Ben Leo

Schattenhunger


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lange Zeit ein beschauliches Leben.

      Ich hatte viele Verehrer, doch eigentlich waren sie alle Idioten. In meiner Lehrzeit hatte ich mir viele Sprachen angeeignet, aber ich sehnte mich nach jemanden, mit dem ich mal wieder Malikisch sprechen konnte. Ich traf eine Frau aus Mondaha, die mit ihren Brüdern auf der Amüsiermeile in Kontoria ein malikisches Kulturhaus mit Taverne betrieb. Es lag zwar mitten in der Dirnengasse, aber das machte mir nichts aus, ich besuchte sie, so oft es ging, denn wir verstanden uns prächtig. Und als ich eines Abends auf dem Weg zu ihr war, fiel mir etwas Ungewöhnliches auf. Malvor hatte mich ermahnt, auf die Zeichen, die einem die Welt gibt, zu achten. Direkt über dem Kopf eines Mannes, der am Tisch seinen Kaffee trank, vollführten zwei Motten ihren Liebestanz. Ich machte also einen Schlenker, um mir das genauer anzusehen und staunte nicht schlecht, als ich auf dem Tisch ein Muster aus Zahnstochern liegen sah, welches genau dem Wappen des Kontors glich, in dem ich arbeitete. Nun wurde ich neugierig und fragte in der Not einfach nach einem Stück Zucker. Aber du, Bajo, der du da am Tisch gesessen hast, schautest mich nur wie ein trauriger, geschlagener Hund an. Es kam keine Reaktion, also ging ich weiter und vergaß die Sache wieder, obwohl ich etwas zwischen uns gespürt hatte. Nachdem du allerdings da, im Gerümpel unter dem Balkon lagst, war mir klar, dass du mir gezeigt wurdest. Dumm war nur, dass du meinen Freunden entkommen bist. Ich brauchte zwei Wochen, um herauszufinden, wer du bist. Und als ich dich besuchen wollte, konnte mir keiner sagen, wo du warst.“

      Durch Leandras Worte musste Bajo an Tante Nele denken und ihn überfiel ein Anflug von Traurigkeit. Doch da Leandra gleich mit ihrer Erzählung fortfuhr, hing er sofort wieder an ihren Lippen. „Einerseits war ich enttäuscht, andererseits war dein plötzliches Verschwinden aber auch ein weiteres Zeichen. Dieser Zwischenfall hatte mich aus der Bahn geworfen, ich wusste, dass es Zeit war, weiterzuziehen. Natürlich hielt ich noch eine Weile Ausschau, aber Stück für Stück regelte ich doch meinen Weggang und in diesem Frühjahr war es dann soweit. Da ich keinen blassen Schimmer hatte, wohin ich gehen sollte, entschloss ich mich, in mein Heimatland und dort nach Mondaha zu gehen. Am Eronsee musste ich die Kutsche wechseln, aber es war kein Platz mehr frei. Ich versuchte es einen Tag lang und musste sogar die Nacht über in eine Herberge gehen. Am nächsten Tag war es das gleiche Spiel, alles war ausgebucht. Ein netter Handlungsreisender riet mir dann, einen Umweg über Schichtstadt zu nehmen, was ich auch tat. Beim Umstieg hatte ich noch etwas Zeit und bummelte über den großen Markt und, was soll ich sagen, da stand der Herr und knabberte vergnügt an einer Kümmelstange! Von da an heftete ich mich an deine Fersen und sah auch, wie du heimlich mit dem Wuko übtest, das ich ebenfalls von Malvor kannte. Da konnte es keinen Zweifel mehr für mich geben, du musstest für mich eine Bedeutung haben! Ich musste also nur noch den richtigen Zeitpunkt abwarten, um mit dir Kontakt aufzunehmen. Als ich dann deine Geschichte mitanhörte, wusste ich, dass dieser Zeitpunkt gekommen war. Und den Rest kennt ihr ja“, schloss Leandra.

      „Ich kann es nicht fassen, dass du uns so unbemerkt verfolgen konntest“, ereiferte sich Topao. „Ich kann das ALLES nicht fassen!“, gab Bajo zu bedenken. Er war wie paralysiert und rief sich die Geschehnisse aus Kontoria nochmal in Erinnerung. Hätte Leandra es nicht erwähnt, hätte er nicht einmal mehr gewusst, dass er richtig schöne Muster auf dem Tisch gelegt hatte. In der längeren Pause, die nun entstand, baute sich eine unheimliche Spannung auf. Es war, als würde ein Gefühl plastisch werden und kurz vor einem Knall stehen, aus dem sich eine Wahrheit offenbaren würde. Auf einmal sah es Bajo glasklar vor Augen: „Natürlich, du bist ein weiterer Gefährte!“ Und gleich darauf fügte er hinzu: „Ich meinte natürlich Gefährtin. Ich Dummkopf, ich habe bei Gefährten immer nur an Männer gedacht!“ „Na du bist ja ein ganz Schneller…“, stichelte Leandra grinsend.

