Stefan G. Rohr

Das Kontingent


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Und das ist für uns alle in dieser Güte etwas völlig Neues, bisher Nichtgekanntes.

      Marta, aber auch Kalli, wohnen schon viel länger als der Rest von uns in diesem Haus. Marta ist für uns alle hier eine Mischung aus guter Freundin, älterer Schwester, manchmal auch Mutter. Ihre Mitte Siebzig sieht man ihr nicht wirklich an, denn sie hat noch ein sehr glattes Gesicht und schöne volle Haare, die sie stets ein wenig blond hält. Sie ist zwar Klavierlehrerin, doch mit ihren meist hoch geschlossenen Kleidern, hellen Spitzenkragen und ungalanten Schnallenschuhen könnte sie sich genauso gut der Deutschen Grammatik verschrieben haben. Sie lebt uns Tugendhaftigkeit vor und so manche unserer Launen und Eigenarten, Laster und Gewohnheiten treffen bei ihr auf Missfallen, welches sie prompt und unermüdlich mit fürsorglichen Predigen und Apellen unverblümt mitteilt.

      Sie hat von ihrem Mann eine kleine Rente, die sie über Wasser hält. Mit den Einnahmen aus ihren Klavierstunden dazu, ist sie unter uns so etwas, wie der Krösus. Die Zahl ihrer Schüler sinkt zwar rapide, doch es bleiben immer noch ein paar Eltern, die ihren Kindern ein wenig Kultur vermitteln lassen. Mozart, Beethoven und Chopin allerdings drehen sich bei den gehackten Etüden der Probanden regelmäßig in ihren Gräbern. Auch nicht gerade ein schönes Dasein, wie ich finde. Und wir, als die gequälten Zwangszuhörer, werden dann immer einmal wieder dadurch entlohnt, dass uns Marta persönlich ihre hohe Kunst beweist.

      Ihre Finger sind, trotz ihres Alters, geschmeidig und flink, absolut sicher und mit einem verzaubernden Anschlag gesegnet. Unter uns ist sie die ruhende Kraft und sorgt für Ausgleich und Gelassenheit. Als Katholikin geht sie uns zwar des Öfteren mit wiederholten Ermahnungen und Zurechtweisungen in Bezug auf unser in ihren Augen allzu loses und manchmal sogar sündhaftes Leben auf die Nerven, aber im Herzen liebt sie uns alle, so wie wir sind und meint es nur gut, denn sie sorgt sich schließlich um unser Seelenheil.

      Während in der Druckwerkstatt noch das Licht brennt und sich der gelbliche Schein kegelförmig über den Hof ergießt, sitzen wir in dieser lauen Juninacht zum zweiten Mal auf unserer Bank, der Rest steht abermals im Halbkreis um die Sitzenden herum. Wir trinken Martas Früchtetee, aber dieser ist für uns eigentlich mehr ein Alibi. Unsere Aufmerksamkeit gehört eindeutig der Flasche Kirschwasser, die wir so gerecht wie es zwischen routinierten Schlitzohren eben geht, in unsere Teegläser verteilten. Nur Willi hat erst einmal einen großen Schluck direkt aus der Flasche genommen, als diese unter kaum merklich angehobenen Augenbrauen von Marta in unsere Verfügung überging. Der Alkohol belebt schnell unsere Gemüter und erzeugt eine warme Ausstrahlung in unserer Bauchgegend, die die dumpfe Leere in unseren Köpfen wohltuend überstrahlen lässt.

      Wir sprechen nicht viel und wenn einer etwas sagt, dreht es sich um die Unvorhersehbarkeit des Todes, und dass wir Julius jetzt trösten und auffangen müssen. Der Junge sitzt inmitten von uns und starrt mit geröteten Augen in den Himmel über unserem Hof. Wir sorgen dafür, dass er nochmals einen guten Schluck mehr erhält, denn wir erhoffen uns damit eine schnellere Bettreife unseres Schützlings.

      Marta schaut immer wieder in die Runde, sieht mich an, Willi, Ruprecht, Fritz und Fredo. Ihr Blick ist so tief traurig, dass es mir den Hals zuschnürt. Gleichfalls aber habe ich für eine kleine Sekunde das Gefühl, sie schaue uns an, sich fragend, ob einer von uns vielleicht der nächste sei.

      Da ist unser Ruprecht, mit vollem Namen: Dr. Ruprecht Scholz. Äußerlich passt er eigentlich gar nicht so recht zu uns, denn er bevorzugt bis heute, seine Anzüge aus besseren Zeiten aufzutragen. Damit wirkt er stets ein wenig `overdressed´. Bei näherer Betrachtung stellt man allerdings fest, dass selbst ein klassischer Stil irgendwann einmal aus der Mode kommt, der Stoff an den besonders beanspruchten Stellen sichtbar dünner wird und seinem Träger dann ein etwas ärmliches Aussehen verleibt. Ruprecht ignoriert das jedoch. Wichtiger ist es für ihn, sich von der Allgemeinheit abzuheben. Ihn einmal ohne eine Krawatte zu ertappen, gehört zu den seltenen Momenten und kann deshalb an einer Hand abgezählt werden. Seine bis heute hagere, dünne Figur lässt ihn mit seiner Größe von fast zwei Metern noch schlaksiger wirken, als er ohnehin ist und stehen wir im Kreise zusammen, ragt sein Kopf wie der Hamburger Michel aus unserer Mitte hervor.

