Ben Leo

Schattenhunger


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      Erst am Nachmittag wachte er wieder auf, immer noch sehr erschöpft. Die Kleidung war fast trocken und er zog sich sorgfältig wieder an. An die Böschung gelehnt, kam Bajo eigentlich erst jetzt wirklich zu sich. Er dachte über den Kampf mit dem Rabukar nach. Weiß Gott fühlte sich Bajo nun nicht als Sieger! Zwar hatte er den ersten Angriff parieren können, was für ihn selbst eigentlich schon an ein Wunder grenzte, aber dass ausgerechnet dort, wo Bajo zu Boden ging, der spitze Ast gelegen hatte, welcher dem Tier zum Verhängnis wurde, war pures Glück. Wenn er sich die Situation vor Augen hielt, schauderte Bajo vor Unbehagen. Gewalt und Blut waren einfach nichts für ihn, es ekelte ihn an, schon immer. Dass er dieser absoluten Bedrohung entkommen konnte, hatte er etwas Höherem zu verdanken, da war sich Bajo sicher. Er musste an Malvors Worte über Leva denken und zum ersten Mal fühlte er sich mit dieser Macht verbunden.

      Wirklich Hunger hatte er noch nicht, auch wenn er eigentlich welchen hätte haben sollen. Trotzdem spitzte Bajo einen dicken Halm zurecht und legte sich an einer geeigneten Stelle auf die Lauer, um Fische zu fangen. Darin hatte er Übung, denn sein Heim in Helmershorst lag ja auch am Fluss und wenn Tante Nele mal wieder Lust auf Fisch hatte, jagte er sie sozusagen vor der Haustür. So dauerte es auch nicht lange und Bajo hatte vier kleine Barben gefangen. Nun hoffte er nur, dass die Feuersteine, die er von Malvor bekommen hatte, richtig durchgetrocknet waren. Mit viel Mühe gelang es ihm, das gesammelte Holz zu entzünden und an einem langen Stock grillte er die Fische. Zwei aß Bajo direkt und legte die anderen beiden für den nächsten Tag zur Seite. Das Feuer hatte er an einer geschützten Stelle gemacht, die von hohem Gras umgeben war. Da es bereits wieder dämmerte und er immer noch starke Schmerzen hatte, bereitete Bajo alles für die Nacht vor. Er entfernte einige Grassoden, da, wo er schlafen wollte, verteilte dort die Glut und packte die Soden wieder darauf. So blieb ihm noch für einige Zeit die Wärme von unten, die ihn auch rasch in wilde Träume versinken ließ.

      3.2 Ein Mann von Taten

      Sieben Tage waren vergangen, seitdem Bajo den Wald verlassen hatte. Er blieb an dem Ort, wo er angekommen war, um sich ein wenig zu erholen. Seine Wunde am Kopf war recht schnell verheilt und damit verschwanden die Kopfschmerzen ebenfalls. Auch die Kraft- und Wukoübungen hatte er wieder aufgenommen, und er fühlte, dass seine ursprüngliche Lebenskraft zurückkehrte. Wenn Schiffe vorbeifuhren, verbarg Bajo sich, denn bevor er sich nicht komplett erneuert fühlte, wollte er niemandem begegnen. Am Morgen des achten Tages war es dann soweit. Ein warmer Frühsommertag kündigte sich an und Bajo spürte, dass es Zeit war, aufzubrechen. Er hatte sich in der Zwischenzeit ein kleines Floß gebaut, auf das er nun alle seine Sachen lud. Splitternackt ging es jetzt schwimmend durch den Fluss, an einem Lederriemen das Floß ziehend. Drüben angekommen zog er sich wieder an und machte sich auf zu dem Weg, der nach Schichtstadt führte. Bajo musste nicht weit gehen und schon fand er sich auf einer breiten befestigten Straße wieder. Fuhrwerke mit Handelsgütern, zweirädrige Karren mit hochgestapelten Waren, einzelne Wanderer oder auch ganze Gruppen kamen ihm entgegen oder überholten ihn und wenn es angebracht war, grüßte er immer freundlich. Die vielen Menschen waren nach der langen Zeit im Wald ungewohnt für ihn, aber Bajo fing an, es zu genießen. Er studierte alles und jeden ganz ausführlich und genau, denn im Hinterkopf hatte er immer seine Aufgabe, Gefährten zu finden und das konnte er ja nur, wenn er auf Zeichen seiner Umgebung achtete. In der Ferne erkannte er jetzt die Stadt. Sie klebte wie ein riesiges Rechteck am Berg und Bajo brannte darauf, sie für sich zu entdecken. Als er sie fast erreicht hatte, setzte er sich erst einmal auf ein paar Felsen abseits der Straße, um sich ein Bild von all dem Treiben zu machen.

