Stefan G. Rohr

Das Kontingent


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wirklich kein Interesse daran zu haben.

      Ich zögere. Bücher muss man doch behalten, man entsorgt sie nicht, ebenso wenig, wie man sie verbrennt oder einfach achtlos in den Mülleimer wirft. Bei einem meiner letzten Einsätze in der Papierfabrik schuftete ich gerade auf dem Rohstoffhof und kehrte die Reste von beschädigten Altpapierballen zusammen, als ein Kleinlaster vorfuhr. Er kippte eine ganze Ladung Bücher direkt vor meine Füße. Auf der Plane des Lasters stand `Wohnungsauflösungen´ und sie schütteten die Bücher eines wohl gerade Verstorbenen, vielleicht war er Professor, Schriftsteller oder Lehrers, einfach so in den Dreck. Nach dem Wiegeprotokoll erhielten Sie ein paar Euros und das war`s.

      An jenem Tag verbrachte ich meine Mittagspause damit, in dem Bücherhaufen herumzustöbern und zu retten, was noch rettbar war. Viele der Werke waren bereits stark durchnässt und unbrauchbar. Aber ich fand Tolstoi, Dickens, Poe und Stoker. Der Hofmeister der Fabrik zeigte mir den Vogel, genehmigte mir aber, drei große Kartons mit Büchern an die Seite zu bringen, die ich am Abend dann wie einen Schatz mit nach Hause nahm. Ich blätterte bis tief in die Nacht in meinen literarischen Juwelen, las in deren Einbänden Widmungen zum Geburtstag, 1948, zur Konfirmation, zum bestandenen Abitur, studierte die mit Bleistift notierten Anmerkungen, Hinweise und interpretierte die unkommentierten Unterstreichungen von Textstellen oder die Ausrufungs- und Fragezeichen am Blattrand, die jemand dort einmal hinterlassen hat.

      Diese Bücher wurden offensichtlich lebendig gehalten, sie dienten ihrem Besitzer als Quelle von Wissen und Erbauung. Die Autoren hatten ihren Leser gepackt, verwundert, überzeugt oder zum Nachdenken gebracht. Diese Bücher wurden immer wieder herausgeholt, gelesen, bearbeitet und mit Zugewinn zurückgestellt. Bis zum nächsten Mal. Bis zum nächsten Akt. Bis zur nächsten Erkenntnis. Diese Bücher haben ihren Besitzer sein Leben lang begleitet. Dienten ihm zur Entspannung, bei Krankheit zur Zerstreuung, in der Trauer zur Erlösung.

      Ich starte einen letzten Versuch: „Julius, Du bist dabei ein intellektuelles Schwerverbrechen zu begehen. Möchtest Du ins Gefängnis der Dummen und Ahnungslosen kommen?“ Ich lächle zwar, mein vorwurfsvoller Ton allerdings ist nicht nur vorgetäuscht. „Dann musst Du Deinen Knastkumpanen zur Strafe Mangas vorlesen – und natürlich erklären.“

      Julius murmelt etwas und blättert weiter in den gefundenen Ordnern herum. Fredo kommt aus der Küche und vermeldet fast militärisch, dass dort weder Wertsachen noch irgendetwas Besonderes zu finden gewesen sei. Nur ein paar Töpfe, Tassen, Teller und Besteck. Auch die Lebensmittelvorräte scheinen mehr als überschaubar. Nach kurzer Zeit stellen wir alle fest, dass der Besitz von Kalli auf einen Kleintransporter passen würde und wir damit zum Recyclinghof fahren sollten.

      „Komm“, fordert Fredo mich auf, „wir schauen uns mal in der Druckerei um. Vielleicht finden wir da etwas. Und wenn nicht, dann können wir die Maschine immer noch einschmelzen und Hantelgewichte aus ihr gießen.“

      Fritz und Ruprecht wollen jedoch noch etwas in der Wohnung weitermachen. Also gehen Fredo und ich hinunter und betreten wenige Augenblicke später bereits schon die Druckwerkstatt.

      Mein Blick schweift etwas unmutig umher. So recht kann ich mir nicht vorstellen, dass es hier verborgene Schätze zu entdecken gibt. „Hier ist doch nichts zu finden.“ sage ich und habe meine Mühe, mich auf eine wie mir scheint doch vollkommen hoffnungslose Suche nach irgendetwas zu machen. Fredo aber ignoriert meine Skepsis. Er zieht bereits Schubladen auf und kramt in diesen herum. Sodann geht er an verschiedene Regale, zieht alles hervor, was dort deponiert ist und schaut hinter jeden Gegenstand. Ein mir unbekanntes Jagdfieber scheint ihn gepackt zu haben. Keine Ritze lässt er aus, akribisch sucht er alles ab.

      Er bemerkt meine Unentschlossenheit. „Gehe Du und schau mal, was dahinten rumsteht.“ Fredo kommandiert kompromisslos und deutet auf den hinteren Bereich der Druckerei, die von einer dünnen Lattenwand halb abgetrennt wird. Ich tue, wie mir aufgetragen und gehe nach hinten. Es ist dunkel und ich sehe zuerst fast gar nichts.