      Ruprecht ist eigentlich Rechtsanwalt, einst einmal mit einer gutgehenden Kanzlei. Doch diese hat er nicht mehr. Mit seinen sechzig Jahren wäre er zwar noch lange nicht zu alt um zu arbeiten, doch er hat vor einigen Jahren seine Gerichtszulassung verloren. Schuldlos, wie er stets beteuerte, reingelegt. Sein Sozius zog noch am gleichen Tage Ruprechts Geschäftsanteile ein, ließ ihn seine persönlichen Sachen in einen leeren Gerichtsaktenkarton packen und warf ihn kurzerhand aus der Kanzlei. Seit diesem Moment ist Ruprecht mittellos. Zwar besaß er damals noch ein schönes Haus in bester Gegend, eine hübsche Lebensversicherung und ein paar gut entwickelte Wertpapierfonds. All das aber hatte er, wie man das für den unwahrscheinlichen Fall der Fälle ja so macht, seiner lieben Frau übertragen. Diese riet ihm sodann fürsorglich und sportlich zu einem totalen Neuanfang. Und zwar ohne sie. Sie selbst wollte natürlich nicht noch einmal neuanfangen und behielt, was ihr gehörte. Das war der Moment, als Ruprecht von Sozialhilfe zu leben begann und in dieses Haus zog.

      Damit passt er allerdings wieder ganz vortrefflich hierher. Allein schon deshalb, weil er ein direktes Schicksals-Pendant unter uns hat. Fritz Musiol, Diplomkaufmann und ehemaliger Immobilienmakler. Im Gegensatz zu Ruprecht ist Fritz unser `kleiner Dicker´. Er steht auf dem Standpunkt, dass niemand ein Six-Pack braucht, wenn ein ganzes Fass zur Verfügung steht. Die Gürtel seiner Hosen schnüren diese auf eine Art fest, die seinen Altherrenbauch von unten her wie einen mit Wasser gefüllten, übergroßen Luftballon herausquellen lassen. Auf der Herrentoilette ist er deshalb allein auf seinen Tastsinn angewiesen.

      Fritz neigt zudem zur Körpernässe und führt aus diesem Grunde immer mindestens ein größeres Stofftaschentuch mit sich. Da für ihn selbst bereits die Überwindung der ersten Hausetage eine sportliche Herausforderung darstellt, beginnt er sich schon nach wenigen Stufen die Stirn zu tupfen. Vor seiner Wohnungstüre sind dann Hals und Nacken dran. Figürlich ist Fritz somit am ehesten der Wirtschaftswunderzeiten der fünfziger Jahre zuzuordnen, was auch mit seiner eigentlichen Profession einhergehen könnte. Direkt nach seinem Studium wurde er nämlich Gewerbemakler in dieser schönen Hansestadt, in der so viel gebaut wird.

      Sein Erfolg war denn auch buchstäblich. Mitglied in den vornehmsten, und verbindungsreichsten Clubs der Stadt, beste Beziehungen zu Staatsräten und Regierungsdirektoren. Gern gesehener Gast auf Veranstaltungen der besseren Gesellschaft Hamburgs. Er häufte Millionen auf. Diese allerdings verpufften bei einer Fehlspekulation in Dubai. Er verlor alles und musste Insolvenz anmelden. Dass er nicht ins Gefängnis gehen musste, konnte er befreundeten Spitzenanwälten, vor allem aber seinem Schwarzgeldkonto in der Schweiz verdanken. Er machte rechtzeitig eine Selbstanzeige und bezahlte alle Steuerschulden, seine Anwälte sowie das Minus aus seiner Fehlinvestition. Übrig blieb nichts. Somit auch keine Freunde. Mit dem Besten von ihnen zog seine Ehefrau kurzerhand nach Mallorca, unmittelbar, nachdem sie das spärliche Restguthaben des gemeinsamen Privatkontos noch geleert und dieses bis zur maximalen Kreditlinie belastet hat. Während er jetzt von der Grundsicherung lebt, verkauft nun sie als Maklerin Villen und Grundstücke auf den Balearen. Man muss den Hut ziehen.

      Wie in den meisten Gemeinschaften, gibt es auch bei uns einen Draufgänger, der sich seiner Rolle mit Hingabe verschrieben hat. Bei uns ist das Fredo, in dessen Geburtsurkunde `Friedrich Dominik Weitzmann´ steht. Fredo ist vierundzwanzig Stunden durchgängig gut aufgelegt, hat immer einen passen Spruch parat und das, was in der Fauna allgemein als instinktive Scheu bezeichnet wird, ist ihm so fern, wie einem Inuit das Kokosnussöffnen. Er ist groß, kräftig und könnte es jederzeit mit einem Profiringer aufnehmen. Sein weißer Vollbart gleicht seinen mittlerweile fast kahlen Schädel mit vollendender Symmetrie aus. Fredo strahlt eine Art selbstverständliche Autorität aus, der man sich fast automatisch unterstellen möchte. Auch vermittelt er mit allen Gebärden eine ruhige Sicherheit und man fühlt sich in seiner Gesellschaft fast ein wenig geborgen. Doch wenn Fredo aber einmal ärgerlich wird, dann rette sich, wer kann.

      Er wurde von seinem Vater bereits mit vierzehn als Schiffsjunge zu einer Hamburger Reederei gebracht, wo ein Bananendampfer auf ihn wartete. Mit sechsundzwanzig wurde er Schiffsoffizier und mit vierunddreißig Kapitän auf einem Containerschiff. Beim `Heiteren Berufe-Raten´ bräuchte Fredo erst gar nicht anzutreten. Sein Gang, seine Stimme und seine