angeboten, weil sie doch für einige Zeit in ihrem Hause wohnen wird. Es siezt sich so schlecht am Küchentisch.
Vielleicht aber war gerade das der Anlass für Tiombe gewesen, über ihre familiären Dinge zu reden. Nicht gerade ausführlich; es war auch so schon bedrückend genug. Rita weiß jetzt, dass Tiombe über Ostern zu Hause bei ihrem Vater war, und sie weiß, dass sie nur noch den Vater hat. Zwischen den Worten und in ihren Gesten konnte Rita erkennen, dass sie ihren Vater nicht sonderlich liebt.
Die Stadt liegt schon lange hinter ihnen und Rita denkt über das Gespräch nach, das sie mit Tiombe geführt hat. Es war ihr vorgekommen, als sei es kein so angespanntes gewesen wie dieses.
»Hast du zu deiner Mutter noch regelmäßig Kontakt?«, fragt sie irgendwann.
»Er lässt es nicht zu«, kommt kurz. Zu kurz.
Rita wirft ihren Kopf herum, muss sich disziplinieren und auf den fließenden Verkehr achten. Dennoch wird ihr sofort klar, warum das Mädchen seine Fröhlichkeit hinter dieser griesgrämigen Maske verbirgt. Und sie kann sehr fröhlich sein, das hat Rita schon im Verlag kennen gelernt. Wahrscheinlich war es kein schönes Osterfest für das Mädchen. Falls sie ihren Vater wirklich nicht liebt, dann gewiss nicht. Wenn Rita doch nur einen Schimmer davon gehabt hätte.
»Wenn du reden willst, wir haben vierzig Minuten Fahrzeit vor uns.«
»Ich habe nicht das Bedürfnis über meinen Vater zu reden, falls du das meinst.« Endlich lächelt sie so engelsgleich, dass Rita alle Bedenken über Bord werfen könnte, lägen nicht Tiombes Hände verkrampft in ihrem Schoß, färbten sich nicht die Knöchel hell und nehme der Stoff ihrer Jacke nicht schon tiefe Knitterfalten an.
»Darf ich?« Tiombe greift nach dem Knopf des Radios und Rita weiß, dass damit jede Unterhaltung stirbt. Wenn überhaupt, dann sprechen sie ab jetzt über irgendein Lied, das man dort abspielt, oder über einen dieser hirnlosen Straßen-Kommentare, wie sie von den letzten Tagen vor Ostern noch in ihrer Erinnerung sind:
»Was halten Sie vom Fasten?«
»Was gefällt Ihnen am Frühling?«
»Glauben Sie an die Wiedergeburt von Jesus Christus?«
Ohne ihre Stimme zu heben, beginnt sie zu erzählen, was ihr gerade einfällt. Zuerst dreht das Mädchen das Radio leiser, dann ganz aus. Auf geheimnisvolle Weise bessert sich Tiombes Laune. Sie lachen und scherzen über die komische Sage, die Rita über den Spreewald eingefallen ist, über die Ochsen des Teufels, die ihm nicht gehorchten und das Land mit dem Pflug schrecklich zerfurchten, dass fortan das Wasser der Spree in Tausenden Fließen verzweigt durch die Wälder und Auen floss. Ab Burg zählt Rita die kleinen Brücken, unter denen fast unbemerkt Wasseradern verlaufen. Achtzehn allein zwischen Burg und Byhleguhre.
Nie zuvor ist ein Mensch so rasant aus bitterer Griesgrämigkeit zu einem liebevollen, freundlichen Wesen mutiert, das sehr rücksichtsvoll nach diesem und jenem fragt, dessen Augen funkeln und dessen schneeweiße Zähne blitzen, so oft es sie anschaut.
Als sie den Körberhof erreichen wechselt der Film. Rita und Jens haben ein Ritual vorbereitet. Sie begrüßen ihren Gast mit Brot und Salz, wie es üblich ist. Dann zeigen sie Tiombe das Gästezimmer im oberen Stock. Aus dem strahlenden Gesicht flieht nach und nach jeder Glanz.
Rita erinnert sich wie es war, als sie für drei Jahre in ein Internat musste. Nicht, dass sie allzu sehr an ihren Eltern gehangen hätte. Nein. Es war die ungewohnte Fremde, die sie für ein paar Stunden depressiv machte.
Sie nimmt Tiombe bei den Schultern und schiebt sie behutsam vor sich her:
»Na komm. Mach dich frisch. Gegen achtzehn Uhr essen wir«, Rita hebt die Schultern, »Timi muss früh zu Bett.«
»Mach ich«, flötet Tiombe, als sei sie noch immer gut gelaunt. Aber Rita sieht das verzerrte Gesicht und sie spürt genau, wie missmutig das Mädchen alles macht, was es sieht. Sie sagt nichts, ihre Augen spiegeln etwas Abneigung und etwas von Wut. Wogegen, das erkennt Rita nicht. Für eine verwirrende Minute ist sie davon überzeugt, Tiombe könnte nicht die sein, die ihr beschrieben wurde. Was, wenn sie eine von denen ist, die aus dem Verlag abgeschoben wurde, weil sie unbequem ist. Aufsässig. Reaktionär? Ist es ein Fehler, das junge Ding mit in ihr Haus zu holen? Es ist vielleicht nicht logisch, wie sie denkt, aber seit ein paar Tagen ist ihre viel gepriesene Logik Stück für Stück abhanden gekommen. Irgendwie hat alles mit Tiombe zu tun und irgendwie auch nicht. Tiombe ist schon seit einiger Zeit im Verlag, und manch einer lobt ihre Offenheit, ihre klaren Worte. Auch ihren Frohsinn. Und sofern das kein Speichellecken für Marquardt ist, sollte es ihr recht sein.
