Ben Leo

Schattenhunger


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Zeit, uns auszuruhen. Komm, lass uns wieder in unser Zuhause, für die Nacht wirst du uns nicht brauchen!“ Im Anschluss an das Kribbeln wartete Bajo wieder kurz ab und steckte dann die Hülse unter das Hemd. Es wurde langsam dunkel und schnell kramte er noch etwas Trockenfleisch und getrocknete Waldbeeren aus dem Rucksack. Nach diesem ereignisreichen Tag war Bajo nun recht müde. Deshalb machte er es sich so bequem wie möglich, während er die neuen Eindrücke und Erlebnisse noch einmal an sich vorüberziehen ließ und war im Nu eingeschlafen.

      Ein leichtes Platschen weckte Bajo am nächsten Morgen. Es hatte angefangen zu regnen. Zum Glück war das ‚Nest‘ gut geschützt und nur wenig Wasser drang durch die jungen Blätter des Baumes. Die Knochen taten Bajo durch die krumme Haltung doch etwas weh, außerdem musste er mal. Gerade sollte es wieder abwärts gehen, da erspähte Bajo einen Waldreißer im Unterholz. Mucksmäuschenstill beobachtete er die Umgebung und konnte zwei ausgewachsene Exemplare mit einem Jungtier, die es sich bequem gemacht hatten, erkennen. Anscheinend hatten sie ihn gerochen, aber nicht gefunden und hofften nun darauf, dass ihre Beute doch noch auftauchte. So verharrten beide Seiten eine ganze Weile und bei Bajo machte sich langsam der Druck bemerkbar. Er überlegte, ob er die Kreaturen mit etwas bewerfen sollte, traute sich das aber nicht. Was, wenn sie dann erst recht da unten auf ihn warten würden? So gab es nur noch eine Möglichkeit: vom Baum herunterpinkeln! Bajo schob sich im toten Winkel zu einer rückwärtigen Gabelung und kroch einen Ast halb hoch. Doch jetzt drängten sich ihm neue Bedenken auf. „Was, wenn sie das riechen und den Baum erst recht belauern?“, befürchtete er und wagte es nicht, weiterzumachen. Allmählich verlor Bajo die Geduld, der Drang war einfach zu stark und er betrauerte schon jetzt seine schöne neue Hose, denn es blieb nichts, außer in sie hinein zu machen. In diesem Moment raschelte es plötzlich in der Richtung, aus der er gekommen war. Anscheinend war dort Wild unterwegs. Das blieb auch den Waldreißern nicht verborgen und schon hetzten sie los. Nach weiteren quälend langen Minuten war nichts mehr zu hören, Beute und Meute waren fort. „Na, der Tag fängt ja gut an“, murmelte Bajo, als sich, unten angekommen, endlich die große Erleichterung breitmachte. „Jetzt muss ich mich aber ranhalten, schon viel zu viel Zeit verloren…“

      Von oben hatte er gen Ost eine Anhäufung von Farn gesehen, was häufig ein Zeichen für Wasser war. Zwar entpuppte sich dies lediglich als ein kleiner Tümpel, aber das Wasser war genießbar und die Feldflasche wieder voll. So ging es dann schließlich weiter und Bajo war froh, sich wieder bewegen zu können. Auch wenn es bedeckt war, war es für ihn nicht schwer, die richtige Richtung einzuhalten. Malvor hatte ihm gezeigt, dass man Anhand der Moose an den Bäumen die Himmelsrichtung bestimmen konnte. Bajo legte ein gutes Tempo hin, um die verlorene Zeit wieder aufzuholen. Etwa um die Mittagszeit machte er eine Rast und überlegte, ob er die Schnatterwürmer wieder in sein Ohr lassen sollte. Da er sich aber recht sicher fühlte, verschob er es auf später. Selbst wenn ein Raubtier auftauchen sollte, waren die Bäume gut geeignet, um darauf zu flüchten. „Also weiter“, beschloss er und eilte wieder los. Der Regen hatte aufgehört, doch von der Sonne war nichts zu sehen. Mittlerweile gab es keine Tierpfade mehr und der Untergrund wurde leicht felsig, sodass es schwieriger geworden war, voranzukommen. Aber Bajo wollte keine Umwege machen und hatte sich für den direkten Weg nach Osten entschieden. „Ohh, du verdammter Trottel, warum hörst du bloß nicht auf deinen Instinkt?“, fluchte Bajo noch in sich hinein, als er ohne Vorwarnung ins Bodenlose fiel! Er spürte harte Schläge von allen Seiten und dann war es vollkommen schwarz.

      Ein modriger Geschmack breitete sich in Bajos Mund aus. Er versuchte auszuspucken, Sand knirschte zwischen seinen Zähnen und brannte in seinen Augen. Auf der Seite liegend, welche jetzt stark schmerzte, wollte er sich hochrappeln und dabei mit der Hand abstützen. Doch diese glitt ins Leere. „So geht es nicht, erst mal die Augen freibekommen“, waren seine nächsten Gedanken und er kramte das Taschentuch, was er immer bei sich hatte, aus der Hosentasche. Mit etwas Spucke wischte er sich die Erde aus den Augen und allmählich fing er an, etwas zu erkennen. Plötzlich fuhr ihm der Schreck so dermaßen in die Glieder, dass er fast wieder ohnmächtig wurde! Bajo blickte in eine tiefe Spalte, die ins Nichts ging. Entsetzt krallte er sich fest und war stocksteif, denn wenn er einer Sache nicht standhalten konnte, dann war es dem Blick in die Tiefe. Er hatte Höhenangst! Als sich seine Starre endlich etwas gelöst hatte, was nur mit geschlossenen Augen ging, drehte sich Bajo auf den Rücken. Nun erkannte er, dass es wohl an die zehn Meter bis nach oben waren. Unter Schmerzen setzte er sich auf und sah jetzt, dass er in eine Spalte im Boden gestürzt war und auf einem Vorsprung saß. Ein Stück zu weit nach links oder rechts wäre sein Ende gewesen. Die Spalte musste über die Zeit völlig zugewuchert sein und als er darauf getreten war, hatte es die ganze Schicht in die Tiefe gerissen. Immerhin war genug Licht, um sich weiter orientieren zu können. „Schwierig, sehr schwierig“, murmelte Bajo in sich hinein, als er einen Weg nach oben ausguckte.

