eindeutig zur Gruppe der Gestrandeten gehören, allesamt kaum in der Lage, uns über Wasser zu halten. Unser Haus scheint das irgendwie anzuziehen. Ich selbst wohne hier nun fast fünf Jahre. Die Wohnung, wenn man 34 Quadratmeter als eine solche bezeichnen kann, hat mir zwar nicht gefallen, es blieb jedoch kein anderer Ausweg. Heute bin ich froh, hier gelandet zu sein.

      Die Dynamik meines Lebens ist am ehesten mit der einer Wanderdüne zu vergleichen. Etwas Spektakuläres sucht man bei mir vergebens. Ich begann früh ein Praktikum bei einem Wochenblatt und verkaufte Kleinanzeigen. Als der Verlagsinhaber nach einer Alkoholfahrt für einige Wochen im Krankenhaus lag, schrieb ich versuchsweise einige Artikel. Es war ja kein anderer da. Erstaunlicherweise kam es so plötzlich bei diesem Blättchen zu ersten wohlgemeinten Leserbriefen. Als ich dann wieder Anzeigen verkaufen sollte, erhielt ich einen Anruf von einer richtigen, großen Zeitung. Es wäre dort eine Volontärs-Stelle frei und ich sollte doch mal vorbeikommen. Kurz darauf begann ich in der Redaktion `Lokales´.

      Dort blieb ich, bis zu der ersten Welle der Massenentlassungen in der Zeitungswirtschaft. Da war ich fast Mitte Fünfzig. Nach der vierhundertsten Bewerbung gab ich schließlich zu hoffen auf, irgendwie weiter als Journalist arbeiten zu können. Meine kleine Abfindung habe ich als Langzeitarbeitsloser längst aufgezehrt. Deshalb verbessere ich seit einiger Zeit meine Sozialhilfe durch Zeitarbeitseinsätze als Aushilfsarbeiter. Da ich als ungelernt gelte, liegt mein Lohn in der Größenordnung, die anderenorts am Sonntag im Klingelbeutel landet. Das Schreiben lasse ich zwar nicht ganz sein, doch es ist eher für mich selbst, für mein Selbstwertempfinden und manchmal sende ich tatsächlich auch etwas ein.

      Eine schöne Truppe also, die sich hier hat ans Ufer treiben lassen. Es gibt sicher illustre Gesellschaften. Doch vielleicht ist es gerade diese Mischung, die all das, was noch geschehen soll, erst zu Stande kommen ließ. Heute jedenfalls denke ich, dass es anders nie geklappt hätte. Wenn wir zu diesem Zeitpunkt geahnt haben würden, was alles auf uns zukommen soll, hätten wir wohlmöglich anders entschieden. Aber hätten wir wirklich?

      Julius ist inzwischen alkoholgeschwängert eingeschlafen und sein Kopf liegt auf Martas rechter Schulter. Gut so, denn die nächsten Tage würden bestimmt kein Zuckerlecken für ihn werden. Unter bösen Blicken von Marta zünden wir Raucher uns noch eine Zigarette an und reichen den Rest vom Kirschwasser herum. Es ist noch einmal stiller unter uns geworden. Der klare Himmel zeigt seine Sterne, und die, die wir durch den Schacht des Innenhofes sehen können, funkeln, als wäre nichts geschehen. Ich ertappe mich dabei, eine Sternschnuppe zu erhoffen. Ich weiß, was ich mir jetzt wünschen würde. Doch an diesem Abend soll ich einfach keine sehen.

      Es kommt jemand durch den Hofeingang. Wir sehen, dass es Sharif ist, neben Julius der andere Jungbewohner in unserer Gemeinschaft. Wenn wir ihn ärgern wollen, nennen wir ihn kurz „Shah“. Er betont dann immer gleich, dass er Syrer und nicht Perser sei. Wir finden das zwar nicht unbedingt so weltentscheidend, aber er besteht nun einmal darauf. Mit seinem unübersehbaren orientalischen Äußeren sowie seinem Akzent könnte er ebenso gut aus dem Irak, dem Libanon oder der Türkei stammen. Sein Herz brennt natürlich für seine Heimat, einer Region, die wir vor seinem Einzug in unser Haus lediglich als eine der vielen totalitären Regime-Staaten und, seit dem arabischen Frühling in jüngster Zeit, als eines der Krisengebiete des Nahen Ostens kennen.

