Ulrich Mertins

Successfully downloaded: dich und andere Gemeinheiten


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ihrer Mutter zurück und spielte ihre Rolle weiter; das Ganze erschien ihr ohnehin als absurdes Theater, als eine Manie ihrer Mutter. Die ihrer Tochter zugleich einen neuen Vater präsentierte. Nee, danke.

      „Und … wie machst du das? Also, ich meine, du musst dir ja eine bestimmte Strategie ausgedacht haben. Es gibt doch tausende Anzeigen auf solchen Portalen.“

      „Was du nicht sagst. Und mit denen bin ich jeden Abend beschäftigt; so einfach ist das.“

      „Das habe ich noch nie probiert. Jeden Tag ein anderes Date. Wow.“

      Theaterspielen half auch gegen Übelkeit.

      „Mmh, ganz so leicht ist es nicht, liebe Tochter. Wenn du nur auf Sex aus bist …..“

      „Jaaa … warum nicht?“

      „……ist es einfach. Casual Dating-Börsen. Das reicht mir aber nicht, und ich will auch nicht jeden Tag einen anderen. Ich möchte einfach nur glücklich sein, weißt Du?“

      Nicole sah ihre Mutter irritiert an; sie konnte sich mittlerweile nicht mehr vorstellen, dass Sex allein ihr nicht ausreichen sollte, um glücklich zu sein. Nach ihren Beobachtungen der letzten Jahre litt ihre Mutter unter einer Spielart von Nymphomanie, obwohl sie nicht den Eindruck einer Leidenden vermittelte. Nicole stellte sich vor, nur so zum Spaß, wie sie im Internet eine Art Kevin finden könnte, der sie vollkommen verstand, liebte und bei alldem noch sie selbst sein ließ. Ihre Mutter schien ihre Gedanken zu erraten.

      „Du lass das mal schön bleiben; in deinem Alter findet man immer was auf normalem Weg.“

      „Sagst du. Das, was du machst, das ist heute der normale Weg. Unsere Zukunft.“ Sie grinste. „Wenn du was zu essen brauchst – Lieferservice. Neues Handy oder ein angesagter Fummel – fällt vom Himmel per Drohne. Neuer Partner – ein paar Mausklicks. Bleib sitzen, lass flitzen. Die Menschen werden immer fetter, passen nicht mehr durch die Haustür, und dann fragen sie Alexa oder sonst wen, wie sie morgens aus dem Bett kommen und sich die Schuhe binden sollen.“

      „Generation Download, ich weiß, ich seh’s ja jeden Tag im Job. Da gehen und stehen meine Schutzbefohlenen nun in gebückter Demutshaltung wie beim Gebet und huldigen ihrem kleinen fiependen Kasten, der ihnen sagt, wer ihnen geschrieben hat, was es an neuen Trends auf YouTube gibt, wo die nächste Party läuft, wo sie irgendwelche Freunde finden, die keine Freunde sind und die sie niemals treffen werden. Liken oder nicht – das ist hier die Frage. Influencer werden oder bloß Follower bleiben? Tja.“

      „Früher war alles anders – wolltest du das damit sagen? Ich denke ähnlich wie du, obwohl ich erst sechzehn bin. Aber einige Sachen sind schon recht cool.“

      „Wir - wir früher haben uns getroffen und miteinander geredet und nicht stumm auf ein Kästchen gestarrt, jeder für sich. Das Internet ist eine Hilfe in Situationen, in denen es mal nicht so gut läuft – so wie in meinem Fall jetzt -, weil es dir eine Auswahl verschafft von dem, was du möchtest; an diese Informationen käme ich ohne Web doch gar nicht heran. Na, zufrieden jetzt mit meinen Auskünften?“

      „Na ja, jeder versucht, irgendwie zu überleben; die Frage ist, warum eigentlich.“ Für einen Moment grinste Nicole nicht mehr, fand aber schnell in ihre Rolle in diesem tragikomischen Mutter-Tochter-Duett zurück. „Aber jetzt sag doch mal: Hast du schon einen an der Angel?“

      Elvira seufzte; aber warum sollte sie ihre Tochter eigentlich nicht einweihen? Konnte ja sein, dass ihr an einem Kandidaten etwas Entscheidendes auffiel, was sie selbst vor lauter Sehnsucht nicht bemerkte.

      „Peter. Ich treffe mich mit ihm morgen 15 Uhr an den Alsterarkaden.“

      Sie atmete hörbar aus, als habe man sie von einer schweren Last befreit.

      „Peter …. Und – wie ist der so? Also, schreibt er was über sich?“

      „Bis jetzt weiß ich so gut wie nichts über ihn. Er kann sich aber scheinbar recht gut ausdrücken – folglich dürfte er nicht ganz hirnlos daherkommen.“

      Das Grauen, das Nicole bei dem Gedanken an einen neuen Mann im Haus empfand, breitete sich in ihr aus. Solange sie keinen eigenen Platz nur für sich allein hatte, musste sie Herr beziehungsweise Frau der Lage bleiben, am besten auch der Lage ihrer Mutter. Irgendwie.

