Ulrich Mertins

Successfully downloaded: dich und andere Gemeinheiten


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das Letzte, was Nicole sich wünschte. Freundlich war langweilig. Oder sogar verletzend, weil der Betreffende dadurch auch zum Ausdruck brachte, dass sie es nicht schaffte, ihn in ihren Bann zu ziehen.

      „Hättest du Lust, mit mir zum Hafen zu fahren?“, sprach sie ihn in der großen Pause an. „Da läuft eine Kunstausstellung im Alten Tunnel, nur ein paar Tage. Hinterher machen wir’s uns gemütlich irgendwo, trinken was und so weiter ….“

      „Da will ich gleich mal schauen, was heute so anliegt“, erklärte Kevin lächelnd und tippte auf seinem Mobiltelefon herum. „In einer Ausstellung war ich lange nicht.“

      „Das Ding hast du wohl immer dabei, oder? Hast du so viele Termine?“

      Er sah sie unsicher an.

      „Nur Spaß.“

      Nicole verdrehte – für ihn nicht erkennbar – ihre Augen, als ihr eigenes Telefon klingelte, das sie heute mal mitgenommen hatte.

      „Oh, Mirko …. hi. Was gibt’s Neues?“

      Kevin flüsterte ihr zu, dass er um sechzehn Uhr Zeit habe, lächelte freundlich und verschwand, während sie konzentriert zuhörte, was der Anrufer zu berichten hatte.

      „Echt, die haben dich gefeuert? Und du weißt, wer dahintersteckt? Wie heißt die nochmal …. Elvira Sinsheim ….?“

      Nicole biss sich auf die Lippen und war vorerst froh, dass Mirko nichts weiter über sie wusste als ihren Vornamen.

      „Okay, wir können uns ja mal treffen …. Nee, heute nicht, ich komm nicht zum Sport, hab ꞌnen Termin. Was? Das geht dich nichts an, klar? Morgen? Ok … nee, nicht bei mir zu Hause, lass uns in der Stadt treffen …ok, bis dann.“

      Die Pause war vorüber, und wie in Trance lief sie zurück in die Klasse. Mirko hatte sie mit Phrasen überschüttet; wollte ihre Mutter kaltstellen, wie er sich ausdrückte. Scheiße – jetzt dämmerte es ihr. Er war einer von diesen Neos. Wie konnte sie so dämlich sein, das nicht zu bemerken? Sie hätte wohl besser darauf achten sollen, was er neulich beim Treffen erzählt hatte. Er hatte aber meistens normale Klamotten an, wenn sie ihn traf; also nichts Militantes. Wenn er von der Schule geflogen war, hatte er folglich den ganzen Tag Zeit. Zeit, um ihr aufzulauern und sie auszuspionieren. Dann würde er in Kürze wissen, wo sie wohnte. Scheiße.

      6

      Ihre Unruhe vom Vortag war leider nicht verschwunden, obwohl sie sich immer wieder einredete, dass es keinen Grund zur Aufregung gäbe, und dass das Treffen mit diesem Peter absolut freiwillig geschah – sie selbst hatte es ja so gewollt; wie konnte man dann Angst davor haben? Dieses Mantra ihres Verstandes konnte jedoch nicht verhindern, dass sie sich nach dem Unterricht zwingen musste, nach Hause zu gehen; als wäre es der Gang zum Richtplatz. Nicole war noch nicht da. Sie ging in die Küche, um sich ein Brot zu machen, das sie dann liegen ließ; sie hatte keinen Appetit. Außerdem wollten sie nachher noch Kaffee trinken. In der U-Bahn ärgerte sie sich weiter über ihre Ängstlichkeit. Dies kann ein wunderbarer Tag werden, dachte sie, der Beginn eines neuen Kapitels in meinem Leben – und du scheißt dir in die Hose. Sie versuchte ein Lächeln; in etwa zwei Stunden wäre alles vorbei. Vielleicht sogar noch schneller. Wenig später saß sie im Außenbereich des vereinbarten Cafés in der Nähe der ihr so vertrauten Binnenalster; die Sonne schien ihr ins Gesicht, und eine leichte Brise sorgte für ausreichende Kühlung. Sie ließ wie unbeabsichtigt ihren Blick kreisen; Peter war nicht da, aber es war auch noch nicht ganz drei Uhr. Sie bestellte sich ein Mineralwasser und beobachtete die Passanten, die an den Tischen vorbeiliefen. Die meisten hatten es anscheinend eilig, irgendwo anzukommen; heutzutage war alles eilig. Plötzlich warf etwas einen Schatten auf ihr Gesicht.

      „Ich nehme doch an, Sie sind … Elvira. Ich bin Peter, guten Tag.“

      Sie sah in das Gesicht eines hochgewachsenen, schlanken Mannes, der vor ihrem Tisch stand. Er trug sportliche Kleidung und das Siegerlächeln wie auf dem Foto.

