Ben Leo

Schattenhunger


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Bitte. Dann wird alles gut.“ So liefen die beiden also mit ihren Körben, die sie für ihren spontanen Großeinkauf besorgt hatten, voran. Am Tor scherzte Topao noch mit den Wächtern, die er ja mittlerweile gut kannte. Das Palais war bereits in Sichtweite und sie freuten sich schon auf das Essen, als Leandra von hinten rief: „Hey, wartet auf mich!“ „Ach ja, da war doch noch was…“, meinte Bajo scherzhaft. Doch die beiden waren verblüfft, sie hatten Leandra in der kurzen Zeit völlig aus dem Gedächtnis verloren! „Ihr habt mich vergessen, nicht wahr?“, fragte diese, sehr wohl um die Antwort wissend. Die beiden schüttelten sich regelrecht und Topao fragte: „Was war das jetzt schon wieder? Ich habe tatsächlich für den Moment nicht mehr an dich gedacht!“ „Für die vierte Schicht gelten meine Papiere nicht mehr, deshalb musste ich mich ‚unsichtbar‘ machen, um durch das Tor zu kommen!“, entgegnete sie. „Du kannst dich unsichtbar machen?“, rief Bajo. „SCHsch, nicht so laut!“, zischte Leandra und schmunzelte: „Na ja, nicht wirklich unsichtbar, aber eben so, dass mich keiner bemerkt.“ „Und wie machst du das?“, fragten Bajo und Topao im Chor. „Das hat mich der Zauberer gelehrt und es ist mein Geheimnis!“, triumphierte Leandra wieder und eilte voraus.

      Die Sonne senkte sich zum Horizont. In der großen Küche duftete es nach gut gewürztem Fisch und Fleisch. Auch in der Küche hatte Leandra die Führung übernommen und nach ihren Anweisungen war ein Haufen von Vorspeisen, Salaten, Hauptgerichten und süßen Nachtischen entstanden. Topao und Bajo hatten sich merkwürdigerweise recht schnell damit abgefunden, dass diese Frau sich in ihr Leben gedrängt hatte und wagten es auch nicht, weitere Fragen zu stellen. Auf der großen Veranda wurden die vielen Speisen aufgetischt, alle drei waren sehr hungrig und freuten sich auf das Essen. Die Abendsonne tauchte die Szenerie in ein sanftes gelbes Licht. Für die Jahreszeit war es erstaunlich warm und die Luft war klar, sodass man sehr weit in die Landschaft blicken konnte. „Ist das Leben nicht wunderbar!“, rief Leandra in die Welt hinaus, vom Ausblick ganz entzückt. „Na, dann lasst es euch schmecken!“, sagte sie und lächelte in die ebenso glücklichen Gesichter ihrer beiden Begleiter.

      Das Essen war vorzüglich, „Also, du hast mich sowieso schwer beeindruckt, aber deine Kochkünste sind jetzt noch die Krönung!“, bemerkte Topao. Zwischen den Gängen unterhielten sie sich über die Stadt: welche Tavernen sich lohnten, wo es gute Sachen zu kaufen gab und was für kuriose Gestalten so herumliefen. Nachdem sich Topao noch ein kleines Stückchen vom süßen Pistazienblätterteig gegönnt hatte, fiel er erschöpft in seinen Stuhl zurück: „Puh, war das lecker! Aber das darfst du nicht so oft wiederholen, sonst kannst du mich am Ende aus dem Palais herausrollen!“ Bajo pflichtete ihm bei und Leandra schleckte sich zufrieden um den Mund. Nach einer kurzen Ruhephase unterbrach Bajo das Schweigen und wagte es, nun doch einmal nachzuhaken: „Du musst zugeben, dass wir sehr höflich zu dir waren und dich gewähren ließen. Aber ich glaube, du bist uns jetzt doch mal eine Erklärung schuldig, Leandra.“ „Na schön, dann will ich euch nicht länger auf die Folter spannen, was wollt ihr denn wissen?“, entgegnete diese. Sofort begann Bajo, sie mit Fragen zu löchern: „Na eigentlich alles, aber vor allem: Woher kennst du Malvor? Du hast anscheinend einiges von ihm gelernt, das heißt doch, er war dein Lehrer, oder?“

      Leandra setzte an zu erzählen: „Tja, das ist schon länger her, ich war noch recht jung, als er mich fand. Ich war ein nettes, bodenständiges Mädchen aus einem kleinen Fischerdorf, nahe den Salzfeldern an der Grenze zu Talikien. Eines Tages beschloss mein Vater, mit meiner Mutter, meinem Bruder und mir fortzugehen und in Mondaha ein neues Leben zu beginnen. Wir packten all unsere Habseligkeiten auf sein kleines Fischerboot und segelten die Küste hinab. Am zweiten Tag mussten wir ein paar Untiefen umschiffen und entfernten uns von der Küste. Ausgerechnet in diesem Moment zog urplötzlich ein Sturm auf. Der Wind wurde immer heftiger und mein Vater versuchte, irgendwie zurück zur Küste zu kommen. Doch dann geschah das Unglück; das Boot riss sich an einem Felsen, den man unter Wasser nicht sehen konnte, die ganze Seite auf. Im Nu waren wir gesunken und kämpften in den hohen Wellen um unser Leben. Dann weiß ich nur noch, dass mir die Zähne knirschten, vom Sand, der in meinen Mund geraten war, nachdem ich an einen kleinen Strand gespült wurde. Ich lief hin und her und hielt nach meinen Lieben Ausschau, aber auch als sich gegen Abend der Sturm gelegt hatte, konnte ich niemanden finden. Meine Familie habe ich nie wiedergesehen.“

      Leandra starrte traurig ins Nichts. Auch die Männer schwiegen betroffen. „Da saß ich dann und hatte nur noch mein zerrissenes Kleid. Der Strand war an einem großen Wald gelegen und es gab dort keine Menschenseele“, fuhr sie fort, „Ich legte mich in eine Mulde und weinte fast die ganze Nacht.

