Ulrich Mertins

Successfully downloaded: dich und andere Gemeinheiten


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Grund hier online bist. Warst Du jemals verheiratet oder hattest sonst eine feste Beziehung? Nichts muss, vieles kann; ich denke heute anders über diese Themen. Du schreibst, Papier ist geduldig; statt vieler Worte solle man sich lieber gleich treffen. Ist vielleicht auch besser – was nützt das ganze Geschreibe, wenn man schon beim ersten Treffen merkt, dass es nichts werden kann. Und in Geschichte warst Du früher einer der Besten und könntest dich mit mir auch darüber austauschen? Aber Du hast Recht – die einzig interessante Geschichte ist im Augenblick die unserer Zukunft. Ja, wie geht es nun weiter? Ich mache sowas ja zum ersten Mal - und hoffentlich auch zum letzten. Dann treffen wir uns eben. Hast Du eine Idee? Ich könnte mir die Alsterarkaden vorstellen, in ein nettes Café. Ich kenne da was …. Sag Bescheid, ob Du es gut findest. Passt dir Donnerstag um 15 Uhr am Café? Mein Bild habe ich dir freigeschaltet, damit Du weißt, was bzw. wer auf dich zukommt Ich freu mich, bis dann,

      LG, Elvira

      Er durfte ihren richtigen Namen gleich erfahren. Sie zögerte, bevor sie den Brief abschickte. Hatte sie bereits zu viel von sich erzählt? Und der Treffpunkt? Sie wäre gern woanders hingegangen, aber unter diesen Umständen musste es dort stattfinden, wo sich viele Menschen aufhielten, und zwar am helllichten Tag – man wusste ja nie. Sie käme mit der U-Bahn, damit er sie nicht zum Auto bringen und womöglich mehr über sie herausfinden konnte, als ihr lieb war. Ihr Zeigefinger kreiste über der Taste. Schicksal, nimm deinen Lauf – und der Brief war verschickt. Vorfreude gilt bekanntlich als die schönste Freude, aber wenn sich ein Bewerber nach dem anderen als Flop erwies? Sie ahnte, dass sie jedes Mal mehr Mühe hätte, eine Krise abzuwenden, die durch die ständige Wiederholung des Wieder-allein-Seins entstand; bereits der Gedanke daran, auch auf diesem Weg nur eine Reihe von Mühlsteinen ans Tageslicht befördert zu haben, verursachte ihr Übelkeit und dieses ihr nur zu gut bekannte Gefühl der Leere. Sie hätte sich ebenso gern erst in einem Monat getroffen. Die Spannung, eine Liebe, aufkeimende Hoffnungsschwangerschaft – allein die Freude auf das Treffen zählte. Und wenn dann der große Tag kam, würde man weitersehen. Irgendwie. Vielleicht meldete er sich sowieso nicht mehr, dann wäre all die Grübelei umsonst gewesen. Es war spät geworden, aber das hinderte sie nicht daran, sich weiter auf dem Portal umzusehen. Wenn es mit Peter crashte, hätte sie durch ihre Suche vielleicht schon einen Ersatzkandidaten auf Lager, der ihr neue Vorfreude generierte; es war gut, mehrere Eisen im Feuer zu haben. Vielleicht sollte man es beim Schmieden belassen, ohne je ein fertiges Stück aus dem Feuer zu holen, dachte sie. Ihr fiel das Bild des Reiters auf dem Esel ein, der dem Tier eine Karotte oder eine andere Köstlichkeit vor sein Maul hielt; der Esel rannte ohne Unterlass, aber die Karotte erreichte er nie. Schnell verdrängte sie das Bild und setzte ihre Suche fort. Nur wenige Minuten später erhielt sie Peters Antwort: Der Termin würde ihm passen, und er freue sich auf das Treffen.

      Man soll einen Menschen ja nicht nur aufgrund seines Aussehens bewerten oder gar verurteilen, überlegte sie kopfschüttelnd, aber beim Anblick der Fotos blieb ihr in gefühlten neunzig Prozent der Fälle nichts anderes, als schnell weiterzuklicken. Gesichtern mit groben oder gar keinen Zügen, denen man ansah, dass sie selten oder nie oder an der falschen Stelle lachten, wurde ein irgendwie freundliches Lächeln anerzogen. Andere Bilder zeigten mehr als nur Gesichter - das, was ihr Inserent als für den Erfolg an dieser Kontaktbörse offenbar für entscheidend hielt und von dem Betreiber der Website für gerade noch vertretbar erachtet wurde. Sie stöhnte. Sie hatte diverse Suchfilter aktiviert und kam immer noch auf 178 Wesen, die perfekt zu ihr sollten passen können. Die Tage vergingen, der Donnerstag kam näher – und mit ihm Peter. Und die inneren Stimmen, die ihr klarzumachen versuchten, wie albern das ganze Unternehmen sei. Noch versuchte sie, das Thema einfach auszublenden, doch blieb ihrer Umwelt nicht verborgen, dass sie abwesend wirkte, wie aus einer anderen Welt. Am Mittwochabend war es anscheinend besonders schlimm; beim Essen griff Nicole das Thema auf.

