Ulrich Mertins

Successfully downloaded: dich und andere Gemeinheiten


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schön: Hattest Du Sex?“

      „Das ist es ja eben: Ich hatte keinen. Birthe und Andrea haben es schon mit fünfzehn gemacht. Und ich alte Jungfer ….“

      „Nicole, du spinnst schon wieder. Du bist männergeil. Träumst von der großen Liebe. Schlag dir das aus dem Kopf. Die gibt es nicht. Denk doch nur an .“

      Mit Stefan war sie verheiratet gewesen; sie hatte sich sehr früh von ihm getrennt – oder er von ihr? - wegen seiner Affären. Dieser Umstand und ihre Vermutung, dass Nicole in Vorpommern nur schlechte Zukunftschancen haben werde, hatten dazu geführt, nach Hamburg zu gehen. Aber nach Papa gab es etwas noch viel Schlimmeres, das sie ihrer Tochter nie erzählen würde.

      „Papa? Das hast du ganz schön vermasselt. Meine einzige Erinnerung an ihn sind die wenigen Besuche, bei denen du ihn runtergemacht hast, bis er ganz unglücklich aussah. Wieso eigentlich? Ich hab ja nicht alles mitbekommen.“

      „Und das ist auch gut so. Allein seine sogenannten Dienstreisen … ach, ich will dieses Thema nicht.“

      „War er nicht Handelsvertreter? Da macht man doch Dienstreisen.“

      „Ach Nicole, lassen wir das.“

      Über Stefans Affären musste Nicole nichts wissen. Sie war froh, dass ihre Tochter sich offenkundig an nichts erinnerte, weil sie noch so klein gewesen war, denn andernfalls hätte sie kaum hin und wieder mit Interesse gefragt, wie er denn so war, der Vater. Nicole sah sie ungläubig und missmutig an und schwieg; sie hatte den Eindruck, als wolle ihre Mutter etwas verheimlichen, weil sie jedes Mal, wenn die Rede auf Vater kam, sofort das Thema wechselte. Schließlich erklärte sie leise:

      „Trotzdem mag ich ihn, wenn ich ihn auch kaum kenne. Vielleicht hat ja auch er noch Interesse an mir.“ Sie schwieg eine Weile. „Ich glaube nicht, dass er nichts mehr von uns wissen will; von mir wenigstens.“

      „Ich könnte dir noch einiges erzählen, aber ich mag einfach nicht.“

      Sie mochte tatsächlich nicht. Dieser Mann glaubte auch noch an Gott, das hatte er jedenfalls bei dem Beginn ihrer Partnerschaft mal gesagt; sie konnte es nicht fassen und versuchte ernsthaft, Stefan zu vergessen. Nicole sah sie irritiert an, aber ein unterschwelliges Gefühl – war es womöglich Selbstschutz? – hielt sie davon ab, Fragen zu stellen. Es gab nun eine zweite Nicole: eine, die mit dem Leben zurechtkam und es verstand, ihre Bedürfnisse und Sehnsüchte zu erfüllen, und die andere, reale, das ziemliche Gegenteil. Diese griff Sekunden später das Thema wieder auf, das sie im Augenblick am meisten beschäftigte.

      „Also, ich will keine Abenteuer. Sondern die wahre Liebe. Kevin ist total anders. Wahnsinnig gebildet und so. Nur ein bisschen schüchtern. Und verliebt in sein Smartphone, das er immer dabei hat. Ich muss ihm helfen, mehr Vertrauen zu haben. Ok, wenn er nicht drauf anspringt …“

      Elvira schüttelte kaum wahrnehmbar den Kopf, stöhnte und aß und dachte; sie dachte viel in letzter Zeit. Ihre Tochter trug noch den Namen ihres Vaters. Als sie sich vor nicht allzu langer Zeit um einen Wechsel kümmern wollte, äußerte Nicole den Wunsch, den Namen zu behalten, weil sie, wie sie sagte, eine gewisse Bindung zu ihm spüre, und weil ihr der Name so gut gefiel: Nicole Reventlow. Eigentlich von Reventlow, aber den Adelszusatz ließ sie stets weg, weil er nach ihrer Meinung nur unnötige Fronten schuf.

      „…. und dann ist da noch ein anderer Typ, scheint ganz ok zu sein, nur ein bisschen unförmig, aber hat immer so coole Sprüche drauf. Er hat mich gefragt, ob ich heute Abend komme. Immer, wenn er mich sieht, lächelt er ganz süß - obwohl das irgendwie nicht zu ihm passt, er kann manchmal recht grob sein und laut. Hat sich eine Glatze schneiden lassen; schade, vorher sah er besser aus. Er geht auf deine Schule, wir sehen uns aber regelmäßig im Sportcenter.“

      „Welcher andere nun wieder? Was ist denn heute Abend?“

      „Och, weiß nicht, irgendein Vortrag für Jugendliche oder so. Er bringt noch ꞌnen ganzen Haufen Leute mit, sagt er.“

      Elvira fragte nicht weiter, seufzte und aß. Während ihre Tochter weiterredete, überlegte sie, wie sie den heutigen Abend verbringen würde. Und den morgigen; neuerdings war sie meistens allein und lud keine Freunde oder Kollegen mehr nach Hause ein. Die sie auch nicht hatte. Ihr fehlte etwas. Sie wusste, was ihr fehlte. Glaubte es zu wissen. Doch wo sollte sie danach suchen? Oder hatte es etwas mit Burnout oder Midlife zu tun?

