Sabina Ritterbach

das goldene Haus


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wird viel Geld hineingepumpt.

       "Mist", sagt er und gleichzeitig knackt wieder der Scheibenwischer. Aber wir sind zügig vorwärtsgekommen. "Ich komme so gern im Trockenen nach Hause". Im Trockenen nach Hause. Wenn es damals vor zehn Jahren trocken gewesen wäre, hätte ich ihn nie kennengelernt.

      Wie ein verwirrtes Huhn sauste ich damals in der Gegend herum, so, als suchte ich etwas. Ich glaube, ich suchte einen Platz, wo ich solange friedlich bleiben konnte, bis ich mich traute, über alles nachzudenken, über alles, was in dem letzten halben Jahr geschehen war. Ich musste über meine Zukunft nachdenken. Ich suchte also einen Platz, wo ich im wahrsten Sinne des Wortes zu mir kommen konnte. Mein ganzes Leben und besonders diese letzten Monate waren mit Aktivitäten vollgestopft gewesen. Man ließ mir keine Wahl, es musste so vieles geordnet und bewältigt werden. Der Tränenausbruch, der mich vor einigen Tagen überrascht hatte, zeigte mir, dass ich nicht nur körperlich, sondern auch seelisch ziemlich am Ende war.

      Ich machte Rast in einem Pub, saß auf einem Plastiksofa, vor mir der typisch winzige Tisch, trank Tee und aß ein Käsesandwich. Ein Paar betrat den Pub, setzte sich an die Bar und bestellte Bier. Sie unterhielten sich, und erst nach einer Weile wurde ich gewahr, dass es Deutsche waren. Neugierig hörte ich etwas genauer hin, und auf einmal hörte ich den Satz: "In Donegal gab es die wenigsten Touristen."

      Dieser Satz setzte sich sofort in meinem Gehirn fest. Ich kaute auf meinem Brot herum, und meine Phantasie begann zu arbeiten. Sie flog über ein leeres weites Land, über Wiesen und Felder, Moore und Klippen, ich sah weiße Strände und das Meer. Ich hatte ein Ziel.

       Auch unser Ziel ist nur noch eine Stunde entfernt, der englische Teil liegt hinter uns. Wir stehen an der Grenze, und Augenblicke später in Donegal. Das erste Mal auf dieser langen Fahrt berührt er meine Hand, biegen seine Finger meine Fingerspitzen leicht nach oben. Rasch bedecke ich seine Hand mit der meinen, so lange, bis er in den vierten Gang schalten muss.

       "Ich will mir das erhalten, ich brauche das", geht es mir durch den Kopf. "Was mache ich nur, wenn ich ihn nie wieder spüren kann?"

       Unser leichtes Gefährt donnert in die ersten Schlaglöcher, das könnte ihm den Garaus machen, die Achse brechen. Fort war der Regen, und die Sonne steht tief und blendet fürchterlich. Die Fahrt wird zum Blindflug.

       "Wir brauchen etwas zu essen", sagt er, und Minuten später trotte ich im Supermarkt hinter ihm her. Laute Weihnachtsmusik, Sterne, Kugeln, falsches Tannengrün, Krippen, das ist ein Schock. Betäubt lasse ich mich von ihm von einem Regal zum anderen scheuchen.

       "Holt dies, bring das, stell Dich schon mal an der Kasse an!" Er erledigt das meiste. Ich bin ihm dankbar, ich hasse Supermärkte.

       Seit zwei Jahren habe ich nicht mehr viel einzukaufen, nur noch fürs Wochenende, und auch das wird seltener. Die Kinder sind aus dem Haus, und immer öfter bekomme ich Anrufe wie: "Wir fahren nach Holland surfen", oder "Wir gehen zu einer Geburtstagsparty."

       Sie haben auch sehr viel für ihr Studium zu arbeiten, oft habe ich das Gefühl das lustige Studentenleben ist nur eine Legende. Sie fehlen mir. Manchmal bin ich ein wenig einsam, aber ich will nicht klagen, ich habe noch viel, ich liebe meine Arbeit, die brauche ich wie die Luft. Seit wir in die Jahre gekommen sind, habe ich noch engeren Kontakt zu meinen Schwestern, und natürlich gibt es Freunde, wenige, und Kollegen, und es gibt diesen Mann neben mir.

       "Schau den Himmel", sagt er, und ich bin entzückt.

       "Oh diese Farben", rufe ich, "sieh dieses Violett neben dem Gelb, und das Rosa neben dem Türkis".

       "Hört, die Malerin spricht, als würde sie Farblehre geben", dämpft er meine Begeisterung. "Ja", und nun die Romantikerin, "oh du holder Abendstern, sieh dort die Venus und die Mondsichel."

