Ben Leo

Schattenhunger


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Geschäftigkeit. In der vierten Schicht angekommen, zeigten sie nun am Tor ihre Papiere vor und fanden Einlass. Etwa nach der Hälfte der gut gepflasterten Straße standen sie vor einem wunderschönen Stadtpalais. Wachen gab es nicht, da das Anwesen ja zur Zeit eine Baustelle war. Topao öffnete mit einem Schlüssel die große Eingangstür: „Die Bediensteten haben wir während der Umbauten nach Hause zu ihren Verwandten geschickt. So haben sie mal länger frei und wir können uns hier in Ruhe austoben.“ Sie traten in die Empfangshalle ein, die groß wie ein Saal war und an deren Ende eine breite Treppe sich nach links und rechts zu den oberen Gemächern gabelte. In der Mitte der kleinen Halle stand eine bunte Sitzgruppe um einen Tisch herum. Ansonsten aber gab es keine Gegenstände mehr im Raum und auch der Boden, den sonst sicherlich herrliche Teppiche zierten, war kahl. „Wir gehen gleich nach oben, in den Gästeflügel. Dort habe ich zwei Räume für uns hergerichtet“, erklärte Topao. Obwohl fast alle Gegenstände aus dem Haus entfernt worden waren, war Bajo beeindruckt. Die großzügige Architektur zeugte von königlicher Erhabenheit. Sein Zimmer für die Zeit der Umbauten besaß einen riesigen Balkon, von dem aus man eine fantastische Fernsicht hatte. Grinsend fragte Topao: „Und? Ist das ein Ausblick?“ „Das ist wirklich überwältigend! Man bekommt ein ganz anderes Gefühl für die Welt!“, Bajo ließ seinen Blick über die Landschaft schweifen. Er konnte von hier sehr gut den Grauenwald überschauen und erinnerte sich an seine Erlebnisse dort und an Malvor. Topao riss ihn aus seinen Gedanken: „Hey, wie sieht es aus, wollen wir die Stadt erkunden und dann was Schönes essen?“ Das ließ sich Bajo nicht zweimal sagen! Nachdem er seine paar Habseligkeiten verstaut hatte und sie sich etwas frisch gemacht hatten, zogen die beiden los. Außer für die Palastebene, galten ihre Papiere für jede der anderen Ebenen und diese wollten sie sich auch alle anschauen.

      Die Palais der vierten Ebene waren eines schöner als das andere, auf der Straße sah man allerdings nur einige Bedienstete und Wachen herumlaufen. Auch die Häuser der dritten Ebene konnten sich sehen lassen; sie waren zwar kleiner, dafür jedoch voller Überraschungen, was den Einfallsreichtum der Architektur und der Verzierungen betraf. Wirklich interessant wurde es aber natürlich in der zweiten Ebene, denn hier konnte sich Bajo in den schmucken Läden der Reichen umsehen. Diese waren meist auf gewisse Dinge spezialisiert. Der eine bot seltene Delikatessen aus Concorsien an, ein anderer erlesene Speisen und Getränke aus ganz Likien. Es gab einen Laden, der nur Dekorationsgegenstände verkaufte, einen weiteren, der nur Tuch- und Lederwaren feilbot. Zudem mehrere Schmuckverkäufer, die Ringe, Ketten, Armreife und Diademe aus Gold- und Edelsteinen anpriesen und natürlich eine Menge Läden mit Kleidern aus den erlesensten Stoffen. So kam Bajo aus dem Staunen gar nicht mehr raus und irgendwann war ihm fast schwindelig von all den noblen Angeboten: „Ich glaube, ich kann nicht mehr, Toppi, ich brauche jetzt erstmal eine Stärkung!“ „Dann lass uns in die untere Schicht gehen, ich kenne da eine nette Taverne in einer Seitengasse, da können wir wunderbar essen“, schlug Topao vor.

      Sie ergatterten draußen vor der Gaststätte einen kleinen Tisch für zwei und Bajo ließ sich von Topao die Auswahl vorlesen. Er entschied sich für pikant gewürzte Rinderhackstangen auf Reis mit Tomatensoße dazu gegrilltes Gemüse. Topao nahm gebratene Hühnerbrust mit warmen Datteln und süßem Reis. Vorweg gab es frisches Fladenbrot, welches sie in eine hausgemachte Paste dippten und beide tranken dazu einen anregenden Hibiskus-Tee. „Nach dem Essen zeige ich dir mehr von der unteren Stadt“, begann Topao das Gespräch, während sie auf den Hauptgang warteten. „Ich zeige dir auch die Werkstätten und Lieferanten, die für meine Umbauten wichtig sind, damit du dort Besorgungen machen kannst, wenn ich etwas brauche. Heute lassen wir es uns noch gut gehen, aber morgen müssen wir ranklotzen, denn mein Vetter will den Sommer hier verbringen. Das heißt, in einem Monat müssen wir fertig sein!“ Bajo erklärte sich natürlich dazu bereit: „Ich werde machen, was du verlangst. Viel Erfahrung habe ich allerdings nicht. Als Kind musste ich meinem Vater immer zur Hand gehen und in meinem Garten habe ich mir ein großes Baumhaus gebaut, aber das ist auch schon alles. Dinge ranschaffen, Besorgungen machen, das ist schon eher mein Metier. Aber ich werde mein Bestes geben!“ „Mach dir keine Gedanken, das klappt schon, Toppi ist ja da!“, Topao kniff ein Auge zu und lächelte Bajo dabei aufmunternd an.