      Sharif al-Basir ist ebenso alt, wie Julius. Seine schwarzen Haare sind enorm lockig und Marta sagt immer, dass er als Baby wohl ausgesehen haben müsste, wie der Botticelli-Engel eines Kalifen. Sharif studiert Maschinenbautechnik und will als Ingenieur irgendwann einmal zurück in seine Heimat, um dort sein Land aufzubauen. Marta hatte anfänglich den Kontakt zu ihm gescheut, als Sie aber erfuhr, dass er zur christlichen Minderheit gehört, war sie beruhigt. Einen Moslem zwei Etagen höher zu wissen, wäre ihr irgendwie nicht geheuer gewesen.

      Als wir ihm vom Tod Kallis erzählen, steht Sharif die pure Fassungslosigkeit in den Augen. Er ist noch nicht sehr lange bei uns, aber sein herzliches Wesen, seine Klugheit und seine Hilfsbereitschaft haben ihn schnell einen von uns werden lassen. Julius und er ziehen ab und zu gemeinsam um die Häuser und die beiden verbindet inzwischen eine echte Freundschaft. Denn beide sind gleichermaßen intelligent, talentiert und mit Erfolg bei der Sache.

      Julius kam in diesem Haus zur Welt, und seine Mutter starb noch in derselben Nacht. Er wuchs mit Hilfe der Nachbarsmütter und natürlich mit Martas Hilfe auf. Seinen Vater liebt er über alles und ist deshalb durch nichts zu bewegen, unsere Wohngemeinschaft zu verlassen und in eine schönere Wohnung und Gegend zu ziehen. Wie oft haben wir es ihm aber genau das angeraten, da er hierher ja auch kaum ein vernünftiges Mädel bringen kann. Erst Recht nicht, wenn es was Ernstes werden sollte. Sich mit diesem Haus und dazu vielleicht noch uns anfreunden zu können, dafür muss man schon einiges verkraften. Er ist aber bis heute geblieben und sorgt immer wieder dafür, dass auch mal wieder das Licht des normalen Lebens zu uns vordringt.

      Nach und nach löst sich unsere Gruppe auf. Ich gehe als Letzter, reichlich alkoholgeschwängert, ins Bett und mein Schlaf ist schwer und traumlos. Die sich anschließenden Tage vergehen wie im Fluge. Die Trauer um unseren Freund hält uns voll und ganz im Würgegriff. Wir treffen alle Vorbereitungen für Kallis Beerdigung und staunen nicht schlecht, was es alles zu organisieren und zu bedenken gibt.

      Nach noch nicht einmal einer Woche haben wir uns auf dem Altonaer-Hauptfriedhof zusammengefunden, stehen als sehr kleine Trauergemeinschaft um das Grab und übergeben Kallis Asche der bereitwillig wartenden Erde. Ebenso schmucklos, wie er sein Leben geführt hat, verläuft seine letzte Zeremonie. Wir können uns eben nicht viel leisten. Und zu allem Übel beginnt es dann auch noch zu regnen. Wir werfen jeder eine Schippe des nun schon nassen Sandes auf die Urne, verharren ein paar Augenblicke des Gedenkens an unseren Freund und Wegbegleiter und reichen die Schaufel an den nächsten. Als wir gehen, drehe ich mich nach wenigen Schritten noch einmal um. Marta hat noch einen paar Blumen auf das frische Grab gelegt. Es sieht fast so aus, als hätte diese dort jemand vergessen.

      Ich habe mich seither oft gefragt, ob Kalli wohl schon wusste, was wir in den wenigen Tagen und Wochen hiernach erleben würden. Ob er sich vielleicht sogar gefreut hat, ob er zufrieden war, dass wir uns so entschieden haben, wie wir es taten. Zugesehen haben wird er uns in jedem Fall. Da bin ich mir sicher.

      2

      Ich erwache. Auf die Uhr zu schauen, brauch ich nicht. Es ist wie immer genau sechs Uhr. Die kleine Fabrik auf der gegenüberliegenden Seite der Straße hat ihren Betrieb aufgenommen. Und sie weckt mich beharrlich mit ihren monotonen Geräuschen. Mein Fenster, das direkt zur Straße geht, dämpft den Schall der Maschinen nur wenig. Ich stehe auf und gehe ins Bad. Wie fast jeden Morgen mache ich mich startklar, obwohl ich nicht weiß, ob es einen Einsatz für mich gibt. Wenn aber ja, dann muss ich schnell machen. Aushilfsarbeiter haben pünktlich zu sein.

      Im Treppenhaus höre ich Schritte die vor meiner Türe verhallen. Es folgt ein leises Klopfen. Ich höre Willis Stimme:

      „Bist Du schon wach…?“

      Er klopft erneut. Als ich die Tür öffne, drängelt er auch schon an mir vorbei und geht schnurstracks in mein Wohnzimmer.

      Ich