      Immer stark an die Wand gedrückt, versuchte er nun, sich ganz aufzustellen und dabei nicht nach unten zu sehen. „Meine Sachen!“, schoss ihm als nächstes durch den Kopf, denn als er eng an der Wand stand, war kein Druck seines Rucksacks zu spüren. Er hätte gerne etwas von seinen Utensilien, um den Vorsprung herum entdeckt, aber vergeblich. „Nein, nein, nein“, schrie Bajo und dachte an das Wuko. Das Messer jedenfalls war noch am Gürtel: „Wenigstens etwas.“ Und die Schote spürte er sowieso die ganze Zeit an seiner Brust. „Ob es den beiden gut geht?“, fragte er sich und überlegte, sie ins Ohr zu lassen. Aber dazu war jetzt nicht der richtige Zeitpunkt. Wieder suchte Bajo die Wände ab, um sich eine Route zu überlegen und da…: “JAAAAA!“ Dort hing der Rucksack mitsamt dem Wuko an einer Wurzel über ihm - vielleicht drei Meter entfernt. Es war also nichts verloren! Sein Plan sah es jetzt vor, mit dem Messer die Wand in Abständen auszuhöhlen, um so mit Füßen und Händen, wie auf einer Leiter, nach oben zu gelangen. Wäre da nur nicht diese Tiefe… Doch was blieb ihm anderes übrig?

      Einmal ordentlich Luft geholt und ran an die Arbeit: Loch für Loch stocherte Bajo in das Gemisch aus Stein und Erde, mal mit links, mal mit rechts, immer mit beiden Füßen und einer Hand in der Wand. Als er nahe genug an der Wurzel war, steckte er das Messer zurück. „Gleich geschafft, gleich geschafft, nicht nach unten gucken, nicht runtersehen…“, machte er sich Mut. Er hatte extra ein Loch mehr als nötig ausgehöhlt, um ganz sicher den Rucksack greifen zu können. Langsam schob Bajo ihn über die Schulter und griff mit der Hand die Wurzel. Bevor er aber den anderen Arm durch die zweite Schlaufe bringen konnte, musste kommen, was er befürchtet hatte: Die Löcher, in denen er stand, waren nicht stabil genug, ein Fuß rutschte ab und zog den anderen nach sich. Jetzt hing er da, mit der einen Hand die Wurzel umschlungen, mit der anderen in ein Loch gekrallt und die Füße wild strampelnd, um wieder Stand zu finden. Seine Kraft ließ nach und so blieb er erst einmal ruhig hängen. Das Gesicht in den Dreck gepresst, wusste Bajo langsam keinen Ausweg mehr, er musste sich fallen lassen. Die Tiefe zum Vorsprung war nicht das Problem, der Abgrund daneben aber machte ihm Sorgen. „Was soll’s, eins, zwei, hopp!“ Um nicht rückwärts ins Nichts zu stürzen, stieß sich Bajo leicht von der Wand ab, bevor er losließ und schmiss sich gleich nach dem Aufprall wieder dagegen. Seine Seite schmerzte zwar immer noch, doch er war froh, so gut gelandet zu sein. Nach einer Drehung saß er schließlich mit dem Rücken an der Wand auf dem Vorsprung, so wie schon zuvor.

      „Oje, Bajo, du hast noch nicht einmal mit deiner eigentlichen Aufgabe begonnen, da scheiterst du schon an der ersten Hürde, besser gesagt Tiefe“, schimpfte er sich selbst und lachte höhnisch auf. Es wurde schummriger, die Sonne ging schon wieder bald unter. Damit er nicht im Dunkeln sitzen würde, holte er den Sonnenstein heraus, füllte etwas Wasser in seinen Trinkbecher und legte ihn hinein. Nach kurzer Zeit leuchtete der Stein hell genug und Bajo band ihn mit einem Lederriemen an ein Ende seines Wukos. Noch einmal leuchtete er die Umgebung ab und konnte jetzt viel mehr erkennen. Gegenüber befand sich ebenfalls ein Vorsprung, dieser schien ihm aber ungewöhnlich gleichmäßig zu sein, als wäre er von Menschenhand geformt worden. Genauso wie die Wand, die wohl auch nicht aus Stein und Erde bestand. Bajo nahm einen Klumpen und warf ihn nach drüben. Der Aufprall zog ganz klar einen hohlen Klang nach sich! „Das muss eine Bretterwand sein!“, rief er erstaunt. Erneut die Höhe musternd, kam Bajo zu dem Entschluss, dass dort drüben der einzige Ausweg aus seiner Misere sein konnte. Nun musste er noch irgendwie hinüberkommen. Ein kräftiger Satz sollte ausreichen, aber der Vorsprung war schmaler als der, auf dem er stand, er durfte also keinesfalls nach hinten taumeln.