      Später hing auch Nicole ihren Gedanken nach, oben in ihrem Zimmer. Alle besaßen Smartphones, sie natürlich auch. Sie hatte es gemacht wie all die anderen: Darauf gestarrt, darauf eingetippt, als gelte es das Leben, irgendwelche Chats geführt mit Leuten, die sie nicht kannte und die sie nicht kannten, Musik gestreamt und nur mit halbem Ohr gehört, zusammengezuckt, wenn das Ding „Bling“ machte oder irgendeinen anderen Signalton von sich gab, weil das Neuigkeiten bedeutete. Kevin Breitenberg gehörte leider auch zu dieser Ständig-online-Sorte, obwohl er ihrer Ansicht nach dafür nicht der Typ dafür war; dafür war er einfach zu ruhig und zu … eben anders. Vor einiger Zeit hatte sie ihr Handy angestarrt und das Gefühl gehabt, es habe ihr gesamtes Inneres in sich aufgesogen, sie hatte sich nicht dagegen wehren können, es fühlte sich ähnlich an wie bei Harry Potter’s Dementoren. Man wurde zu Eis, alles Leben wich aus einem. Sie - das, was ihr Wesen ausmachte - sei nun in dem Phone. Sie wollte es wiederhaben, ihr Wesen, heraus aus den sprachlosen, nichtssagenden Chats. Sie hatte damit weitertelefoniert – nur wirklich sinnvolle Gespräche -, bis es irgendwann Pieptöne und Nachrichten von sich gab, weil es aufgeladen werden wollte. Die Pieptöne kamen in immer kürzeren Intervallen, noch zehn Prozent Akkuleistung, noch neun, noch acht, noch … Sie ließ es in Frieden sterben, ganz ohne Chats und Downloads. Am Abend legte sie es auf ihren Nachttisch, am Morgen blieb der Bildschirm schwarz. Auf Drängen der anderen beschloss sie dann, es wieder auferstehen zu lassen. Aber sie würde es nun nie mehr ständig bei sich tragen, und nein: sie würde nicht ständig erreichbar sein. Die vor ihrer Zeit hatten doch auch ohne gelebt. Und wahrscheinlich besser, als man heute glauben wollte. Nicole hatte sich auf diese Weise geoutet, das war ihr klar und wurde ihr ein paar Mal in der Woche auch gesagt; aber sie war glücklicher, lebte freier.

      3

      Der nächste Tag verlief besser, viel besser. Mirkos Klasse stand nicht auf ihrem Stundenplan, und Andreas Mühlstein hatte sich krank gemeldet. Sie fand zu ihrer alten Form zurück: engagiert und herzerfrischend. Zu Hause lag ein Strauß Rosen vor der Tür; ein Kurier hatte ihn dort abgelegt. Sie hob ihn verwirrt auf, dabei fiel ein kleines Kärtchen heraus. Sie las:

      Hallo Elvira, ich darf dich ja nicht mehr sehen und habe gegrübelt, wie ich dir trotzdem irgendwie nahe sein kann. Da bin ich auf das gestoßen, was Du jetzt vor dir hast. In Gedanken bin ich immer bei dir. In Liebe, Andreas

      Sie schluckte, aber unter die Empörung mischte sich ein Hauch von Rührung und Mitgefühl. Nicole stromerte sonst wo umher, am Abend wäre sie also allein, aber diesmal gab es reichlich Arbeit für sie. Sie studierte diverse Singlebörsen im Internet und durchforschte das Angebot an Männern. Männer im Download – verrückt eigentlich. Auf zwei dieser Portale meldete sie sich an und überlegte, unter welchem Mitgliedsnamen sie ihre Accounts führen wollte; ihr wirklicher Name sollte natürlich auf keinen Fall erkennbar sein, auch wenn es nur der Vorname wäre. Und so formten sich aus Elvira Levira, Velira, Rivela und schließlich – Valeri. Eigentlich ein russischer Männername, aber das machte die Tarnung nur noch perfekter. Es konnte ja auch eine Koseform von Valeria oder Valeriana sein. Valeri2019, weil Valeri selbst und diverse Zahlenkombinationen bereits vergeben waren. Die Stunden flogen dahin; laut Straßenwerbung verliebte sich alle elf Minuten ein Mensch in einen anderen. Ein Schriftsteller – oder war es ein Wissenschaftler gewesen? – hatte ermittelt, dass der Coitus mit ein bisschen davor und danach ebenfalls elf Minuten dauerte. Waren schon zweiundzwanzig, und zwischen Verlieben und Sex und womöglich sogar danach gab es sicher auch das eine oder andere – sie wollte die Sache humorvoll angehen. Jedenfalls hatte sie das Gefühl, es lohne sich, vor ihrem Bildschirm zu sitzen. Sie ließ sich in ihren Gedanken auch von Nicole nicht stören, die um Mitternacht nach Hause kam.

      „Willst Du diesmal gar nicht wissen, wo ich war?“

      „Nö. Du, ich brauch hier ein bisschen