Stefan G. Rohr

Das Kontingent


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er von der Entdeckung und unseren Erkenntnissen.

      Marta ist ganz still und sitzt da, mit der Hand an der Stirn und ab und zu mit einem kurzen Nicken. Wir halten alle den Mund und wagen kaum zu atmen. Nach einer schier unendlichen Zeit nimmt sie die Hand von der Stirn und fragt:

      „Wer von Euch hat noch Schnaps?“

      Fredo und Willi melden sich vorsichtig. Wir wissen ja nicht, ob das nicht nur so ein Trick von ihr ist. Ähnlich, wie die Rekruten beim Barras gefragt werden, ob ein Musiker unter ihnen ist. Wer sich meldet, muss die Latrinen schrubben. Marta aber nickt und beide machen sich auf den Weg. Für mich aber bedeutet das nicht gleichermaßen etwas Gutes. Wenn Marta Schnaps verlangt, dann könnte auch die Apokalypse bevorstehen.

      Ich beruhige mich etwas, als ich sie ganz vorsichtig und wie ein Mäuschen am Schnapsglas nippen sehe. Wir anderen haben den ersten fachgerecht gekippt und bereits den zweiten im Glas. Wir sitzen alle um Marta herum, wie die Indianer um die Medizinfrau. Egal was sie jetzt von sich geben wird, es wird von enormer Bedeutung sein. Das spüren wir.

      Marta räuspert sich und beginnt: „Wir haben richtiges Papier.“ Sie schaut kurz auf und blickt in unsere wartenden Augen. „Ich meine damit: echtes Geldpapier.“

      Wir nicken stumm.

      Sie fährt fort: „Nach dem, was ihr festgestellt habt, sind es über 45.000 Bögen mit jeweils 50 möglichen Scheinen?“

      Wir nicken erneut. Eine zart aufkommende Erleichterung macht sich bei uns breit. Wir sind aber noch vorsichtig.

      Jetzt leuchten Martas Augen: „Das ist – nach Adam Riese – ein Sümmchen von über einhundertzehn Millionen Euro, wenn das zu Geldscheinen werden würde. Richtig?“

      Diese Rechnung haben wir bislang noch nicht durchgeführt. Aber Marta wird schon Recht haben. Wir nicken. Und unsere Spannung erfüllt den Raum – wie elektrisiert harren wir Martas weiteren Ausführungen.

      Sie lässt sich etwas Zeit: „Jungs, wir haben dazu auch noch eine echte, funktionstüchtige Druckmaschine.“ Marta freut sich ganz offensichtlich und sie blinzelt freundlich in die Runde.

      Der dritte Schnaps wird ausgeschenkt, eine willkommene Pause, in der es nicht auffällt, dass wir nicht antworten. Mit gefüllten Gläsern sitzen wir nun wieder da, blicken aufmerksam in Martas strahlendes Gesicht und warten auf ihr Finale. Doch Marta denkt gar nicht daran, uns jetzt zu erlösen.

      Es ist Fredo, der wagt, das Unaussprechliche zu formulieren: „Stellt Euch das mal vor!“ Er spitzt seine Lippen. „Wir sitzen auf einem Stapel echter Banknoten. Einem Schatz. Wir bräuchten nur zuzuschlagen. Es reich ein Kopierer. Oder noch besser: Wir setzen die Druckmaschine im Hof in Gang und in Kürze schwimmen wir nur so in Millionen.“

      Ruprecht antwortet wie immer mit seiner unschlagbaren pragmatischen Art: „Im Geld schwimmen ist gut. Deinen Fahrtenschwimmer kannst Du dann gleich im Gefängnis-Pool machen. Dafür bekommen wir alle mindestens fünf Jahre ohne Bewährung. Das ist Dir, meine lieber Fredo, klar?“

      Fredo scheint das nicht wirklich zu schockieren. Ihm gefällt der Gedanke einfach zu gut. Ja, je mehr er darüber nachdenkt, sogar vorzüglich.

      So trötet er Ruprecht entgegen: „Falschgeld auf echtem Bankpapier, mit allem Drum und Dran, das ist doch ein Geschenk des Himmels.“ Und an uns alle gewendet fügt er hinzu: „Leute, überlegt doch mal!“

      „Allein schon der Versuch, selbst wenn noch nicht ein einziger Schein in dem Umlauf gebracht wäre, reicht für eine Verurteilung. Bei Falschgeld grundsätzlich ohne Bewährung.“ Ruprecht könnte jetzt auch im Gerichtssaal stehen und wendet sich direkt an Marta, „Und es ist eine Todsünde, Marta. Hörst Du: eine T-o-d-s-ü-n-d-e! Du kommst für immer in die Hölle!“

      Fredo schüttelt den Kopf. Er findet, wir sollten ein wenig über diese Möglichkeit nachdenken. Kalli hat das Papier schließlich auch nicht entsorgt, er wird vielleicht nur auf den richtigen Augenblick gewartet haben. Die Chance liegt doch einfach auf der Hand. Ein Wink des Schicksals, des Himmels – von ihm aus auch der Hölle. Egal!

