Stefan G. Rohr

Das Kontingent


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gibt, dann reicht das doch nie für eine Auslösung von Julius – oder?“ Ich hoffe, dass jetzt einer aufspringt und mir widerspricht. Aber es bleibt still.

      „Dass es so viel ist, hatte ich nicht gedacht …“ Julius wird immer leiser.

      Fredo sieht Willi an, so dringlich, dass wir alle ganz gespannt sind, was jetzt kommen mag. Willi hat gerade seinen letzten Bissen im Mund und schaut über den Tisch, ob nicht noch ein Restchen übrig ist, dessen er sich erbarmen sollte. Als er merkt, dass wir ihn alle ansehen, fragt er kurz und rollt dabei fast mit den Augen:

      „Was … ?!“

      Und als wir nicht antworten: „Leute, was denn? Was wollt ihr?“

      „Wieviel ist dieser ganze Schuppen wert, Willi?“ Fredo hat eine klare Frage formuliert, deren Antwort wir gespannt erwarten.

      „Vergesst es, Freunde.“ Willi winkt ab. „Ich habe über die Jahre so viele Hypotheken aufgenommen, da ist keine Luft mehr. Im Gegenteil. Dieselbe Bank hat mich gerade aufgefordert, eine zusätzliche Sicherheit zu bringen. So sieht`s aus. Leere Kassen, hoch die Tassen. Reich mir doch noch mal eine Flasche von dem Weizenbier herüber – vielen Dank!“

      Ich bin völlig erschüttert. „Ja, aber Deine Mieteinnahmen und so …!“

      „Schaut Euch mal den Leerstand bei mir an. Müsste modernisieren. Dann könnte ich sicher die Mieten vervierfachen. Ihr seid dann alle draußen. Und? Was wäre dann mit uns?“ Willi trinkt einen Schluck.

      „Ein Altruist!“ ruft Ruprecht kopfschüttelnd. „Ja, gibt`s denn noch so was?“

      Wir sitzen ernüchtert in der Runde und sind sprachlos. Selbst Fredo bringt keinen Mucks mehr heraus.

      „Irgendwas wird uns einfallen!“ ruft er dann aber nach einigen Minuten. „Erst einmal stellen wir die ganze Bude auf den Kopf, und den Schuppen im Hof, und suchen nach Verwertbarem. Vielleicht hat Kalli ja irgendwo …“

      „Ihr werdet nichts finden.“ entgegnet Julius frustriert. „Aber tut Euch keinen Zwang an.“

      „Man soll nichts unversucht lassen.“ Marta ist jetzt bestimmend, steht auf und geht zu ihrem Klavier. Es soll nun auch niemand wiedersprechend und so lenkt sie vom Thema ab, indem sie den Klavierdeckel öffnet und sich kurz konzentriert. Insgeheim haben wir in diesem Moment alle gehofft, dass sie es tun würde. Marta beginnt. Sie spielt Händel, Mozart und Schubert, mit einer solchen Hingabe und Virtuosität, dass es uns den Atem verschlägt. Willi heult auf Anhieb wie ein Schlosshund und verschluckt sich mehrfach an seinen Lakritzen.

      Fredo applaudiert immer wieder, obwohl das jeweilige Stück noch gar nicht zu Ende ist. Aber wir sind ihm nicht böse.

      „Auf See hat er wenig Kultur entwickeln können.“ neckt ihn Ruprecht.

      Marta wechselt das Genre und lässt Dixi und Ragtime erklingen. Sie greift in die Tasten und spielt, als wäre sie inmitten von St.-Louis der zwanziger Jahre. Willi klatscht den Takt, als ginge es um sein Leben. Der Boden bebt unter unseren Füßen und wir freuen uns, dass der Vermieter sich nicht beschweren würde, er sitzt schließlich inmitten unserer Gemeinschaft. Und außerdem waren fast alle Bewohner dieses Hauses hier gerade versammelt.

      Julius ist unbemerkt gegangen. Wir hatten so viel Spaß, dass wir nicht einmal bemerkt haben, dass er fort ist. Ich schäme mich und verabschiede mich aus unserer Runde. Morgen früh wollen wir loslegen und das kann ein langer Tag werden. Vor dem Zubettgehen stelle ich mich noch kurz ans Küchenfenster um eine letzte Zigarette zu rauchen. Ich sehe in den Hof hinab. Sharif kommt gerade nach Hause. Er schaut nach oben zu mir und ich gebe Zeichen, dass ich noch einmal kurz zu ihm herunterkomme.

