Ben Leo

Schattenhunger


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die Sprossenwand konnte er unmöglich benutzen. Früher, in der Schule, hatte es einen kleinen Raum gegeben, der fast direkt unterhalb der Decke ein schmales Fenster mit einer Fensterbank hatte. Da oben hatte Bajo sein Geheimversteck gehabt und er konnte es erreichen, indem er sich, an einer Wand stehend, zur anderen Seite fallen ließ und sich dort abstützte. Schräg, ja fast waagerecht, klemmte er so zwischen den Wänden und lief sozusagen mit Händen und Füßen nach oben. Dann legte er, mit nur einer Hand drückend, welchen zu verbergenden Gegenstand auch immer, dorthin. Das war immer der schwierigste Teil gewesen und ein-, zweimal wäre er auch beinahe abgestürzt.

      So wollte er es jetzt auch machen, Bajo holte tief Luft und begann mit dem Aufstieg. Doch dies war keine trockene, griffige Schulwand. Die Mauer war feucht und an manchen Stellen glitschig und brüchig. Nach noch so einem Sturz aus der Höhe verspürte Bajo wahrlich kein Verlangen. So mühte er sich eher langsam, dafür sicher, Richtung Freiheit. Sein stetiges Üben machte sich bezahlt, denn obwohl er schweißgebadet am Rand ankam, hatte er doch noch genügend Kraft, um die letzte Hürde nehmen zu können: Er musste sich jetzt fest an die Ziegel klammern, mit den Füßen in die gleiche Höhe tippeln, dann mit dem Bein über den seitlichen Rand gleiten, um sich am Ende mit seinem ganzen Körper herüberzuschieben. Der Moment, in dem er genau waagerecht zwischen den Wänden klemmte, war der schlimmste, denn Bajo warf dummerweise einen kurzen Blick in die Tiefe. Ein dumpfes Zucken im Magen ließ ihn fast abgleiten. Nur mit äußerster Mühe behielt er sich im Griff und schob sich, fast schon zitternd, schließlich doch noch auf die rettende Seite. Er wälzte sich auf den Rücken, beziehungsweise auf Rucksack und Wuko und schaute erschöpft, aber glücklich in die leicht wogenden und sonnendurchfluteten Blätter der Bäume. So lag er erst einmal eine Weile da und genoss die herrlich frische Luft, die ihm um die Nase säuselte.

      Nachdem Bajo sich gesammelt, seine Klamotten abgeklopft und zurechtgerückt und auch den Sonnenstein wieder verstaut hatte, guckte er den richtigen Weg aus und setzte seine Wanderung fort. Das nächste Ziel würde ein kleines Gewässer sein müssen, denn die Feldflasche musste dringend wieder gefüllt werden. Stunde um Stunde verging, aber kein Flüsschen oder Tümpel war in Sicht. Bei einer Rast verzehrte er die letzten Vorräte und nahm den letzten Schluck Wasser. „Wie wunderschön der Wald doch ist, vor allem, nach so einer Nacht in der Dunkelheit“, dachte sich Bajo und ließ sich das Gesicht von der Sonne wärmen. Er fühlte sich gut und glücklicherweise taten ihm seine Knochen nach dem schweren Sturz in die Spalte auch gar nicht mehr so weh. „Jetzt aber weiter, das nächste Abenteuer wartet. Und ich will ja schließlich meinen ersten Gefährten finden!“, rief er vergnügt und setzte seinen Marsch fort. Als es fast schon wieder dunkel wurde, machte er Halt und fragte sich, ob er wohl schon das Gebiet der Gexen verlassen hatte. Wäre das nicht der Fall, müsste er sich vor der Nacht fürchten, denn laut Malvor konnten die Gexen bis in die Wipfel der Bäume hinaufkriechen, auch wenn ein feuchter, löchriger Boden ihr eigentliches Revier war. Bajo untersuchte die Umgebung genau, der Untergrund war recht trocken und es gab kaum Büsche oder Unterholz. Auch hatte er keine Spuren von Raubtieren gesehen und so beschloss er, sich schon hier für die Nacht einzunisten. Nach einigen Übungen, mit und ohne Wuko, begab sich Bajo auf die Suche nach einer guten Stelle zum Schlafen. Eine umgeknickte Buche war schließlich der ideale Platz. Unter dem halb hochstehenden Wurzelkranz befand sich eine Mulde. Diese füllte Bajo mit einigen Blättern, baute mit alten Ästen eine Art Zaun darum und verdeckte diesen mit Buschwerk, das er sich aus der Umgebung zusammensuchte. Durch eine Lücke warf er seine Sachen hinein, schlüpfte selbst hindurch und verschloss den Spalt von innen mit den letzten Ästen, die er noch übrighatte. Sollte jetzt etwas von draußen hereinkommen wollen, könnte Bajo es auf jeden Fall bemerken und das ‚Etwas‘ würde sein Kristallmesser zu spüren bekommen!

      Er war noch nicht müde, was zu essen und zu trinken hatte er auch nicht und so holte er die Schote unter seinem Hemd hervor. „Wir haben schon die frische Luft genossen, Bajo. Das heißt, du bist also aus der Mine herausgekommen“, bemerkte Nela erfreut, als die Schnatterwürmer wieder im Ohr saßen. Bajo bestätigte ihr: „In der Tat. Und es war kein leichtes Unterfangen. Ich hatte Glück mit dem mittleren Weg, aber den Schacht hinaufzugelangen, war doch sehr anstrengend und gefährlich.“ „Brauchst du unsere Hilfe, oder lässt du uns nur so von deinem köstlichen Ohrenschmalz naschen?“, wollte nun Neli wissen. „Um ehrlich zu sein, ich langweile mich. Ich habe schon das Nachtlager aufgeschlagen und hoffe, dass mich keine Gexen finden und wenn, werden sie meinen Dolch spüren. Außerdem wollte ich mal wieder mit jemandem reden, am Ende rostet mir noch die Stimme ein.“ So plapperte Bajo noch eine Weile mit den Schnatterwürmern, bevor sie dann alle schlafen gingen.