      Am nächsten Tag suchte ich nochmal alles ab, aber vergeblich. Das Schicksal hatte mir alles genommen! Ich heulte und schrie und verfluchte das Meer, als auf einmal ein Mann hinter mir stand. Ich erschrak und hatte Angst, doch wo sollte ich hin? Der Mann fragte mich aber ganz nett, was geschehen war und ich erzählte ihm vom Sturm. Ich klagte ihm mein Leid, dass alles verloren war und ich niemanden mehr hatte. Ich war verzweifelt und wütend und musste ständig weinen. Der Mann schaute mich eine Weile einfach nur an, bis ich mich beruhigt hatte. Dann sagte er, dass die Welt manchmal unerbittlich und hart sei, aber sie sei auch voller Wunder und Schönheit und ich müsse mich nun entscheiden: Entweder ich vergrübe mich in Trauer, Argwohn und Einsamkeit oder ich sähe das Unglück als einen Neubeginn meines Lebens, denn schließlich hatte der Tod mich ja verschont. Entweder würde er mich zum nächsten Dorf bringen und mich dort meinem Schicksal überlassen, oder aber er würde mich mitnehmen und mir die Welt aus seiner Sicht zeigen. Dafür müsse ich aber genau seinen Anweisungen folgen und es gäbe kein Zurück. Er beteuerte, dass er nichts Schlechtes im Sinn hätte und gut für mich sorgen würde. Ansonsten bliebe mir als letzte Möglichkeit nur noch, mich - dann aber gleich - in die Fluten zu stürzen und mein Leben zu beenden.

      Was blieb mir schon übrig? Auch wenn ich todtraurig war, ich hatte immer gerne gelebt. Die Aussicht, in irgendeinem Dorf als Magd zu schuften oder gar als Dirne versklavt zu werden, war noch schrecklicher als der Tod. Also willigte ich ein. Der Mann schien aufrichtig und nett zu sein und ich hatte nichts zu verlieren. Später erzählte er mir, dass er tief in den Wald geritten war, um dort seltene Kräuter zu sammeln. Er war ungewöhnlich früh von seinem Nachtlager erwacht und wollte gerade weiter auf die Suche gehen, als ein Möwenschiss auf seinen Hut klatschte. Er wunderte sich, denn dort wo er war, kamen die Möwen in der Regel nicht hin. So folgte er der Möwe, die auffällig langsam flog, als würde sie ihm Zeit geben, hinterherzukommen. Und als er mich dann einsam am Strand stehen sah, wusste er, dass Leva uns zusammengeführt hatte. Die folgende Zeit half ich dem Mann, der sich mir nur als ‚Malvor‘ vorstellte, Kräuter zu sammeln, die wir dann auf kleinen Märkten verkauften. Mit der Zeit lehrte er mich immer mehr Dinge und ich musste sogar eine Weile in ein Loch, um mein altes Leben abzuwerfen.“ Bajo schmunzelte, als er das hörte, auch wenn er wusste, dass er diese Aufgabe nicht wirklich gemeistert hatte. „Als ich damit fertig war, war ich ein neuer Mensch! Malvor sagte, die Tatsache, dass ich noch so jung war und alles verloren hatte, hätte mir geholfen, diese Aufgabe so gut und schnell zu bewältigen. Auch wenn ich meine Familie nicht vergessen habe und es mich etwas traurig macht, wenn ich an das Unglück denke, habe ich allen Ballast hinter mir gelassen und bin wirklich neu! Dann kam eine harte Zeit. Wir gingen erst nach Lundi im Süden, dann nach Ginochi im Westen und zum Schluss nach Kontoria. Der Zauberer schleuste mich in Bauernhöfe, Gasthäuser und Betriebe ein, ich musste mich überall bewähren. Ich wurde sogar manchmal von meinen Arbeitgebern geschlagen, wenn ich nicht parierte und musste von früh bis spät schuften. In Ginochi musste ich sogar betteln gehen. Malvor sagte, ich müsse mich immer daran erinnern, dass man eigentlich nur das nackte Leben hat, so wie ich damals am Strand. Und man solle sich dieses Lebens erfreuen, egal ob man in der Gosse schläft oder ein Kontor führt und von silbernen Tellern isst. Und das habe ich dann tatsächlich. Malvor kaufte ein heruntergekommenes Kontor und ließ mich dort alles lernen, bis ich den ganzen Laden alleine schmeißen konnte. Zum Schluss war es ein solides Unternehmen mit hohen Umsätzen, als er es wieder verkaufte.

      Diese Zeit mit dem Zauberer war zwar hart, aber auch schön und ich habe sehr, sehr viel gelernt. Eines Tages war er dann verschwunden. Ich war noch trauriger als damals am Strand, ich weinte und verzweifelte zwei ganze Tage lang! Doch ich fand einen Brief, in dem stand, dass ich fortan mein Leben alleine leben müsse. Und wenn ich es so machte, wie er es mich gelehrt hatte, würde ich ihn vielleicht wiedersehen.