      „So schnell geht das alles.“ beginnt der junge Syrer nachdenklich. „Gestern war Kalli noch da, jetzt ist seine Asche schon in der Erde. Der Tod ist jedes Mal etwas Niederschmetterndes, findest Du nicht auch?“

      Ich sehe Sharif an: „Er begleitet uns sekündlich. Vom ersten Moment unseres Lebens an. Eigentlich verwunderlich, dass er einen immer wieder überrascht.“

      Sharifs Blick ist leer und er scheint gerade nicht wirklich auf etwas zu schauen:

      „Anderenorts sterben täglich Menschen. Niemand ist dort mehr überrascht. Das Sterben ist dafür viel zu sehr Alltag geworden, gefühllose Routine. Doch man stirbt dort nicht in Frieden, es ereilt die Menschen kein natürlicher Tod. Sie werden ermordet, nachdem sie verfolgt und gequält, vergewaltigt und gefoltert wurden. Diese Toten besingt man anders. Der Herztod eines alten Mannes tut weh, weil ein Teil von Dir nach einem langen Leben gegangen ist. Aber ermordete Brüder und Schwestern, Väter und Mütter, denen niemand hilft, während sie von fanatischen Mörderhorden dahingeschlachtet werden? Das reißt Dir Dein Herz heraus, Deine Gedärme. Dein Verstand wird Dir geraubt. Und Du möchtest am liebsten mit dem Kopf gegen die Wand rennen. Erst Recht, wenn Du nicht helfen kannst, weil Dich tausende Kilometer trennen.“ Sharif laufen Tränen über sein junges Gesicht und seine Verzweiflung ist unübersehbar.

      Ich will meinen Arm über seine Schulter legen und etwas Sinnreiches antworten, doch er steht auf und wendet sich zum Gehen.

      „Niemand hier hat auch nur die geringste Ahnung, was in meinem Land gerade passiert.“ ruft er. „Und meine Familie, meine Freunde – alle sind wir Christen, haben nie jemandem etwas getan. Die Welt sitzt derweil am Fernseher und schaut in den Nachrichten, wie die schwarzen Flaggen wehen. Dann kommt ein wenig Mitleid auf. Und die Politiker? Sie verstecken sich hinter ein paar Hilfsgeldern, hinter Verhandlungen mit Schurken, die die Schurken von gestern nur abgelöst haben. Und das Abschlachten ganzer Völker geht unbeirrt weiter.“

      Ich sehe ihn an. So hatte ich ihn bisher noch nicht erlebt. Leidenschaftlich, zugleich voller Angst. Und er hat Recht. Ich kann ihm das nicht in Abrede stellen und ich fühlte mich plötzlich völlig hilflos und leer.

      Ich würde jetzt gerne wissen, wie es seiner Familie geht, sind auch sie betroffen, hat er Kontakt? Doch Sharif ist aufgestanden und bereits die Treppe hinauf verschwunden, ohne, dass er noch etwas geantwortet hat.

      Ich folge ihm mit schweren Schritten und seine Worte klingen in meinen Ohren. Ich werde nicht gleich einschlafen können und so drehe ich mich und meine Gedanken kreisen.

      3

      Mit einer Tasse Kaffee in der Hand zum Frühstück gehe ich zur Wohnung von Kalli. Die Türe ist nur angelehnt und ich öffne sie einen kleinen Spalt. Drinnen, im Flur, stehen Fredo und Fritz. Julius und Ruprecht sind bereits an den Regalen im Wohnzimmer beschäftigt. Während ich noch in der Türe stehe, kommt Willi hinter mir die Treppe herunter.

      „Kommt herein“, ruft Julius fast beiläufig uns Neuankömmlingen zu und wendet sich sofort wieder seiner Arbeit zu. Wir drei stehen ein wenig unentschlossen herum und wissen nicht, was wir hier nun eigentlich sollen.

      Julius schaut uns freundlich an: „Ihr wolltet Euch umschauen. Bitte, tut Euch keinen Zwang an.“ Geschäftig macht er weiter. „Ich denke, dass ich das meiste wohl abholen lassen werde. Aber die paar Bilder, Fotos und die persönlichen Unterlagen möchte ich auf jeden Fall behalten.“

      Ich gehe nun auch in das Wohnzimmer, in dem ich zuvor bisher nur einmal gewesen bin und das ist schon länger her. Es ist ein kleines Zimmer, mit einem hölzernen Couchtisch, einem etwas zu wuchtigen Sessel mit dazugehörigem Sofa und einem ledernen Fernsehsessel. Ein hellbraunes Ungetüm mit deutlichen Abnutzungserscheinungen. Den Rest des Raumes füllt eine Regalwand mit vielen Fächern, in denen der alte Mann seine Bücher aufbewahrte. Ich gehe näher und schaue mir die Literatur etwas näher an. Da sehe ich Dostojewski, Remarque, Mann, Stifter, Strindberg und Zola. Ich bin fasziniert.

      „Julius!“ ich drehe mich um und bin etwas aufgeregt. „Julius, hier stehen wirklich schöne Bücher.“

      „Du kannst sie alle haben.“ Julius kramt direkt unter mir in den Schubladen der Regalwand und holt verschiedene Aktenordner hervor. Ich nehme einen in Leder gebundenen Roman von Oscar Wilde in die Hand, `Das Bildnis des Dorian Gray´.

      „Du