Ben Leo

Schattenhunger


Скачать книгу

wo doch sonst ständig irgendeine Ware transportiert wurde. Der Mann auf dem Kutschbock sprang mit einem eleganten Satz herunter und kam direkt auf Bajo zu. Von der Kleidung her ein Malike, kräftig gebaut, groß, dunkles volles leicht lockiges Haar und freundlich lächelnd. Er hatte wohl gleich erkannt, woher Bajo kam und fragte in sehr gutem Mittenländisch: „Werter Herr, würdet ihr so gütig sein und auf meine Kutsche aufpassen, während ich Hilfe hole? Ich werde mich auch erkenntlich zeigen.“ Rasch erwiderte Bajo: „Ja natürlich, sehr gerne! Dort hinten bei der Herberge sind auch Stallungen und ein Schmied Namens Haroff. Sagen Sie ihm, dass Sie von Bajo kommen und dass es eilt.“ „So, Bajo also… Ich bin Topao!“, entgegnete der freundliche Mann und gab Bajo die Hand. Während dieser Topao Hilfe holte, führte sich Bajo noch einmal vor Augen, was da gerade geschehen war. Nicht nur hatten die fast zeitgleichen, seltsamen Ereignisse ihn getroffen wie ein Schlag, nein, auch Topao war ihm gleich so sympathisch und vertraut, als würde er ihn schon lange kennen. Ob er sein erster Gefährte sein konnte? Bajo lief aufgeregt neben der verunglückten Kutsche hin und her. Wenn es tatsächlich so war, wie sollte er jetzt weiter vorgehen? Er hatte sich über einen solchen Fall noch gar keine Gedanken gemacht. Sollte er ihn direkt ansprechen? Sollte er so tun, als wäre nichts und ihn aus der Ferne beobachten? Nach langem Überlegen entschloss er sich, den Dingen einfach ihren Lauf zu lassen, denn genau so war es ja überhaupt auch erst zu der Begegnung gekommen.

      Der Verkehr auf der Straße hatte wieder zugenommen und schon bald kamen Topao, der Schmied und ein Gehilfe mit einem Handkarren zurück. Auf diesem befanden sich ein Ersatzrad und Werkzeug und alle fingen an, gemeinsam den Schaden zu reparieren. Nachdem das Werk vollendet und der Schmied mit seinem Gehilfen wieder losgezogen war, wandte sich Topao augenzwinkernd an Bajo: „Da habe ich wohl den Richtigen zum richtigen Zeitpunkt getroffen. Ich werde mich jetzt auf in die Stadt machen und meine Sachen unterbringen. Wenn du einverstanden bist, dann komme ich heute Nachmittag zurück und lade dich zu einer Kleinigkeit ein, was auch immer du magst. Wenn wir Glück haben, ist das Gewitter dann auch vorübergezogen“, schlug er vor und Bajo willigte fröhlich ein: „Das hört sich gut an, Topao, du kannst mich an der Herberge abholen, ich freue mich schon!“

      Glücklich kehrte Bajo zurück auf sein Zimmer. Am Fenster stehend beobachtete er, wie das leichte Gewitter vorbeizog. Da aber wieder tausend Fragen und Gedanken auf ihn einstürzten, nahm er sein Wuko und ging hinaus hinter die Stallungen. Dort hatte Bajo einen kleinen Platz gefunden, wo er ungestört üben konnte. Er wollte lieber noch einmal Kraft tanken und sich nicht das Hirn zermürben, bevor er sich mit Topao traf. Der Regen hatte schon aufgehört und Bajo absolvierte fast die ganze Palette der Kraft- und Wukoübungen, die er konnte. Danach fühlte er sich wieder ausgeglichen, machte sich im kleinen Badehaus frisch und wechselte die Unterwäsche. Nun kam er sich wie neugeboren vor und schlenderte zum Eingang. Just in dem Moment trat Topao durch die Tür: „Hey Bajo, mein Retter! Wie schaut es aus, wohin wollen wir gehen?“ Die temperamentvolle, sichere und freundliche Art von Topaos Auftreten hatte Bajo von Anfang an beeindruckt. Der Mann war Lebensfreude pur und schien voller Tatendrang zu sein. „Ich kenne auf dem Markt einen Stand, da gibt es tollen Kaffee und leckere Backwaren“, empfahl Bajo, „Er ist auf einer Ecke, wo man sitzen und Leute beobachten kann.“ „Na, das hört sich doch wunderbar an!“, stimmte Topao zu, wobei er sich bei Bajo einhakte, als wäre dieser die Dame seines Herzens, die er nun aus der Taverne führte. Dies tat er so übertrieben und schwungvoll, dass beide lachen mussten.

