Stefan G. Rohr

Das Kontingent


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schreien hören können, wie sie Befehle geben, wie sie laufen, fallen, aufschlagen, sterben. Sie glauben manchmal sogar das Atmen der Männer hören zu können, deren Schnaufen und immer wieder auch deren Röcheln, wenn sie im Dreck der zerschossenen Häuser verbluten.

      Die Straßenkämpfe und das Ringen um jedes Haus, jede noch so zerstörte Ruine, nimmt kein Ende. Fehlende Munition wird durch blanken Hass ersetzt. Hass auf die Ungläubigen, Hass der Verteidiger auf jeden Kämpfer des IS. Menschlichkeit und Gnade werden weder gesucht, noch gegeben. Jeder Tote bedeutet einen kleinen Sieg, jeder Kopf des Gegners eine Trophäe. Und Köpfe werden dieser Tage viele abgeschlagen.

      Als die junge Syrerin noch vor kurzer Zeit inmitten der friedlichen Demonstrationen gegen das Assad-Regime teilnahm, sich der arabische Frühling in vielen Gebieten und Städten dieser weiten Region Syriens und der Nachbarländer über alle Grenzen hinweg abzeichnete, wären sie und ihre Freunde nie auf den Gedanken gekommen, dass sie wenig später auf der Flucht vor marodierenden Mördern sein werden. Auf einer Flucht vor Ermordung, Schändung und Folter. Auf der Suche nach einer Möglichkeit des Überlebens für sich, ihre Familie, ihre Tochter und das ungeborene Kind in ihrem Bauch, verfolgt von wütenden, die Menschlichkeit verachtenden Anhängern eines zweckentfremdeten und fehlgeleiteten Islams.

      Das morgendliche Schweigen hier und jetzt unter ihnen wird noch eine Weile vorhalten. Mit dem Anbruch des neuen Tages wird der Vater wieder das Haus verlassen müssen. Dieser Stadtteil von Kobane ist noch ein wenig intakt und es gibt Möglichkeiten, das Notwendigste zu beschaffen. Wenn er Glück hat, dann ergattert er sogar etwas aus den Hilfslieferungen, falls diese dann durchgekommen sind. Vielleicht kann er auch etwas tauschen. Er hat ein paar Wertsachen auf der Flucht aus Hama mitnehmen können, und wenn die Not groß ist, dann versucht er einen guten Tausch. Wenn er noch mit seinem Gott sprechen würde, dann würde er ihn auch bitten, einen mitleidigen Menschen zu finden, über dessen Mobiltelefon er eine Nachricht an einen seiner Söhne schicken könne.

      Der Alte macht sich zum Aufbruch bereit. Er schaut nicht in die Gesichter der anderen. Er geht hinaus und er weiß, dass er vielleicht nicht mehr wiederkommen kann. Er weiß auch, dass er bei seiner Wiederkehr seine Familie nicht mehr vorfinden könnte. An diesem Tage hofft er aber auch, etwas über seinen ältesten Sohn erfahren zu können, wenigstens die Nachricht zu erhalten, das er noch lebt. Und wie immer, wenn er geht, ist sein Herz schwer wie Blei.

      Auch der hiesige Stadtteil ist nun erwacht und es macht sich erste Geschäftigkeit breit. Die alten Gassen, in denen noch vor Kurzem der Kleinhandel blühte, die Händler ihre Waren heraushängten, es nach Safran, Pfeffer und Koriander duftete, Tee oder ein süßer Mokka gereicht wurden, sind fast leer und die Menschen hetzen durch die Straßen. Ihre einst so gelobte Gelassenheit haben sie verloren, Angst steht ihnen ins Gesicht geschrieben und Argwohn schaut aus ihren Augen.

      Der alte Mann geht schnell. Er hat es sich zu Eigen gemacht, mit gesenktem Kopf zu gehen und den Blicken fremder Menschen auszuweichen. Er ist vorsichtig und auf der Hut. Es ist nicht sein Wesen, das jetzt aus ihm spricht. Zuvor war er ein offener Mensch und überzeugter Anhänger der Moderne. Als Lehrer an der christlichen Schule in Hama, dieser wunderschönen orientalischen Stadt an den Fernstraßen nach Aleppo und Damaskus, war er gegenüber der neuen Welt besonders aufgeschlossen. Leicht war es nicht. Vor allem hatte die Regierung Assads ihnen als Christen bisher kaum Spielraum gelassen. Mit ihrem Glauben gehörten sie zu einer der Minderheiten in dieser Region, ebenso, wie die Alawiten, Schiiten, Jesiten und Kurden. Er erzog seine Kinder – seine Söhne, wie seine Tochter – nach westlichem Vorbild und christlichen Grundlagen, so gut es ihm möglich war.