      „Hm … soll ich mitkommen? Immerhin gehöre ich ja auch zur Familie, also lernt er mich so oder so kennen.“ Nicole schüttelte bereits während ihres Einfalls den Kopf. „Nein, das ist doof irgendwie. Aber ich könnte mich im Hintergrund aufhalten. Falls irgendwas schiefläuft und du Hilfe brauchst oder so.“

      Ihre Mutter lächelte.

      „Ich denke, ich werde das Kind schon schaukeln. Lange will ich sowieso nicht bleiben; ich finde, eine Stunde ist für den Anfang genug.“

      Als am späten Abend beide mit sich allein waren, saß Elvira wie jeden Tag am Computer und recherchierte, selektierte, favorisierte Männer. Sie hatte ihrer Tochter nicht erzählt, dass sie ihre erste Pleite bereits hinter sich hatte. Ein Mann wie aus dem Bilderbuch, dazu intelligent und mit gutem Ausdrucksvermögen – sie hatte das für eine Art Anfängerglück gehalten, für Schicksal gar: Zwei Briefe von ihm hatten genügt, dass sie es kaum noch bis zu ihrem vereinbarten Treffen aushalten konnte. Als es dann so weit war, hatte sie sich dann zur Rathaustreppe begeben in einem knallroten Kleid, wie sie es vereinbart hatten. Nachdem sie eine geschlagene Stunde dort gewartet hatte – dummerweise hatten sie keine Handynummern getauscht, und dann setzte auch noch Regen ein -, dämmerte ihr, dass sie verladen worden war. Wütend und zugleich enttäuscht verließ sie den Ort und fragte sich, wer sie wohl aus sicherer Entfernung beobachtet, womöglich Fotos von ihr gemacht und sich anschließend den Bauch gehalten hatte vor Lachen.

      Auch wenn sie den Gedanken an das nun kommende nächste Treffen beiseiteschob, wann immer er sich zu Wort meldete, nistete sich klamme Nervosität in ihr ein, die alles erstarrte: Herz, Kopf und Hände. Um fünf vor eins erwachte sie beinahe wieder zum wirklichen Leben, als ihr Blick sich in einem Florian verhedderte, der gleich ein Dutzend Fotos von sich eingestellt hatte. Blond mit strahlend blauen Augen – aber das war es nicht. Was unterschied ihn von all den anderen? Beinahe verärgert grübelte sie über dieses Merkmal nach, bis es in ihrem Bewusstsein Gestalt annahm. Er wirkte – authentisch. Er war er selbst. Wann war ein Mensch authentisch? War nicht jeder Mensch authentisch? Herz und Sinne wussten Bescheid, aber dem Kopf fiel für das, was er wahrnahm – war es womöglich das erste Mal im Leben? – kein passender Begriff ein. Na gut, murmelte sie vor sich hin, lassen wir das beiseite; eine Unruhe erfasste sie, während sie den Ordner „Peter“ mit seinen Fotos öffnete. Weshalb eigentlich hatte sie Peter in die engere Wahl gezogen? Sie konnte sich nicht daran erinnern, ihn für authentisch befunden zu haben. Nachdenklich betrachtete sie nacheinander die Gesichter von Peter und Florian. Peter strahlte viel Selbstsicherheit aus, dazu das Lachen eines Siegers – aber ein sympathisches Lachen, keines, bei dem für den Betrachter zwangsläufig die Rolle eines Verlierers übrigblieb. Florian verkörperte eher den neuzeitlichen Mann, der keine Not hatte, eigene Unvollkommenheiten einfach zuzugeben, anstatt sie mit einer blitzend-weißen Zahnreihe zuzukleistern. Sympathisch, durchaus, gerade wegen dieser gewissen Hilflosigkeit in seinen Augen und seiner Gestik auf einem der Fotos. Dieser Mann durfte auch weinen, wenn ihm danach war. Sie ging schlafen und schon bald erschienen ihr beide Männer im Traum, der eine etwas unbeholfen, der andere siegessicher, nebeneinander, beide sahen sie direkt an. Elvira wälzte sich unruhig im Bett hin und her. Nie hätte sie geglaubt, dass dieses Thema ihr den Schlaf rauben könnte, und noch weniger, dass ein kleiner Bildschirm eine derartige Macht über sie bekäme. Es kam ihr vor, als bestimme das Web über Glück oder Unglück, Sinn oder Unsinn des Daseins, indem es einem Menschen auf dem Markt seiner Träume Erfolg bescherte oder den Untergang, weil er erkennen musste, dass er auf diesem Markt unvermittelbar war und für den Handel nicht taugte.

      5

      Kevin war in der Tat ein harter Brocken; oder, treffender ausgedrückt, eine Nuss, die man nicht knacken konnte. Nicole tat, was sie konnte, um seine Aufmerksamkeit zu gewinnen, und verband geistreiche Bemerkungen über die moderne Gesellschaft mit gewinnendem Lächeln und einem Outfit, das ihren Körper besser