      Die Gänge zwischen den Marktständen waren übermäßig voll, sodass sie auf dem Weg nicht viel redeten. Es wurde gerade ein guter Platz frei, als sie ankamen und Bajo orderte gleich einen concorsischen Lechie und ein paar Vanille-Kokos-Plätzchen. Als auch Topao für sich einen doppelten Schwarzen und ein Stück Waldbeerenkuchen bestellt hatte, blickte sogar die wärmende Sonne wieder durch die Wolken. „Du hast recht, ein idealer Platz, um sich das Treiben auf dem Markt anzuschauen“, eröffnete Topao das Gespräch, „Und was machst du, wenn du mal keine Leute beobachtest?“ Darauf hatte Bajo sich schon vorbereitet. Da er ja niemanden von seiner wahren Mission erzählen konnte, musste er eine andere Geschichte parat haben: „Ich bin im Auftrag eines kleinen Händlers aus Kontoria unterwegs. Er handelt mit edlem Goldschmuck, Pelzen und gelegentlich auch mit Gewürzen. Ich suche Händler in Malikien, die sich auf dauerhafte Geschäftsbeziehungen einlassen wollen. Außerdem halte ich Ausschau nach geeigneten und günstigen Transporteuren.“ Bajo ließ jetzt all sein Wissen, das er sich im Hauptkontor angeeignet hatte, in sein imaginäres Leben als rechte Hand eines Kaufmannes einfließen. Er erzählte von kuriosen Ereignissen, wie man gute Ware erkannte und was man alles bei der Abwicklung eines Geschäfts beachten musste. Am Ende glaubte er seine Geschichte bald selbst. Topao war ein aufmerksamer Zuhörer und gab zu, nicht so viel von solch Dingen zu verstehen, da er doch eher ein Mann von Taten war. „Und auf einmal kracht deine Kutsche vor meine Füße, wie aus dem Nichts!“, endete Bajo seinen Vortrag.

      „Ich bin selbst sehr verwundert, dass das passieren konnte“, erwiderte Topao, „Ich kenne mich mit Kutschen gut aus und achte penibel darauf, dass alles gut in Schuss ist. Es ist mir ein Rätsel, wie das Rad so zerbrechen konnte.“ „Und warum bist du nach Schichtstadt gekommen“, fragte Bajo neugierig. Topao erzählte: „Von Beruf aus bin ich Schreiner in meiner Heimatstadt Mondaha, aber mir liegen eigentlich alle handwerklichen Dinge gut. Deshalb hat mich mein Vetter Ireb hierhergebeten, er will sein Haus umbauen und neugestalten lassen. Er wohnt in der vierten Schicht, denn er ist mit Meliva verheiratet, der Tochter von Karamin dem Weisen, Herrscher von Mondaha und ganz Malikien. In der vierten Schicht dürfen nur Könige, Fürsten und die obersten Edelmänner aus anderen Ländern ihre Residenz haben. Komm, lass uns ein Stück den Hügel hinaufgehen, ich brauche Bewegung und von dort aus kann ich dir Schichtstadt ein wenig erklären.“

      3.3 Schichtstadt

      Die beiden zahlten ihre Speisen und Getränke und machten sich durch das Gewühle auf zum Ausgang, der zu den Barracken der Minenarbeiter führte. Von dort konnte man gut auf einen der nahegelegenen Hügel gelangen und Topao begann mit seiner kleinen Geschichtsstunde: „Vor ungefähr 300 Jahren entdeckten zwei Brüder aus Mariopol, sie hießen Neschan und Glaban Peschmar, Gold im Glutberg und erklärten das Land am Fuße des erloschenen Feuerbergs kurzerhand zu ihrem eigenen. Der damalige Herrscher von Malikien war schwach und käuflich und stellte den Brüdern gegen etwas Gold eine Urkunde aus, die es ihnen erlaubte, dort einen eigenen Stadtstaat zu gründen. Die beiden ließen weitere Minen bauen und rekrutierten Söldner zur Bewachung. Nachdem dann auch noch Edelsteine gefunden wurden, waren sie innerhalb kürzester Zeit steinreich. Es wurden Heerscharen von Handwerkern und Sklaven herangeschafft, denn die Brüder hatten den berühmten Baumeister Silinikus aus Concorsien beauftragt, eine Stadt am Fuße des Berges zu errichten. Die natürliche Stufung neben dem großen Wasserfall war dafür ideal. Eine breite Serpentinen-Straße führte seitlich, über weitere Ebenen hoch zur obersten Schicht, auf der zunächst eine riesige Palastanlage mit wundervollen Gärten für die Brüder und ihr Gefolge gebaut wurde. Im Laufe der Zeit entstanden immer mehr Gebäude zur Versorgung, Häuser für die Bediensteten und Stadtpalais für wichtige Verbündete aus anderen Reichen.

      Da in der Stadt nur das Gesetz der Brüder galt, wurde sie auch zur Zufluchtsstätte für gesuchte Gauner und Banditen, welche wiederum Glückspiel, Dirnen und sonstige Laster etablierten. Bald konnte man hier alles haben, was man sich wünschte. Nachdem der Zustrom immer größer wurde, beschloss man, eine Wehrmauer zu errichten und sich abzuschotten. Einlass gab es nur noch mit entsprechenden Papieren und das gilt noch heute. Neschan, der ältere, verstarb bald und da nur Glaban Kinder gezeugt hatte, vererbte sich die Herrschaft aus seiner Linie. Wer auch immer die Nachfolge der Regentschaft antrat, er wurde von allen einfach ‚Der Peschmar‘ genannt.

      Aus der Ferne betrachtet sieht die Stadt aus wie eine Schichttorte, die es auf großen Hochzeiten gibt. Daher kommt der Name Schichtstadt. Der Boden oder die unterste Schicht ist der größte Teil und dehnt sich vor dem Berg auch etwas aus. Hier leben die Handwerker, Markthändler, Dirnen, Soldaten und Stallmeister. Und hier ist auch das verruchte Laster-Viertel mit seinen Bordellen, Spielhöllen und kleinen Kampfarenen. Die Hauptstraße zieht am Ende nach rechts einen engen Bogen hinauf zur zweiten Schicht, wie du sehen kannst. Dort gibt es ein weiteres Tor, wo man ohne die richtigen Dokumente nicht weiterkommt. Auch dürfen