      „Du brauchst Licht!“ Fredo reicht mir eine Taschenlampe, die er selbst gerade entdeckt hat. Das fahle Schimmern der alten Lampe mit ihren schon schwachen Batterien wirft einen trüben Kegel in das Hintere des Raumes. Ich entdecke mehrere leere Kartons, einige alte Farbdosen und verschiedene, fein geordnete Stapel mit unbedrucktem Papier.

      Fredo schaut mir über die Schulter und zeigt in eine der Ecken. „Was ist das da? … Dahinten!“ Seine Seemannsaugen haben sofort etwas erspäht, das ich erst jetzt sehe, nachdem ich mit zugekniffenen Augen konzentriert in die gezeigte Richtung geschaut habe. Wir gehen näher. Unter einer verstaubten Plane, die ich vorsichtig lüfte, entdecken wir eine Palette mit einem großen Papierstapel.

      „Papier!“ sage ich lustlos und nochmals mehr ernüchtert. Ich lasse die Plane wieder fallen. „Sehr erstaunlich, das hier zu finden, oder? Das Bernsteinzimmer wird dann ja wohl in einer der anderen Ecken sein.“

      „Lass doch mal sehen.“ Fredo lässt sich nicht beirren, schiebt mich beiseite und krabbelt über die Kartons zu dem Stapel und schaut unter die Plane. „Das scheint aber irgendwie schon bearbeitet zu sein.“ meldet er sich von weiter hinten.

      Meine Spannung sinkt auf den Nullpunkt. „Altpapier! … Fredo, wir sind reich! Das tauscht uns meine Papierfabrik gegen einen Kantinengutschein.“

      Fredo hat sich von dem Stapel einen einzelnen Bogen geschnappt und kommt damit ans Licht. Er hält ihn gegen das Fenster ins Licht und reibt mit den Fingern über dessen Oberfläche. Sorgsam betastet er das Papier zwischen seinem Daumen und Zeigefinger. Dann wird er ganz blass: „Ich glaube, mein Schwein pfeift …“ Und nach wenigen Sekunden wird er laut: „Das gibt`s ja nicht! Ich werd´ verrückt …“

      Er kann seinen Blick gar nicht ablassen. Dann hält er auch mir das Papier hin und nickt, ich solle es mal selbst probieren. Ich fühle ebenfalls und schaue mir den Bogen genauer an. Erkennen kann ich nichts und ich zucke immer noch extrem gelangweilt mit den Schultern.

      Fredos Stimme zittert: „Geht denn bei Dir kein Licht an?“ Er hält mir den Bogen unmittelbar vors Gesicht. Ich schüttele aber den Kopf, habe keinen blassen Schimmer.

      Mein Gegenüber wird drastischer: „Glotz doch nicht so blöd, Mensch! Mach einfach mal die Augen zu.“

      Ich tue, wie mir geheißen. Fredo steckt mir das Papier zwischen meine Finger und befiehlt: „Jetzt fühle das Papier! Los! Noch mal … Nun mach schon!“

      Während ich meine Augen geschlossen halte, reibe ich immer wieder an der Ober- und Unterseite. Und ja, tatsächlich, irgendwie kommt mir das Gefühl bekannt vor. Nur, ich kann es nicht zuordnen. So versuche ich es noch einige Male.

      Mir fehlen aber die Worte, ich kann es nicht beschreiben und so fällt mir nichts Besseres ein als: „Irgendwie vertraut … ja … nur …“ Ich verstumme und versuche mich nur noch auf das Papier zu konzentrieren. „Mensch, an was erinnert mich das denn bloß …?“

      „Du bist schon so verarmt, dass Du total entwöhnt bist.“ Fredo ist vollkommen aus dem Häuschen. „So fühlt sich Geld an. Geld, verdammt! Du bist doch wirklich eine arme Kirchenmaus!“

      Ich halte meine Augen weiter geschlossen und wiederhole noch einige Male die gleiche Prozedur. Tatsächlich, Fredo hat Recht, jetzt – wo er es doch gesagt hat – fühle ich es auch. Es ist tatsächlich ganz so wie Geld.

      Fredo reißt mir den Bogen fast aus der Hand und hält ihn wieder ins Licht. „Blitz und Donner! Das fühlt sich nicht nur so an, das sieht auch so aus!“ schreit er in den Raum. Er zeigt auf verschiedene Stellen im Bogen und zwinkert mir zu. Ich sehe allmählich, was er meint. Da sind dünne, silberne Streifen angeordnet und als ich ganz nah komme, entdecke ich Wasserzeichen. Ordentlich angereiht, über das ganze Papier verteilt.

      „Fredo, ist das etwa ….? Das ist doch nicht wirklich …?“ ich wage es nicht zu sagen.

      „Es ist, es ist! Darauf kannst Du wetten.“ Fredo rückt noch näher an das Fenster zum Hof. „Das hier, mein Bester, ist ganz offensichtlich Banknotenpapier. Verstehst Du jetzt? Das Papier, aus dem Geldscheine gemacht werden. Es ist lediglich noch nicht bedruckt!“

      Die Bedeutung will mir immer noch