Ben Leo

Schattenhunger


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Arbeit ist ja getan, ich lass es heute gemächlich angehen. Nachher mache ich noch ein paar Erledigungen und wenn ich zurück bin, können wir uns überlegen, was wir noch so anstellen wollen.“

      Bajo kam der freie Tag sehr gelegen, denn er hatte während der Arbeiten immer nur kurz zwischendurch seine Übungen auf seinem Zimmer machen können. Nach Topaos Weggang nutzte er also die Zeit, um das ganze Programm seiner Kraft- und Wukoübungen zu absolvieren. Im Garten hinter dem Teehäuschen gab es eine kleine Fläche, die sich dafür eignete. Es war eine echte Wohltat; es war, als würde sich sein Körper regelrecht danach gesehnt haben. Bei einigen Ausführungen merkte Bajo, wie verspannt seine rechte Seite war. Das kam wohl von der einseitigen Beanspruchung durch das Tünchen der Wände. In andere Kombinationen musste er sich erst wieder hineinfinden, zu lange waren die letzten Übungen her. Bald schon vergaß er die Welt um sich herum und war voll konzentriert. Bei einer abschließenden Drehung, die mit dem Stoß des Wukos endete, erschrak er plötzlich: Topao war schon vorzeitig zurückgekommen und stand wohl bereits eine Weile neben dem Häuschen.

      „Oh, tut mir leid, ich wollte dich nicht stören!“, entschuldigte er sich. „Stehst du da schon länger?“, fragte Bajo. „Lange genug, um zu erkennen, dass du das, was du da machst, sehr gut draufhast. Hat das auch einen Namen?“, wollte Topao wissen. „Einen Namen nicht direkt, es sind Kraftübungen. Und diese Kraftübungen führe ich auch mit diesem Kampfstab aus. Man nennt es Wuko“, erklärte Bajo. „Sehr beeindruckend! Wie ich schon vor einiger Zeit sagte, ich habe das Teil irgendwo schon mal gesehen… Ha! Jetzt weiß ich es! Ich habe immer versucht, mich daran zu erinnern, an welchem Ort es war. Aber es war an gar keinem bestimmten Ort. Ich habe es im Traum gesehen! Ich weiß noch, dass ich ganz klar war und mich gewundert habe, dass der alte Mann so elegant und beweglich war.“ Jetzt wurde Bajo hellhörig: „Wie sah der Mann aus? Kannst du ihn mir beschreiben?“ Topao bemühte sich, die Bilder vor seinem inneren Auge erscheinen zu lassen: „Hmmh, der Traum ist schon eine ganze Weile her und du weißt ja, wie es mit Träumen ist, sie sind im Nu wieder vergessen.“ Topao schloss die Augen, um sich auf seine Erinnerungen zu konzentrieren: „Ja, er sah irgendwie lustig aus. Genau, er hatte einen grauen, wuseligen Spitzbart. Und richtig, ich hatte mich noch gefragt, warum er einen dicken Zopf trägt, so wie manche Frauen.“ „MALVOR!“, schrie Bajo aufgeregt, „du hast Malvor gesehen, ganz sicher!“ „Malvor, Malvor…“, wiederholte Topao leise, „da kann ich jetzt nichts mit anfangen, das sagt mir irgendwie nicht viel…. Ich weiß nicht, irgendwie geht’s mir heute nicht gut. Komm, wir setzen uns einen Moment ins Teehäuschen, ich bin irgendwie verwirrt.“ Bajo hibbelte aufgeregt hin und her. Als sie es sich bequem gemacht hatten, drängte er Topao, sich weiter zu erinnern. Aber so sehr sich dieser auch bemühte, er konnte nichts mehr zu der Sache beisteuern. „Weißt du was, Toppi, wir ruhen uns jetzt ein wenig aus und ich koche uns einen schönen Tee. Und danach machen wir eine kleine Wanderung, dann zeige ich dir noch etwas.“ Seufzend stimmt Topao zu: „Ja, das ist mir sehr recht. Vielleicht hört mein Kopfbrummen dann auch endlich auf.“

      Während Topao schon bald auf der Bank im Häuschen einnickte, ging Bajo hoch in sein Zimmer. Auch die Schnatterwürmer waren während der Arbeitsphase zu kurz gekommen und hatten nur wenige Male bei Bajo naschen können. Oben angekommen ließ er sie gleich in sein Ohr. „Oh, wir dachten schon, du hättest uns jetzt ganz vergessen“, beschwerte sich Neli. „Ja, verzeiht mir bitte, aber mein Leben hieß ‚Arbeit‘, in der letzten Zeit, das wisst ihr ja“, entschuldigte sich Bajo, „Aber das Werk ist vollendet und ich werde mich wieder mehr um euch kümmern. Doch es gibt auch was Neues! Topao, von dem ich euch erzählt habe, hat Malvor im Traum gesehen und ich bin mir jetzt ganz sicher, er ist mein erster Gefährte!“ „Na, das ist doch wunderbar! Von dem, was du uns erzählt hast und von dem, was wir hier in unserer kleinen Behausung mitbekommen haben, deutet wirklich alles darauf hin“, freute sich Nela. „Was meint ihr, wie soll ich ihm das mit dem Gefährten nahebringen?“ Neli hatte leider keine hilfreiche Antwort für Bajo: „Das ist allein deine Entscheidung, da mischen wir uns nicht ein.“ Und Nela riet: „Warte einfach den richtigen Moment ab, du wirst es schon spüren, wenn der richtige Zeitpunkt da ist, vertraue dir selbst.“

