Maxi Hill

Zwei Seelen der Tiombe van R.


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zu unterbrechen. Es klingt ruppig, anders jedenfalls, als man es jetzt erwarten konnte. »Wer ohne Schuld ist, der werfe den ersten Stein, sagte der Herr.«

      Aus Tiombes Augen blitzt etwas wie Hass. Ist in dieser jungen Seele etwas Dunkles, etwas sehr Dunkles vielleicht, etwas Undurchsichtiges? Sie senkt ihre Stimme und zwingt sich zur Ruhe:

      »Das sagte der Herr, an den du nicht glaubst. Und was meint Tiombe Randhal?«

      »Lieber Gott, was sind das für Fragen?«

      »Der liebe Gott würde das niemals fragen. Er würde erwarten, dass du ihm ewig dankbar bist. Ich dagegen frage nur: Willst du mir etwas …«, Rita macht eine längere Pause. Bewusst. Doch umso eindringlicher fährt sie fort: » …von dir und deinem Vater erzählen, oder willst du es nicht?«

      Das mit dem Vater ist gewagt, aber es scheint sich zu bestätigen, was sie herausgehört hat. Tiombe hat Mühe, ihre Verwunderung zu verbergen, doch es ist auch deutlich, wie geschmeidig sie wird.

      »Bist du Hellseher?« Beinahe lächelt ihr Mund.

      »Nein. Aber wer dem Fremden helfen will, muss seine Sprache verstehen. Deine ungesagten Worte sind beredter als du glaubst.«

      »Das glaube ich nicht. Ich hoffe nur, dass du mich besser verstehst als Marquardt.«

      »Dann erzähl mir etwas, was ich verstehen kann.«

      Der Trotz in Tiombe ist noch nicht völlig verraucht, doch ihre Sprache wird sanfter. Erst recht, als Rita mit weicher Stimme versicherte, dass sie nur freimütig reden soll, oder gar nicht. Sie will sie um nichts auf der Welt bedrängen. Es dauert, und Rita will schon aufgeben, doch Tiombe besinnt sich anders.

      »Ich war schon immer anders, als ich sein sollte. Ein Bastard eben. Schon als Kind habe ich mir nur ganz einfache Sachen gewünscht - Gesundheit, satt zu essen, ein Fahrrad unterm Hintern, ein schönes Himmelbett. Das meiste davon hatte ich …« Sie stockt, doch Rita lässt ihr Zeit, bis sie gesteht. »Mehr als das. Viel zu viel.«

      Sie zieht ein Zellstoff aus der Tasche und zelebriert eine Geste, die überflüssig ist. »Gut. Die Gesundheit ist gelogen. Ich wünschte mir oft, krank zu sein, um beachtet zu werden. Meine Mutter hatte nicht viel Zeit für mich, hatte nicht einmal Zeit für sich … Aber wenn ich krank war, nahm sie sich Zeit.«

      Den Schuldigen dafür zu benennen, vermeidet sie, das ist der Punkt.

      »Und später?«

      »Später war ich einmal sehr krank und Mutter wäre daran fast verzweifelt.«

      Tiombes Blick wandert durch den Raum, aus dem kleinen Fenster, hinauf in das Stückchen Himmel, das es freigibt. Ihr Atem geht ruhig.

      »Und noch später«, traut Rita sich, die Gedanken des Mädchens zurückzuholen.

      »Später sind andere Wünsche geboren. Ein liebendes Elternhaus, das für mich da ist. Vertrauen und Gerechtigkeit«, schiebt sie allzu rasch nach. Auf eine vage Art glaubt Rita, etwas in Tiombe zu erkennen. Eine Bitternis? Eine Kränkung? Etwas Unerfülltes.

      »Was hat sich für dich nicht erfüllt?«

      Tiombe wirft ihren Körper herum, als streife sie die lästige Frage ab. Aber sie besinnt sich auch diesmal schneller als erwatet:

      »Habe ich eine Familie, die mich liebt?«, die Stimme wird cholerisch. »Haben wir vielleicht Gerechtigkeit? Nicht einmal Vertrauen. Man weiß nie, wer neben einem steht, Freund oder Feind.«

      Vertrauen also? Rita schaut sehr lange in feuchte, fiebrige Augen. Wie oft hat sie aus Kinderaugen Tränen weggeküsst, wie oft hat sie ihre Hand auf eine kleine, heiße Stirn gelegt und geflüstert: Mama ist bei dir. Und jedes Mal war die Mama froh, diese Augenblicke erleben zu dürfen. Doch da sitzt nicht ihr Kind. Da sitzt ein fremdes Wesen, das sich nicht unter die Haut schauen lässt, das sich vor jedem und allem schützen möchte. Obwohl nach außen hin alles von ihr abzuprallen scheint, ist sie im Herzen sehr verletzlich.

      »Du bist wie die Reinkarnation einer Schildkröte«, sagt Rita leise und hat wohl nichts bedacht, außer ihrer eigenen Unfähigkeit, unter Tiombes Panzer zu gelangen.