      Nachdem sie gezahlt hatten, durchstreiften sie die Handwerkergassen und Bajo hatte trotz seines guten Orientierungssinns Mühe, sich die Lage der Werkstätten einzuprägen. “Wenn du mal nicht weiterweißt, frage einfach in einem Geschäft, die kennen sich hier alle untereinander“, beruhigte ihn Topao. Die Hauptstraße vom Tor her war gleichzeitig auch die Marktstraße der unteren Stadt mit Ständen und Läden. Bei weitem gab es kein so vielfältiges Angebot wie das auf dem großen Markt vor der Stadt, aber für den täglichen Gebrauch langte es allemal. „Und nun kommen wir ins Amüsier-Viertel.“ kündigte Topao heiter an, „In der ganzen Außenwelt findet sich kein anderer Ort, an dem es so viel Laster auf einen Haufen gibt. Du solltest hier nicht alleine hergehen, es gibt zu viel Gauner und Gesindel, die Fremde abzocken wollen. Aber einen Blick können wir hier schon riskieren, gesehen haben solltest du es allemal.“ Von überall her dröhnte die Musik der Kapellen. Der Geruch von Timber- und Hennefkraut zog durch die Gassen, Met und Wein flossen in Strömen. Die Leute lachten, grölten und an jeder Ecke gab es irgendein Glücksspiel. Dazwischen waren immer wieder Freudenhäuser, vor denen die Dirnen recht freizügig auf Kundenfang gingen. „Bleib lieber einen Monat keusch. Wenn du dich mit einer von denen einlässt, muss ich dich womöglich jeden Morgen erst hier suchen, bevor wir arbeiten können“, scherzte Topao. Bajo lachte, aber seine Blicke konnte er nicht recht abwenden. Die Frauen hatten sich wirklich anziehend zurechtgemacht und geizten nicht mit ihren Reizen. Sie waren verschiedenster Herkunft und konnten sicherlich allen Neigungen gerecht werden. „Ich glaube, du solltest mich schleunigst fortbringen, von alleine kann ich mich hier nicht mehr losreißen!“, gab Bajo zu bedenken. Topao lachte lauthals, doch dann merkte er, dass Bajo es ernst meinte. Er musste ihn sogar festhalten, weil dieser mit ausgestreckten Armen auf eine dunkelhaarige, likische Dirne zulief, die - zugegebenermaßen - sehr attraktiv war. Mit festem Griff schob Topao den liebestollen Bajo vor sich her, in Richtung zur Serpentinenstraße und bugsierte ihn dort erst einmal auf eine Bank. „Mir ist ganz schwindelig, wo sind denn die schönen Frauen?“, stammelte Bajo. „Oje, dich hat es aber ganz schön erwischt. Das liegt an dem Hennefnebel, der in den Gassen wabert, da wirst du schon berauscht, ohne selbst geraucht zu haben. Ich bring dich lieber nach Hause, das war jetzt ein bisschen viel heute“, beschloss Topao.

      Am nächsten Morgen weckte der Geruch von frischem Kaffee Bajo. Er hatte wild von alten Zeiten geträumt, als er selbst noch Hennefkraut geraucht hatte. Schweißgebadet von den Erinnerungen lag er nun in dem komfortablen Bett eines herrschaftlichen Palais. „Guten Morgen, der Herr, haben wir uns wieder erholt?“, begrüßte ihn Topao, der auf seiner Hand ein Tablet mit einem großen Becher concorsischen Lechie und einem süßen Brötchen balancierte. „Wenn du dich gestärkt hast, kannst du dich unten im Badehaus frisch machen. In der Zwischenzeit hole ich die Lastenträger ab, wir fangen heute an, die Wände zu tünchen.“

      So begann für Bajo ein neuer Abschnitt. Topao führte ihn mit Geschick und Geduld in die Aufgaben ein und schon bald waren sie ein perfekt eingespieltes Duo. Mehrmals täglich machte Bajo Besorgungen, er tünchte die Wände nach Vorgabe und beaufsichtigte die zahlreichen angeheuerten Handwerker, die sich der Erneuerung der Rohre, den Putz- und Stuckarbeiten, der Verlegung neuer Fliesen und der Neugestaltung des Gartens widmeten und ohne die es natürlich in der kurzen Zeit nicht zu schaffen war. Topao selbst kümmerte sich hauptsächlich um die Schreinerarbeiten und passte die speziell angefertigten Möbelstücke genau ein. Sie arbeiteten sich von den Turmzimmern über das dritte und zweite Stockwerk herunter und hatten bald auch die Außenanlagen mit dem Teehäuschen und den Badehäusern sowie die Großküche, den Gästesaal, und die Terrassen fertiggestellt. Nun standen nur noch die Salons und die Eingangshalle aus. Es waren drei Wochen vergangen und die beiden Männer hatten jeden Tag von früh bis spät gearbeitet. Allein bei den Mahlzeiten unterhielten sie sich ein wenig, aber auch da ging es meist nur um die Umbauten. Jeden Abend fiel Bajo, nach einem kurzen Bad, hundemüde in sein Bett und schlief sofort ein, nur, um am nächsten Tag das gleiche Spiel wieder von vorne zu beginnen.

      „Gute Neuigkeiten!“, begrüßte ihn Topao, als Bajo zum Frühstück auf die Terrasse kam, „Ich habe einen Brief erhalten, in dem mein Vetter schreibt, dass ihn geschäftliche Dinge aufhalten und sich seine Anreise um zwei