Noch immer grübelt sie, warum ihr die Verantwortung für Tiombe übertragen wurde. Wenn auch auf Zeit. Dahinter kann genau genommen jeder stecken, der ihr den autarken Job weitab vom Verlag nicht gönnt. Wie viele Neider gibt es wohl?
Einen ihrer Denkfehler macht sie schnell aus: Tiombe ist aus fremder kultureller Herkunft. Also wird sie nicht aus einer privilegierten Schicht stammen. Geht das mit dem Satz vom Bastard zusammen? Aber Tiombe kennt Marquard, den alle den Westfalen nennen. Wenn auch erst seit sie hier ist. So hat sie es zumindest gesagt. Mehrfach. Wenn es eine Seilschaft mit der Hautevolee geben würde, Mark hätte sie gewittert und ihr längst eine Wink gegeben. War seine Andeutung ein Wink, der auf den Westfalen hinweisen könnte? Warum hofiert der so erhabene Chef ein so junges Ding?
Keine Ressentiments, bitte. So sagt es der Westfale stets. Und sie gibt ihm Recht. Bisweilen können auch Chefs einmal für kleine Lichter die großen Gönner sein. Wenn sie erst einmal anfängt, einen unlauteren Zweck hinter ihrem Auftrag zu suchen, wird sie bald die Lust verlieren.
Freilich ist sie nicht sicher, ob ein anderer Kollege die Aufgabe abgelehnt hat. Sie ist ja weit weg. Immerhin hat Marquardt sie wissen lassen, wie er Tiombe beurteilt. Das allein ist ein sicheres Pfand. Dieser Westfale gibt sich keine Blöße. Und sein Fehlurteil wäre eine.
Ritas Sorge trifft auch nicht Tiombe. Wenn sie über etwas nachdenkt, dann ist es die Ausnahme, die man Tiombe gewährt. Erst das Volontariat, dann das Hochschulstudium. Wäre Tiombes Weg nicht ohnehin der bessere? Damit gäbe man dem jungen Menschen eine echte Chance, sich für das richtige Studium zu entscheiden. Mag sein, man denkt so. Vielleicht aber sind es doch Auswirkungen irgendeines Klüngels?
Das geht sie nichts an. Sie hat einen Auftrag zu erfüllen und dazu steht sie. Basta.
Warum erschrickt sie plötzlich vor ihrem eigenen Wort: Basta?
Am vierten Tag ist etwas wie Normalität im Körberhof eingezogen, der jetzt vier Menschen ein Zuhause gibt. Die Wohnräume liegen im Erdgeschoss. Oben haben Jens und Rita jeder seinen Arbeitsraum. Das obere Gästezimmer mit kleinem Bad und einer winzigen Dachkammer zeigt nach Süden. Ein Dachfenster zeigt zum Hof. Rita hat mit Jens vereinbart, was sie an diesem Abend zu tun gedenkt.
Tiombes Geruch liegt neuerdings hier unterm Dach. Sie hatte die Freiheit, das Zimmer nach ihrer Vorstellung zu ordnen. Die Vorhänge sind zur Hälfte zugezogen, obwohl vom Süden her kein fremder Blick möglich ist. Nur der Friedhof liegt hinter den Kiefern in zweihundert Metern Entfernung. Kein Laut dringt von unten herauf. Wahrscheinlich spielt Jens noch ein Weilchen mit Timi, bis er letztendlich ins Bett gehört.
Freilich hat sie Jens’ Augen gesehen. Klar muss er begeistert sein. Für ihn ist Tiombe der Engel in Person, freundlich, sanft und seltsam dankbar. Sogar Timi hat sofort einen Draht zu ihr gefunden, wenngleich er verdutzt über ihre braunen Arme strich, um die Farbe abzuwischen, von der er wahrscheinlich glaubt, Tiombe habe sie aufgemalt.
Rita sitzt wartend im Besuchersessel und schließt für einen entspannenden Moment die Augen. Ihr Körper wird weich und warm, ihre Züge gefällig mild. Eigentlich kann sie zufrieden sein, doch so zu denken, wagt sie nicht oft in den letzten Jahren. Zufriedenheit macht träge.
In ihrer eigenbefohlenen Ruhe spürt sie den leichten Luftzug über die Dielen fliegen. Tiombe öffnete die Tür. Nicht gerade zaghaft aber doch mit Respekt. Rita gibt sich einen Ruck, steht auf, geht ihr drei Schritte entgegen und öffnet ihre Arme. Zuerst ist es,