      Seinen jüngeren Sohn schickte er mit den Ersparnissen, die er über die Zeit dafür zurücklegen konnte, nach Europa, damit er dort studieren konnte. Dieser ging noch rechtzeitig fort und befindet sich heute so in Sicherheit. Seine Tochter hatte vor kurzem geheiratet und war Mutter geworden. Sein Erstgeborener arbeitete bei einer der angesiedelten Auslandsbanken und sah bis vor kurzer Zeit einer guten Zukunft entgegen. Dann geschah das Unfassbare. Über Nacht war die Idylle Hama`s Vergangenheit. Die von der Organisation der Muslim-Brüder koordinierte und finanzierte Abschlachtung von Angehörigen der nichtmuslimischen Minderheiten war an Grausamkeit nicht zu überbieten. Zehntausende Menschen fielen den Terror-Kämpfern mit ihren schwarzen Todesflaggen zum Opfer, wurden verschleppt und in Massen hingerichtet. Ein Exempel sollte statuiert werden. Das Massaker von Hama war eine ethnische Säuberung der terrorisierenden Islamistentruppen, das die orientalische Welt bis dahin nicht für möglich gehalten hätte. Wer noch konnte, flüchtete. Zeit zur Rettung von Eigentum und Werten blieb dabei niemand. Sie hatten die Wahl: eine sofortige Flucht mit dem, was ihnen am Leibe klebte, oder der sichere Tod unter den Schwertern des aufstrebenden IS, zuvor vielleicht Verschleppung, Folter, Vergewaltigung oder Versklavung.

      Sein ältester Sohn fasste noch am gleichen Tag den Entschluss, sich den Rebellen anzuschließen, die sich zum Kampf gegen die islamistischen Mörderhorden zusammenfanden. Er schrieb nur einen kurzen Abschiedsbrief an seine Familie und ging fort. Dass er noch lebt, entnehmen sie den wenigen Nachrichten, die sie über die Berichte anderer erfahren. Ihnen bleibt nur die Hoffnung, dass er es irgendwie überleben wird und nicht doch zu dem Zeitpunkt, an dem eine der Nachrichten sie erreicht, bereits schon tot ist.

      Ihre Flucht aus Hama mussten sie dennoch als Glück bezeichnen. Die unendliche Masse an Opfern war so groß, dass es als Zufall zu verstehen war, dass sie es geschafft hatten. Damals hat er seinem Gott noch Dank gesagt und die Familie betete jeden Tag und dankte für ihre Rettung, für das Leben ihres Sohnes. Ihre Flucht aber fand bis heute kein Ende. Seit mehr als zwei Jahren sind sie nun schon unterwegs und haben unzählige Male Orte und Unterkunft gewechselt. Sie flohen so nicht selten direkt vor dem Mündungsfeuer von Granatwerfern und Maschinengewehren. Sie liefen planlos, getrieben, verängstigt und nicht wissend, ob die anstehende Nacht nicht ihre letzte sein wird. Der Mann seiner Tochter geriet vor wenigen Monaten in einen dieser Überfälle der IS-Truppen. Er hatte Besorgungen machen wollen, begab sich auf seinen Weg und kehrte nicht mehr zurück. Sein Schicksal ist seither ungewiss, ob er tot oder verschleppt ist, niemand von ihnen weiß etwas darüber.

      Der Terror verbreitete sich wie Lauffeuer. Überall wird gekämpft und niemand ist nirgendwo mehr vor Anschlägen sicher. Sie sehen, wie Autos explodieren, wie Leichenteile durch die Luft fliegen, schützen sich vor den Splittern platzender Granaten. Sie treffen andere Flüchtlinge, kauern in zerschossenen Häusern, hören die Jeeps der Banden an sich vorbeifahren. Manchmal stoppt ein Fahrzeug nur wenige hundert Meter von ihnen entfernt. Sie können beobachten, wie die Kämpfer Menschen aus ihren Verstecken ziehen. Die Frauen an den Haaren, an den Kleidern oder Beinen. Sie hören, wie die Männer mit Schüssen in den Kopf hingerichtet werden, sehen blitzende Schwerter niederfahren, wie sie die Hälse durchtrennen.

      Manche unter den Flüchtlingen erzählen von ihren Leiden. Sie berichten, wie sie sehen konnten, wie ihre Nachbarn, nur zwei Häuser weiter, getötet wurden. Bei ihren Darstellungen weinen sei mitunter die ganze Nacht. Die Bilder würden ihnen nicht mehr aus dem Kopf gehen. Bilder von schwangeren Frauen, die lebendig auf Stangen gespießt werden und noch über Stunden im Wahnsinn schreien. Sie erzählen auch von Vätern, die in der letzten Sekunde ihre Frauen und Kinder erschießen und sich dann selbst richten. Und alle sagen immer wieder, dass sie sich für den Fall der Gefangennahme einen schnellen Tod wünschen, nicht aber verschleppt werden, niemals freiwillig der Folter ausgesetzt sein wollen.

      Der alte Mann hat die ersten Händlergassen erreicht. Er findet eine offene Tür eines kleinen Ladens, der offenbar noch ein wenig Obst und Brot anbietet. Auch ein paar Kerzen und etwas Ziegenmilch kann er abgeben. Er verlangt aber einen viel zu hohen Preis. Der Alte kauft das Brot und sagt, dass er vielleicht noch einmal zurückkommt. In der nächsten Gasse hat er mehr Glück. Die Preise sind immer noch zu hoch, aber besser. Der Alte beschließt, hier das Beste daraus zu machen und verhandelt lange. Es erscheint ein zweiter Interessent. Als er den Blick des Alten sieht, hält er inne und wartet, bis das Geschäft erledigt ist. Er wird dann kaufen, was übrig bleibt.

      Der Mann hält ein Telefon in der Hand. Als er bemerkt, wie der Alte darauf schaut, lässt er es schnell in der Tasche seines Kaftans verschwinden. Der Alte nimmt seine Sachen und geht wieder nach draußen in die Gasse. Er geht aber nicht weiter. Er wird versuchen, den noch im Laden stehenden Mann abzufangen. Er wird ihn anlächeln, ihn