      „Sag mal, du bist seit einiger Zeit so anders. Ständig müde, Ringe unter den Augen, sagst kaum etwas …. Was ist denn das für eine wissenschaftliche Arbeit? Oder suchst du einen neuen Job, weil es in der Schule nicht klappt? Immerhin sitzt du ja jeden Abend stundenlang vor deiner Kiste und igelst dich ein. Was ist eigentlich los mit dir?“

      „Ach, das ist nichts weiter …. Das geht vorüber, glaub mir.“

      Ihr müdes Lächeln mit den dunklen Augenrändern war erschreckend. Nicole beobachtete sie aufmerksam.

      „Der Abend neulich …“, begann Nicole zögernd, „du weißt schon, mit dem etwas Unförmigen – obwohl er gar nicht so unförmig ist bei näherem Hinsehen …“

      „Was ist denn mit dem?“, fragte Elvira entnervt.

      „Der Abend war spitze. Erst haben er und zwei andere Typen geredet – der kann reden, sag ich dir …“

      „Worum ging es denn?“

      „Äh …. Es hatte was mit uns zu tun, also mit Schule und so. Seiner Ansicht nach würden wir jahrelang nur zu willfährigen Sklaven der Herrschenden erzogen, ohne eigene Bildung und in dem Glauben, dass das Benutzen des eigenen Verstandes sinnlos ist. Diktatur der Toleranz, hat er gesagt, glaub ich. Wir würden dazu erzogen, alles gut zu finden in der Gesellschaft: Jeden Glauben, jede Politik, Homos und Lesben, Ausländer, die uns ihre Lebensweise aufzwängen …. Der kann reden, sag ich dir. Ich hab nachher nicht mehr hingehört, weil ich mich mit zwei Mädels unterhalten habe, die auch hin und weg sind von ihm. Auch wenn er nicht ganz so gut aussieht wie andere. Und anschließend ging so richtig die Post ab. Kevin war auch da, ist aber bald abgehauen, weil ihn das alles nicht interessiere, sagte er.“

      Elvira, deren Augen sie mittlerweile nicht nur müde, sondern auch sorgenvoll ansahen, fand für einen Augenblick aus ihrem Männersumpf zurück in die Gegenwart.

      „Und was folgt aus alledem? Die Diktatur der Intoleranz? Das gab es allerdings schon öfter, besonders originell fände ich es nicht.“

      „Nee, er meint …. Wie soll ich das rüberbringen ….. kann eben nicht so reden wie er ….. also, man sollte alles, was uns zu Sklaven erzieht, zerstören oder so. Der ganze Saal hat applaudiert, als er fertig war.“

      „Wie heißt denn dein etwas Unförmiger, der bei näherem Hinsehen gar nicht so unförmig ist?“

      „Das ist …. Oh, nee, diesmal nicht. Du trägst alle meine Freunde in eine Liste ein und spielst sie nacheinander gegen mich aus gewissermaßen, für jeden erfindest du einen Grund, weshalb ich nicht mit ihm zusammen sein sollte. Seinen Namen sag ich jetzt nicht.“

      „Niemand zwingt dich dazu. Pass aber auf, in welchen Kreisen du dich da bewegst. In deinem Alter hat man normalerweise andere Interessen als Revolution.“

      „Du nun wieder ….. Über mich weiß er nichts bisher, nur, dass ich Nicole heiße; ist doch ganz entspannt. Aber jetzt du mal. Du sitzt also nächtelang vor der Kiste – so viele Jobs gibt’s doch gar nicht, die für dich in Frage kämen, oder? Also, was machst du wirklich?“

      „Ist das hier ein Verhör?“ Elvira hatte nicht das kleinste bisschen Lust, mit ihrer Tochter über dieses Thema zu reden. „Ich kann wohl immer noch machen, was ich will in meiner freien Zeit. Ok?“

      „Ist gut, ist ja schon gut. Außer, dass unsere Kleinfamilie sich in ihre Bestandteile zerlegt. - Du suchst nach etwas, richtig?“

      Elvira zuckte unbeteiligt mit den Schultern.

      „Ihn. Du suchst einen Mann, oder? Deshalb brauchst du dich doch nicht zu verstecken oder so.“

      Elvira atmete tief ein und aus.

      „Ja, nun weißt du es; ein Mann soll es sein.“

      „Aber wir kommen doch prima ohne zurecht ….“

      „Ach Nicole, das kannst du nicht nachempfinden – und wirst es hoffentlich auch nicht in deinem Leben. Ich bin zu lange allein gewesen. Es ist jetzt an der Zeit, sich zu verändern. Und du hast doch auch deine Freunde, oder?“

      Nicole sah ihre Mutter mit ängstlichen Augen an.

      „Tja, wäre Papa noch bei uns, hättest du diesen ganzen Stress nicht …“

      Weiter wagte Nicole nicht zu