      Ein Zucken geht durch Tiombe. Doch dann lacht sie laut, beinahe hysterisch laut. Es gibt keinen Zweifel, sie hat einen Grund, etwas zu überspielen. Damit erklärt sich am leichtesten Tiombes Phase an Überdrehtheit, die oberflächlich gesehen als lebenslustig gedeutet werden kann. Inzwischen weiß Rita, Tiombe würde wahrscheinlich bei jeder Anschuldigung lachend weinen, aber sie würde nie verraten, wie es in ihr drin aussieht.

      Lächelnd legt sie ihre Hand auf Tiombes Arm und lauscht ins Nichts. Sie genießt die Berührung, die nicht immer geeignet ist, Zugang zu einem Menschen zu finden. Tiombe atmete bleischwer.

      »Es fällt dir schwer, über dein Leben zu reden. Gilt das auch für deine Gefühle?« Sie legt jetzt Wert auf Vertraulichkeit, die sich langsam auf Tiombe zu übertragen scheint. Wahrscheinlich ist es quälender Zweifel, der das Blut durch die jungen Adern treibt. Für einen Moment regt sich nichts, kein Muskel, keine Wimper. Nur schwerer Atem strömt aus der jungen Brust. Nach vielen Zügen beginnt Tiombe wieder zu reden, ohne Scheu, ohne Selbstanklage, ohne Schamgefühl, als hätte ein Engel ihre Zunge gelockert.

      »Ich bin die Schmach meines Vaters. Nur darum bin ich hier, wo mich keiner kennt – wo ihn keiner kennt. Hier muss er sich nicht schämen für mich.«

      »Kein Vater schämt sich für sein Kind.«

      »Ich bin ein Bastard. Das Abbild der Frau, die ihn verlassen hat. Die ihrem Befehlshaber den Befehl verweigerte und die ihr Kind im Stich ließ. Ich weiß, Mutter hätte mich nie … Er war es … Er wollte es so.«

      Sie hält inne, aber Rita ermuntert sie nicht. Der nüchterne Raum taucht ab im Dunkel des Abends mit der Gewissheit auf einen hellen, klaren Morgen. Unbewusst streicht Ritas Hand über Tiombes Arm. Sie verharrt, wie die Hand einer Mutter an der Stirn ihres fiebernden Kindes. In Tiombes Augen sammelt sich der Glanz einer reinen Seele, ein Glanz, den sie Tiombes Unschuld zugestehen möchte. Das schöne Gesicht vor ihren Augen verschwimmt, bis sich die kindlich suchende Hand fest um Ritas krallt, der junge Kopf sich anschmiegt. Diese Umklammerung spendet ihr Trost. Liebe. Hoffnung. Zuneigung. Vertrauen?

      Wie konnte sie erwarten, dass dieser Abend etwas bringt, was sie nie wollte. Tiombe tut ihr leid. Was das Mädchen einst liebte, hatte man ihr genommen. Die Mutter. Man hat ihr den Menschen genommen, der sie zu lieben glaubte, was doch nur ein verdammter Irrtum war. Mit ihrer Mutter hat sie verloren, was sie ein Leben lang lieben wollte.

      Vielleicht trägt sie nun selbst dazu bei, die Harmonie ihres Lebens zu zerstören, weil sie dem Vater alle Schuld gibt. Sieht sie die Zeit gekommen, wo sie zurückschlagen möchte?

      »Herrgott. Du bist erwachsen und kannst deine eigenen Wege suchen. Wir haben keine Leibeigenschaft und wir schreiben nicht 1220, wir schreiben 2012!«

      Tiombes Kehlkopf zuckt. Sie schluckt ein paar Mal den salzigen Geschmack ihrer Tränen herunter, die sie nicht losgelassen hat. Dann verharrt sie reglos; Es ist jetzt unheimlich still. Nur ein seidenes Knicken löste sich von Zeit zu Zeit aus den blassen Tapeten, die die alten Wände verjüngen. Rita wartet geduldig, doch Tiombe rührt sich nicht mehr. Ihr Atem geht ruhiger als zuvor.

      Das Knistern der Tapete verliert sich und Rita hat den Wunsch, sich zurückzunehmen für diesen Tag. Zeit sich etwas zu überlegen. Genau betrachtet steckt hinter Tiombes Leben ein kleines Türchen zu einem ungewöhnlichen Schicksal, das es mal wieder zu erforschen und aufzuschreiben lohnt. Hassen wird sie sich für ihren eigennützigen Gedanken nicht. Die Neugier gehört zu ihr, zu ihrem Beruf wie zu ihrer Passion. Neugier ist der einzige Weg, Wunder aufzuspüren. Und heute muss man als Romanautor schon mit einem Wunder aufwarten, wenn man gelesen werden möchte.

      Impuls des Lebens

      Die Worte des Abends rücken am Morgen in ein besseres Licht. Zum ersten Mal gibt ihr jemand die Gewissheit, sie zu mögen, ohne familiären Hintergrund. Einfach so. Seit Langem hatte sie kein solches