       Es wird nun sehr schnell dunkel, und die einmaligen Ausblicke von Hügeln, Bächen und dem großen Moorgebiet ahne ich nur noch mit dem Herzen. Alles werde ich stumm begrüßen, ich werde den EIfen und dem Geisterstein zunicken. Ich werde die Geister bitten, mich ein wenig glücklich sein zu lassen. Ich sitze da und warte, ich warte auf den Satz, der gleich kommen muss. Zwei Kurven will ich ihm noch Zeit geben, sonst sag ich ihn, ich lege noch eine Kurve dazu, und dann sagen wir den Satz als perfektes Duo: "Hab‘ ich es nicht gesagt, die Fahrt verging wie im Flug", und dabei lachen wir und lachen und freuen uns.

       "Ein paar Tage Ruhe, und Du wirst sehen, ich werde mich erholen, ich werde hier wieder mein Lachen finden, es muss hier irgendwo begraben sein", sagt er.

      Auch ich habe hier mein Lachen wiedergefunden. Das Lachen, das mir ganz persönlich gehört. Nicht das Lachen mit den Kindern, ich wollte, dass sie fröhlich sind, ich wollte ihnen Sicherheit geben. Ich lachte und sang, als ich unsere neue Wohnung einrichtete, sie sollten unser schönes Haus vergessen. Wir hatten Spaß auf der ersten richtigen Party zu Sonjas Geburtstag, sie wurde vierzehn, wir hatten Spaß, und ich lachte. Was machte es schon aus, dass Vati keine Zeit hatte, es machte uns gar nichts. Mein Lachen war fort, und ich wusste nicht, ja wie sollte ich denn auch wissen, dass es in Donegal begraben war.

      "Donegal", dieses Wort summte mir im Kopf, seit es die deutschen Touristen ausgesprochen hatten. Ich sprach es laut aus, ich flüsterte es und fuhr nordwärts. Eigentlich wollte ich zur Küste durchstarten, bog aber von der Hauptstraße ab und landete ganz plötzlich im Moor. Es traf mich ohne Vorbereitung. Ich starrte gebannt durch die Windschutzscheibe, und wie in Trance verließ ich den Wagen. Eine überwältigende braunrote Landschaft breitete sich vor mir aus. Die dicken weißen Wolken, die über den Himmel jagten, sorgten für ein fast dramatisches Licht- und Schattenspiel. Die Landschaft war dramatisch in ihrer Weite und totalen öde. Das wars, dafür war ich hergekommen. Ich war glücklich, dass ich das sehen durfte. Lange stand ich dort, und dann setzte ich mich ins Auto und fuhr mitten hinein in dies vielfarbige Braun. Ich fuhr sehr langsam, und dies verstärkte noch das Gefühl, dass diese Straße nie enden würde. Noch war mir niemand entgegengekommen, niemand hatte mich überholt. Immer wieder stieg ich aus dem Auto und lief ein Stück die Straße entlang, bog in einen dürftig befestigten Karrenweg ein, und dann sah ich die aus grauen Steinen gemauerte Brücke und den See. Auf der Brückenmauer sitzend blickte ich in das braune Wasser. Schilf wie Feenhaar und ein verrottetes blaues Boot. Es war mir nichts fremd, es war mir so vertraut, es war immer so, als wäre ich schon immer hier gewesen. Immer.

      Ich legte mich auf die sonnenwarme Mauer, ließ die Beine baumeln, versaute mir die Sandalen am matschigen Ufer, patschte mit den Füßen im braunen Wasser und redete laut zu mir selbst. Es stand dort ein thronähnlicher Stein, auf dem ließ ich mich nieder, ewig, bis sich auf einmal der Himmel öffnete und es wie aus Kübeln goss. Ich grabschte nach meinen Sandalen, und während ich zum Auto rannte, rief ich: "Ich komme wieder, ich komme wieder!"

       Die Einöde liegt hinter uns, der Scheinwerfer erfasst erst einzelne Gehöfte, die Besiedlung wird recht dicht. Wäsche flattert im Wind, die dicken Heubirnen und dann das vertraute Licht der großen Guinness-Reklame. Bei "Old Paddy" ist Hochbetrieb.

       "Eigentlich sollten wir", sagt er zögernd mit einem Blick auf die Reklame, "nein, wir fahren nach Hause."

       Eigentlich sollten wir, denke ich, ich mag Traditionen, und wenn etwas geschieht, immer wieder geschieht, nehme ich es als gutes Omen, es gibt mir Sicherheit. Wenn ich an dieser speziellen Bar sitze, mit dem dunkelbraunen Getränk und dem gelblichen Schaum im Glas, so trinke ich rückblickend alle Gläser, die ich hier schon einmal getrunken habe. Ich trinke meiner Vergangenheit zu, sie füllt den kleinen Raum, überall sehe ich uns. Fast immer glücklich.

      In diesem Pub landete ich auch, nachdem ich meine kleine Brücke so fluchtartig verlassen hatte. Dieser Wolkenbruch, der einfach nicht aufhören wollte, der es mir unmöglich machte weiterzufahren, der Weg war nicht zu erkennen, die Fahrbahn ein reißender Fluss. Das Dunkelgrau der Regenwolken ging in Nachtschwärze über. Es wurde sehr ungemütlich in meinem roten Auto. Ich fürchtete, dass es am Straßenrand stecken bleiben würde. Ich hatte Angst, dass jemand vorbeikäme,