      Die Straße, auf der er gekommen war, wurde immer breiter und endete vor dem großen Stadttor mit zwei mächtigen Türen, von denen eine offen stand. Davor hatte sich eine lange Schlange mit Leuten gebildet, die offenbar hineinwollten. Links, in einigem Abstand, an der großen Straße, stand ein Gasthaus mit einer Taverne und einigen Ställen dahinter. Anscheinend konnten hier Handelsreisende und Fuhrmänner mit ihren Rössern eine Erfrischung oder ein Nachtlager finden. Noch weiter dahinter, ganz weit links, direkt vor der Wehrmauer der Stadt, lag der Hafen. Er war natürlich längst nicht so groß wie der in Kontoria, aber für den Personenverkehr und einige Waren reichte er wohl. Der Lärm, den man hörte, kam vom bunten Treiben eines gewaltigen Marktplatzes außerhalb vor der Mauer rechts von der großen Straße. Er zog sich, mit endlosen Reihen von Ständen, im Grunde auf die ganze Breite der Stadt hin. Noch ein ganzes Stück weiter rechts konnte Bajo unzählige Barracken und Bretterbuden ausmachen, die in den Hügeln verstreut waren. Oberhalb davon schienen etliche Mineneingänge zu sein, vor denen eine Menge Soldaten standen. „Das sind mit Sicherheit Gold- oder Edelsteinminen“, überlegte Bajo, „sonst wären die nicht so stark bewacht“. Die Stadt selbst machte ihrem Namen alle Ehre, es sah tatsächlich so aus, als hätte man die Häuserreihen aufeinandergestapelt. In der höchsten Schicht lagen die Palastanlagen, welche auch von weitem einen wunderschönen Eindruck machten. Links der Stadt schließlich sah man große Wasserfälle, aus denen auch der Fluss hervorging.

      „Na, dann auf ins Getümmel“, rief Bajo und kehrte zur großen Straße zurück. Am Ende der Menschenschlange angekommen, fragte er den letzten, der ihm nicht aus Likien zu stammen schien, ob er seine Sprache sprechen würde. Es war tatsächlich jemand aus Kornburg und Bajo fragte ihn, warum die Leute hier warten mussten. Dieser antwortete: „Na, du warst wohl noch nie in Schichtstadt, was? Hier kommt man nur mit Papieren rein!“ „Ah, und wo bekommt man Papiere?“, wollte Bajo wissen. „Das kommt auf dein Anliegen an. Ob du zu Besuch bist oder Arbeit verrichten willst. Ich habe eine Einladung meines Vetters, der, Gott sei es gedankt, ein Vermögen gemacht hat und nun in der Stadt residieren darf. Benötigt jemand deine Dienste, lässt er dir Arbeitspapiere zukommen. Nichts geht hier ohne Einlassdokumente!“

      Bajo bedankte sich und drehte enttäuscht wieder um. Jetzt stand er da, das volle Leben um sich herum und er hatte keinen Plan. Seit langer Zeit war Bajo mal wieder richtig niedergeschlagen: Wie sollte er seine Aufgabe angehen, wo waren die Zeichen?

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      Sein Magen knurrte und er entschloss sich, über den Markt zu gehen und etwas Leckeres zu essen zu kaufen. Er hatte ja seit Tagen nur gegrillten Fisch und ein paar Pilze gegessen und hatte jetzt richtigen Kohldampf auf Fleisch, Brot und Gemüse. Schon gleich am ersten Essensstand, wo ein Spanferkel gegrillt und dazu Mais mit gerösteten Kartoffelscheiben gereicht wurde, schlug er zu. An dem Stand gab es eine lange Holzbank mit einem ausgestreckten Tisch davor, wo man die Speisen verzehren konnte. Bajo hatte die große Portion geordert und genoss sein Mahl in vollen Zügen. In einem kurzen Anflug der Gier erwog er, einen Krug Met zu bestellen, doch er wusste, dass die eintretende Glückseligkeit nur von kurzer Dauer sein und eine lange, elendige Phase mit Selbstvorwürfen folgen würde. So gönnte er sich einen kalten Früchtetee und beobachtete dabei die Leute, die an ihm vorbeibummelten. Es war ein sehr gemischtes Völkchen, das sich da herumtrieb; aus aller Herren Länder und ganz offensichtlich mit unterschiedlichsten Anliegen unterwegs. So einige trugen Körbe mit Speisen wie Obst, Gemüse, Fleisch, Honig und Kräutern sowie Krüge mit Met, Wein und Säften. Bajo tippte darauf, dass es, auch vom Aussehen her, Bedienstete aus der Stadt sein mussten, die für ihre Herrschaften einkauften. Andere sahen so aus, als würden sie sich nur die Zeit vertreiben, bis sie der nächste Transport nach sonst wohin rief. Auch einige hagere und heruntergekommene Minenarbeiter waren unter ihnen, die unverhohlen und gierig auf das Essen der anderen starrten. Aber es gab auch gut gekleidete Leute, die wohl auf der Suche nach exklusiven, neuen oder kuriosen Dingen durch die Gänge streiften. Bajo sah Frauen und Männer verschiedener Rassen, groß und klein, hübsch und hässlich, arm und reich, freundlich und mürrisch. Und so interessant es auch war, sie zu beobachten - ein Zeichen, das konnte er nicht erkennen.

      Noch eine Weile zog Bajo über den Markt, bestaunte die Waren und Speisen, die angeboten wurden, oder erheiterte sich an den Gauklern, Narren und Dompteuren. Nach dem üppigen Mahl überkam ihn der Heißhunger auf etwas Süßes und er kostete an einem Stand von Pfannkuchenstückchen mit Brombeermarmelade. Nachdem Bajo auch davon eine riesige Portion verschlungen und seit Ewigkeiten mal wieder einen Muggefugg getrunken hatte, was wirklich eine Wohltat war, machte ihn das Sättigungsgefühl, trotz des Kaffees, schlagartig müde.