      „Wenn ich an deine Aufgabe denke, die Malvor dir gegeben hat, solltest eigentlich du die Gefährten finden. Aber Leandra hat da wohl eher dich aufgespürt…“, warf Topao ein. „Na ja, wir lassen einfach mal dein Schlamassel in der Kloake der Dirnengasse gelten…“, verteidigte Leandra Bajo. „Er hat mich halt gefunden, bevor er überhaupt von seiner Aufgabe wusste!“ Die drei lachten befreit auf und schauten sich gegenseitig an. Dabei wurden sie nun von einer kribbeligen Stimmung erfasst und wippten auf ihren Stühlen umher. „Wie soll es jetzt weitergehen?“, fragte Topao in die Runde. „Ich weiß nicht, ich finde das alles einfach nur aufregend“, antwortete Leandra, „ich habe mich lange nicht so gut gefühlt. Es ist manchmal auch ganz spannend, wenn man nicht genau weiß, was als nächstes kommt.“ Bajo stimmte ihr zu: „Das geht mir auch so. Ich bin einfach nur froh, dass ich euch gefunden habe und ich bin mir sicher, was auch kommen mag, wir werden das schon meistern.“ „Wir haben noch ein paar Tage, bevor hier die Belegschaft wieder einkehrt“, erklärte Topao, „Leandra kann für diese Zeit gerne ein Zimmer hier haben. Aber dann müssen wir uns was einfallen lassen. Ihr beide müsst euch irgendetwas anderes suchen. Ich muss noch bleiben und meinem Vetter die Räumlichkeiten präsentieren und habe dann die Ehre mit ihm zum Fest im Palast zu gehen.“ „Oh, du Glücklicher!“, schwärmte Leandra, „Einmal auf einem der berühmten Feste von Schichtstadt mitfeiern, das wäre was…“ „Es tut mir leid, Leandra, ich kann euch wirklich nicht mitnehmen, dass ich selbst dorthin darf, ist schon eine große Ausnahme“, bedauerte Topao. Doch Leandras Tatendrang konnte dies nicht trüben: „Lea, nennt mich Lea, schließlich sind wir ja jetzt Gefährten. Und doch. Bajo und ich werden auch dort sein, auch ohne deine Hilfe, darauf kannst du dich verlassen.“ Freudig rief Bajo: „Lea, Toppi, und Bajo weilen unter Königen, wenn das kein neues Abenteuer ist, dann weiß es ich auch nicht!“

      Beim Frühstück am nächsten Morgen war es ungewohnt für die beiden Männer, dass nun auch eine Frau dabei war und diese neue Situation sollte schon bald einiges verändern. Leandra bat Topao ihre Sachen in dem Gasthaus abzuholen, wo sie ein kleines Zimmer gemietet hatte. Es kostete sie sehr viel Kraft, sich ‚unsichtbar‘ zu machen, wie sie sagte, und sie wollte ihre Kraft lieber für die kommenden Dinge aufsparen. So gab sie ihm einen Brief mit, in dem sie sich für ihren spontanen Aufbruch entschuldigte und die Wirtin bat, Topao ihre Habseligkeiten auszuhändigen. Als er gegangen war, zog sie Bajo mit sich zur kleinen Bank vor dem Teehaus. Ein Bäumchen spendete ihnen dort Schatten, vor der schon heiß werdenden Sonne und sie konnten von da aus, den phänomenalen Ausblick genießen. Bajo bewunderte Leandras ruhige selbstsichere Art und ihre außerordentliche Schönheit. Nun schaute sie aber recht ernst, fast besorgt.

      „Du hast gesagt, dass Malvor zum Sterben in die Berge gegangen ist, wie kommst du darauf?“, ihr Tonfall war vorwurfsvoll und Bajo fühlte sich von ihrem plötzlichen Stimmungswechsel überrumpelt. „Ich weiß es nicht genau, ich habe ja auch gesagt, ich GLAUBE, dass er das getan hat“, verteidigte er sich. „Er überließ mir alle seine Sachen und ich musste das schöne Baumstumpfhaus vernichten. Nur das Valdeyak hat er mitgenommen und er war doch auch schon alt…“ „Pah, das heißt doch gar nichts! Bestimmt wollte er dich bloß loswerden und du hattest nur Glück, dem Grauenwald entkommen zu sein“, schnauzte Leandra. Völlig perplex starrte Bajo sie an: „Was ist denn mit dir los, Lea, was habe ich dir getan?“ „Was du getan hast? Malvor ist bestimmt an dir verzweifelt, weil du so dumm bist! Du hast ihm die letzte Kraft geraubt und ihn in die Berge getrieben. Du hast ihn mit deiner Dummheit getötet!“ Leandra konnte sich nicht mehr beruhigen und weinte vor Wut.

      Bajo verstand die Welt nicht mehr, am Tag zuvor war sie, wie ein Heilsbringer, in sein Leben getreten und jetzt machte sie ihm Vorwürfe, für Dinge, die er nicht einmal verstand. Er wusste nicht, was er tun sollte und wollte Leandra, die ihr Gesicht in den Händen vergraben hatte, den Arm um die Schulter legen und sie beruhigen. Doch bei der ersten Berührung sprang sie auf und schlug ihm mit dem Handrücken ins Gesicht. „Was? Willst du mich jetzt auch noch angraben? Willst du jetzt der große Meister sein und ich muss dir dienen?“, schrie sie ihn an. „Aber ich glaube nicht, dass Malvor tot ist! Es kann einfach nicht sein! Er hat mir versprochen, dass wir uns wiedersehen!“, vollkommen in Rage stampfte Leandra zurück ins Haus und ließ einen total verwirrten Bajo im Garten zurück. Er versuchte, sich selbst zu beruhigen, um einen klaren Gedanken fassen zu können. Da wurde ihm mit einem Mal klar, wie sehr Leandra an Malvor hing. Er war gewissermaßen ihr Ersatzvater gewesen und sie hatte wesentlich mehr Zeit mit ihm verbracht als Bajo selbst. Und nun hatte er behauptet, Malvor wäre tot, wo sie doch von der Hoffnung lebte, ihn wiederzusehen. Kein Wunder, dass sie so außer sich war! Auch wenn er sich selbst sicher war, dass Malvor nicht