      Marta steht auf. Ihre Fröhlichkeit ist gewichen und sie ist wieder ganz Mutter: „Meine Liebsten. Ich denke, Fredo macht nur Spaß und will uns lediglich ein wenig auf die Probe stellen. Schluss jetzt mit diesen Hirngespinsten. Geht alle zu Bett und morgen ist ein neuer Tag.“

      Sie steht auf, kippt ihren Schnaps mit einem Schluck weg, knallt das Glas auf den Tisch und geht festen Schrittes aus der Tür.

      4

      Die aufgehende Sonne wirft einen ersten hellen Schein auf die Stadt, deren Menschen jetzt aufwachen. Die leichte Kühle der Nach weicht vorsichtig den zu dieser Stunde immer noch rötlichen Sonnenstrahlen. Ein neuer Tag beginnt, ein weiterer, an dem sie alle nicht wissen, was geschehen wird. Noch kurz zuvor, in der Dunkelheit, durchzuckten helle Blitze die Nacht, gefolgt von dem bedrohlichen Grollen der immer näher kommenden Einschläge. Mit dem Morgenlicht tritt nun aber erstmals wieder Ruhe ein. Selbst der Terror muss einmal schlafen.

      Es wird wieder Tote zu beklagen geben. Noch mehr Vermisste. Einen gnädigen Gott haben die gefunden, die sofort gestorben sind. Einige werden vielleicht aber erst in diesem Moment erlöst, haben die Nacht mit einem abgerissen Bein oder mit aufgerissenem Bauch in den Trümmern nach ihrer Mutter geschrien. Sie verstummen endlich mit dem Anbruch des neuen Tages.

      Die Verdammten aber tragen jetzt Fesseln und einen Sack über dem Kopf. Sie riechen bereits den Tod und sie hören das Wimmern, das gequälte, stumpfe Gurgeln derjenigen, die aus ihrer Mitte zur Hinrichtung bestimmt wurden. Es ist der grausame Alltag, der mit dem Anbruch des Tages, mit den ersten wärmenden Strahlen der Sonne über Kobane, seinen gewohnten Lauf nimmt.

      Der alte Mann schaut durch die schützenden Bretter vor seinem Fenster. Er sieht über die einst so herrliche Stadt und die Hügel dahinter. Er schaut auf die andere Seite, auf das türkische Gebiet, dort, wo die Kurden sind, wo es Hilfe gäbe. Alles nur einen Steinwurf entfernt. Er bräuchte nur kurz herüberspazieren, an der einen Hand seine Tochter, an der anderen seine liebe Frau. Vielleicht aber würde er auch sein kleines Enkelkind tragen, es so besser beschützen, den Kopf des Kindes an seiner Brust, abgewandt von allem Leid umher. Er könnte einfach so losgehen und alle damit retten. Doch so nah es scheint, so unerreichbar ist dieses Ziel.

      Auch heute werden seine Augen wieder nass und seine Hände zittern. Hat Gott das so gewollt? Kann das alles der Wille des Herrn sein?

      Er wendet seinen Blick ab und dreht sich um. In das kahle, noch etwas düstere Zimmer tritt seine Frau und reicht ihm wortlos ein Glas Tee. Zucker haben sie schon lange nicht mehr und der Tee stammt aus dem dritten Aufguss. Er setzt sich auf eines der Kissen und trinkt in kurzen Schlucken das lauwarme Getränk. In seiner Tasche ist immer noch der Rosenkranz mit dem kleinen silbernen Kreuz. Beten aber will er nicht mehr. Wozu? An wen soll er seine Bitten richten? An den, der diesem Terror und dem unsäglichen Leid all der Menschen hier zusieht? Und so sitzt er auch jetzt nur da und wartet darauf, dass das Zittern seiner Hände wieder für einige Zeit aufhört.

      Kindliches Getrampel schallt in den Raum. Die Kleine ist wach und die Vierjährige setzt sich neben ihren Großvater. Gleich darauf kommt auch ihre Mutter. Die junge Frau geht langsam. Als sie hereinkommt, lächelt sie, weil sich ihre Tochter so eng an ihren Großvater geschmiegt hat, die Arme fest um ihn verschlungen hält. Die junge Frau ist Mitte Zwanzig, hat ein schönes, grazil gezeichnetes Gesicht, und ihre schwarzen Augen funkeln wie Feuer. Sie trägt eine zierliche Goldkette am Hals, die ein massives Kreuz im Ausschnitt ihres Kleides zum Vorschein kommen lässt. Mit ihren schönen Händen und den langen Fingern streicht sie sich durch ihr langes, dunkles Haar und bindet dieses gleichdarauf geschickt mit einem Gummi zusammen.

      Ihre Mutter reicht nun auch ihr ein Glas Tee. Dem kleinen Mädchen drückt sie liebevoll einen Rest Maisbrot in die Hand. So sitzen Sie still in dem immer heller werdenden Raum, trinken den dünnen Tee und schauen auf das Kind, das an seinem Brotstückchen herumknabbert. Es ist die nun schon gewohnte morgendliche Schweigsamkeit der Familie, nach einer Nacht mit dröhnenden Granateneinschlägen,