      In der Nacht wurde Bajo nur einmal kurz von einem Erdferkel geweckt, das an seinem Schutzwall randalierte. Ansonsten verlief alles ruhig und er war am frühen Morgen gut ausgeschlafen. Er bemühte sich, alles in den Zustand zu versetzen, der vor seiner Ankunft geherrscht hatte und machte sich dann wieder in Richtung Osten auf. Sein Magen fing an zu knurren und sein Mund war trocken. „Ich muss dringend Wasser finden, ich will am Ende nicht in die Tiefe graben müssen, um meinen Durst zu stillen“, überlegte Bajo, als im selben Moment ein plätscherndes Geräusch zu hören war. Er ging den willkommenen Lauten nach und fand bald eine winzige Quelle, die ein kleines Rinnsal speiste. Das Wasser war köstlich und Bajo trank sich erst einmal satt. Gerne hätte er sich auch gründlich gesäubert, aber eine Katzenwäsche musste reichen, denn Bajo wollte den Wald so schnell wie möglich hinter sich lassen. Wie er in dem letzten Ring mit den Rabukar fertigwerden sollte, war ihm allerdings noch immer schleierhaft.

      Auf seinem weiteren Weg fand Bajo ein paar unreife Waldbeeren. Die waren doch noch recht sauer, aber um seinen Magen zu beruhigen, reichte es. Inzwischen wurde der Wald dichter und feuchter und hatte viel Unterholz - leider gute Bedingungen für Gexen und die konnten Bajo immer noch die Suppe versalzen. Zum Glück schien die Sonne, das beste Mittel, um die ekelhaften Viecher in ihren Löchern zu bannen. Bajo war jetzt schnell unterwegs und hochkonzentriert. Erst nach Stunden legte er die nächste Rast ein. Malvor hatte ihm eine Aufgabe gegeben, auf die er sich schon freute. Aber wie er den Wald verlassen sollte, außer die Richtung, hatte er ihm nicht geschrieben, nicht einmal einen kleinen Hinweis. Im Gegenteil, der Zauberer hatte ihn in ihren Gesprächen eindringlich vor den Rabukar gewarnt, denn sie waren äußerst aggressiv und jagten einen zur Not auch bis in die Bäume hinauf. „Nochmal vorbeischleichen? Soviel Glück kann man nicht haben…“, grübelte Bajo und starrte nach Osten. Da entdeckte er einen Schimmer über den Bäumen. Beim genaueren Hinsehen wurde ihm klar, dass es sich um den Glutberg handeln musste, an dessen Fuße die berühmte ‚Schichtstadt‘ klebte.

      Der Glutberg war einer von zwei erloschenen Vulkanen der äußeren Welt. Seinen Namen verdankte er der rötlichen Färbung des Gesteins. Wenn Bajo also die Spitze des Berges von dort aus sehen konnte, war der Rand des Grauenwaldes nicht mehr weit. Es war erst Mittag und Bajo fühlte sich stark genug, in derselben Geschwindigkeit weiterzumarschieren, die er zuvor eingelegt hatte. Noch eine Nacht wollte er im Wald nicht verbringen und so entschloss er sich, noch an diesem Tag den letzten Ring zu durchbrechen. Im Dauerlauf jagte er durch die Vegetation. Als es gegen Abend ging, verlangsamte er seinen Schritt und versuchte, möglichst leise zu sein. Bei einem Schluck Wasser zwischendurch bemerkte er einige Spuren. Große Tatzenabdrücke, hier mussten vor kurzem Raubtiere gewesen sein - vermutlich Rabukar! Augen und Ohren waren im Nu auf die Umgebung fixiert und Bajo beschlich ein mulmiges Gefühl. Er schritt nun hoch wachsam voran und überlegte, ob er sein Wuko hervorziehen sollte. Aber Malvor hatte ihn stets ermahnt, beim Gehen oder Laufen die Hände freizuhalten, so musste er eben schnell sein, wenn Gefahr drohte. Mittlerweile kam er nur langsam voran und bald konnte er kaum noch etwas sehen. Bajo hatte sich verschätzt, er musste erneut eine Nacht im Wald verbringen, nur wo? Da er sich nicht traute, den Sonnenstein zum Leuchten zu bringen, kroch er einfach ins nächstgelegene Unterholz, so tief wie möglich. Hier war es nur halbwegs bequem, aber es musste für die Nacht reichen. Einen Schluck aus der Feldflasche, den Rest unreifer Waldbeeren zur Stärkung genommen hieß es nun warten und hoffen. Bis zum Morgengrauen war es eine quälende Zeit; etliche Male nickte Bajo ein und schreckte dann unwillkürlich wieder hoch. Gerade da endlich so viel Licht die Umgebung erhellte, dass er seinen Weg fortsetzen konnte, wollte sich Bajo eben aus dem Gebüsch herauswinden, als er plötzlich ein Rascheln in der Nähe hörte. Vorsichtig spähte er durch die Blätter und der Schock fuhr ihm in die Glieder, ein Rabukar!

      Ein