      3.4 Die Frau aus dem Osten

      Nachdem sich die Schnatterwürmer satt gegessen hatten, ließ Bajo die beiden wieder zurück in ihre Behausung und machte in der Küche Tee und ein paar Schnittchen. Als er zurück ins kleine Gartenhäuschen kam, streckte sich Topao, der gerade wieder aus seinem Nickerchen erwacht war. „Na, geht’s besser?“, fragte Bajo. „Oh ja, das Schläfchen war das, was mir gefehlt hatte. Ah, Tee und ein paar kleine Happen, das ist jetzt genau richtig!“, erwiderte Topao. Nach der Stärkung machten sie sich auf nach unten, vor die Stadt. Bajo bog in einen kleinen Trampelpfad ein, der von der Hauptstraße abging, und führte Topao zu der Stelle, wo er seinen magischen Wurf geübt hatte. Er wies ihm, mit etwas Abstand, einen Platz zu und führte zunächst ein paar leichte Übungen mit dem Wuko aus. Als er sich bereit fühlte, holte Bajo aus und schleuderte das Wuko nach vorne. Mit einem unheimlich heulenden Geräusch flog der Kampfstab eine Runde und landete wieder genau in Bajos Hand. „Wow, so was habe ich ja noch nie gesehen. Was ist das bloß für ein Zauberding?“ staunte Topao sichtlich beeindruckt. „Wie gesagt, es ist ein Wuko, ein Kampfstab“, setzte Bajo zur Erklärung an, „Und was ich gerade gezeigt habe, war ein magischer Wurf. Ich habe ihn von einem Meister gelernt, einem Zauberer, der mein Lehrer war. Sein Name ist Malvor. Und jetzt kommt das Verrückte: Er hat einen grauen krautigen Spitzbart und einen dicken Pferdeschwanz, genauso, wie du den Mann in deinem Traum beschrieben hast! Wenn du dich doch nur an noch mehr erinnern könntest…“ Der heulende Ton des Wukos hatte Topao in eine merkwürdige Stimmung versetzt. Er starrte seltsam abwesend vor sich hin und murmelte: „Ich glaube er hatte ‚Folge dem Stab‘ oder sowas Ähnliches gesagt...“ Bajo kribbelte es am ganzen Körper, er war euphorisch und spürte eine Welle der Kraft. Er trat näher zu Topao heran, schaute ihm in die Augen und sagte: „Mir hat er aufgetragen, Gefährten zu suchen! Und ich bin mir sicher, dass du mein erster Gefährte bist!“ Nun stand der sonst so selbstsichere und unerschütterliche Topao etwas ratlos und mit leicht geöffnetem Mund da. „Ich verstehe. Ich meine, ich verstehe nicht ganz... Wieso Gefährte? Was sollen wir denn machen? Wohin sollen wir denn gehen?“, stammelte er, immer noch den Nachhall des heulenden Wukos in den Ohren. Bajo zuckte mit den Schultern: „Das kann ich dir nicht sagen, das weiß ich selber noch nicht. Als Malvor mich verlassen hat, gab er mir als letzte Aufgabe, acht Gefährten zu suchen.“ „Acht Gefährten? Und der wievielte bin ich?“, unterbrach Topao. „Na, sagte ich doch, du bist der Erste!“ „Und wieso hat dich der Zauberer verlassen?“, hakte Topao weiter nach. Etwas ratlos stand Bajo da und dachte laut nach: „Das kann ich dir nicht sagen. Eines Tages war er fort und hatte eine Botschaft hinterlassen. Ich glaube, er ist zum Sterben in die Kristallberge zu den Balden gegangen…“ Topao konnte es kaum fassen: „In die Kristallberge? Zu den Balden? In die Kristallberge kann kein Mensch gehen und Balden hat man seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen. Die Geschichte wird ja immer verrückter! Das ist irgendwie zu viel für mich Bajo…“ Dieser konnte die Verwirrung seines Freundes nur allzu gut verstehen und schlug vor: „Komm, lass uns zu der Stelle gehen, wo du mir von Schichtstadt erzählt hast. Das ist ein guter Ort, um dir meine wahre Geschichte zu offenbaren. Er packte Topao an der Hand und führte ihn zu der besagten Stelle.

      „Bevor ich dir alles über mich erzähle, musst du mir versprechen, mit niemandem darüber zu reden!“, begann Bajo, nachdem sie sich gesetzt hatten. Und Topao musste es sogar bei seinem Leben schwören. Zögernd machte sich Bajo daran, die ganze Begebenheit zu schildern: „Ich habe dir nicht ganz die Wahrheit über mich erzählt... Aber das tat ich nur aus Schutz, denn manche Dinge sollte man nicht einfach in die Welt hinausposaunen. Am Ende erfahren die falschen Leute davon und das kann böse enden. Da ich mir aber nun sicher bin, dass du mein Gefährte bist, will ich dich in meine ganze Geschichte einweihen.“ Und so erzählte Bajo von seiner Leidenszeit in Kontoria, von seinem Entschluss fortzugehen und wie er in den Grauenwald gelangte. Er beschrieb, wie Malvor ihn fand, wie er dessen Schüler wurde und was er alles lernte und erlebte. Bis hin zu seinem Kampf mit dem Rabukar und seiner Ankunft vor den Toren von Schichtstadt. Nur das mit den Schnatterwürmern ließ Bajo vorerst lieber weg, denn alleine das Wissen um sie konnte jeden in Gefahr bringen,