      „Hallo“, erwiderte sie leise, als wäre es ihr peinlich, wenn die Gäste an den Nebentischen bemerkten, welchem Zweck dieses Treffen diente. „Ich bin es.“

      Eine Weile verharrten sie schweigend in ihrer jeweiligen Position. Soll ich ihm die Hand reichen, dachte sie – nee, macht er ja auch nicht.

      „Aber bitte, setzen Sie sich doch“, bedeutete sie ihm mit einer einladenden Handbewegung, froh, als Erster schon mal etwas gesagt zu haben.

      Er setzte sich in angemessenem Abstand neben sie.

      „Waren wir nicht schon beim ꞌDuꞌ angekommen?“, fragte er mit verschmitztem Lächeln.

      „Ach, ja, natürlich, entschuldigen Sie… entschuldige bitte, Peter.“

      Ihren Vornamen hatte sie ja bereits preisgegeben. Aber wer war schon Elvira? Elviras gab es öfter mal in einer Stadt wie Hamburg, in der es auch etliche Spanier gab, denn aus Spanien stammte ihr Name; aber auch Menschen aus dem Osten vergaben ihn manchmal.

      „Nur kein Stress, Elvira.“

      Woher wusste er, dass sie Stress hatte? Es war ihr unangenehm, wie er sie unentwegt ansah, ohne etwas zu sagen, als wolle er mit Röntgenaugen in einer Minute alles über sie erfahren. Aber es war kein gefühlloser Röntgenblick, sondern eher das beglückte, noch ungläubige Lächeln eines Wanderers, der nach langer Zeit schließlich sein Ziel erreicht hat.

      „Tja …. und jetzt?“

      Sie sah ihn erwartungsvoll und ein wenig amüsiert an; mittlerweile war sein Lächeln in den Siegermodus zurückgekehrt, offenbar eine Art Grundeinstellung, mit der er wahrscheinlich alle seine Ziele ohne Mühe erreichte. Eine spontane Gegnerschaft entflammte in ihr – mich wirst du nicht so einfach erreichen, wie du es dir vorstellst, dafür sorge ich.

      „Ich schlage vor, wir bestellen erst mal was dem Anlass Angemessenes. Sekt statt Selters.“ Er wies schmunzelnd auf ihr Wasserglas. „Was möchtest du?“

      „Bei mir knallen die Korken eigentlich erst, wenn etwas gut und in meinem Sinn gelaufen ist. So weit sind wir ja noch nicht.“ Sie versuchte vergeblich, seine Siegerfratze aus dem Gesicht zu jagen. „War nur Spaß. Etwas Angemessenes. Aber für mich bitte trotzdem keinen Sekt; einen halbtrockenen Weißwein. Und essen wollte ich auch eine Kleinigkeit.“

      „Natürlich, klar. Drinnen haben sie herrliche Torten.“

      Wie er sie jetzt ansah – liebevoll, fürsorglich, freundlich. Jetzt, kam es ihr in den Sinn, jetzt ist er authentisch. Auch ihr Blick jetzt freundlich. Erstes synchronisiertes Lächeln auf dem Weg zum Tortenbüfett. Wieder zurück am Platz, ergaben sich die Gesprächsthemen wie von selbst; die Anspannung war von Elvira abgefallen, es waren sicher die immer gleichen Themen, über die man sich unterhielt, wenn man vorhatte, zwei Lebenswege zu einem zu verbinden. Familie – er war bereits einmal verheiratet gewesen; Kinder – er hatte keine mehr; Beruf – er war selbstständiger Berater, wofür genau, war ihr unklar geblieben; Hobbies und Leidenschaften – er liebte das Wasser und träumte von einem Boot, das er sich kaufen wollte, er reiste gern und oft, und er hatte ein Faible für schnelle Autos; eigene Persönlichkeitsmerkmale – sie mit einem für das Überleben in einem Haushalt erforderlichen Mindestmaß an Ordnungssinn, er der Künstlertyp, der hier und da Sachen liegen ließ, weil das Ordnung halten viel zu viel Lebenszeit vernichte - hier kamen die ersten Lacher; und nicht zuletzt die Historie der letzten Partnerschaft und die Erwartungen an die neue. Ihr hätte es gefallen, die Eindrücke dieser Stunde zwischendurch einfach einmal auf sich wirken zu lassen, aber er redete ohne Unterlass, wollte anscheinend möglichst alles über sie an diesem Nachmittag herausfinden bis hin zu ihren finanziellen Verhältnissen, und wie und wo sie lebe. Das war der Punkt, an dem ihre Anspannung zurückkehrte und sie sich unwohl zu fühlen begann.

      „Ich hoffe, du bist nicht enttäuscht, wenn wir für heute mal einen Schnitt machen und jeder seine Eindrücke verarbeitet“, erklärte sie sachlich und trank ihren Wein aus.

      „O ja, das ist sehr wichtig“, pflichtete er ihr bei und winkte der Bedienung.

      „Alles zusammen?“

      „Äh,