Anita Florian

Die Ungeliebten


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nahm Bernadette kurz in den Arm, fast schien es, als lächle er, doch dann widmete er sich wieder seinen Eisstöcken die bei den Tennenbachs stets griffbereit in der Küchenlade lagen.

      Pepp wurde aus dem Ehelichen Schlafzimmer ausquartiert. Nach dem Rauswurf Thorstens aus der Schule, erklärte Annelie, dass es das Beste wäre, ihren Sohn bei sich im Zimmer schlafen zu lassen. Nicht sonderlich begeistert von dieser Idee, gab Pepp schließlich nach und stelle sich ein Feldbett in seinem Atelier auf. Thorsten schlief nun neben seiner Mutter, die ihn umhegte und ihm jeden Wunsch von den Augen ablas. Doch der stille Junge sprach noch immer nicht, kaum ein klares Wort kam über seine Lippen. Laute, die Annelie zu deuten wusste, kamen oft unkontrolliert aus seinem Mund und Annelie wusste sofort, ob er etwas haben wollte oder ob er an Schmerzen litt. Pepp’s Besorgnisse blieben ungehört. Thorsten Geburtstag näherte sich, im nächsten Monat wurde er sieben, im September begann wieder die Schule und Thorsten sollte wieder eintreten. Er würde wieder eine riesige Schultüte bekommen und dieses Mal, so war Annelie überzeugt, würde alles glatt gehen, seine Talente nicht unentdeckt und die kommenden Schuljahre ohne Probleme meistern.

      Am Nachmittag war die Familie wieder vollzählig bei den Tennenbachs versammelt, duftender Kaffee wurde aufgetragen, Sentas Gugelhupf wurde angeschnitten und die Stimmung konnte nicht besser sein. Bernadette saß am Fußboden und versuchte ihren ersten Wurf mit dem kleinen Eisstock den ihr Thorsten aus der Hand riss und ihn auf die Spielwürfeltaube losschoss, die er auch prompt traf. Er schrie vor Freude und Annelie klatschte in die Hände. Bernadette krabbelte hinterher und versuchte wieder einen Eisstock zu erhaschen.

      „Du schickst ihn wieder in die Schule?“ wollte Ferry wissen und versuchte seinen Groll zu verbergen, biss in ein Stück Kuchen und kaute seinen Ärger weg.

      „Aber natürlich“, meinte Annelie stolz, „du wirst sehen, wie er die anderen Schüler ausstechen wird, die gesamte Lehrkörperschaft hat es letztes Jahr nicht geschafft, die Intelligenz und sämtliche Talente meines Sohne zu bemerken, sie waren alle auf der falschen Fährte, aber so etwas kann natürlich vorkommen, ich habe ihnen verziehen.“ Sie rührte in ihrem Kaffee und lächelte. Franzine verhielt sich still, sie war vollkommen ratlos. Senta nickte ihrer Schwiegertochter zu, auch sie hielt es in diesem Augenblick für unangebracht, ein Wort dagegen zu sagen, dies hätte ihre Euphorie zerstört und ihre Welt, die sie sich für ihren Sohn zurechtgeschneidert hatte, vollends in Stücke fallen. Pepp schlürfte den Kaffee, ihm war es peinlich dass Annelie Thorsten zu sehr verwöhnte und ihn als vollkommenen, untastbaren Menschen sah. Niemand in der Runde wagte den wirklichen Zustand von Thorsten anzusprechen, ihre Vermutungen auszusprechen. Sie spielten alle mit, gaben Annelie in Allem Recht und spielten die Farce um Thorsten so gut sie konnten, mit. Auch Franzine, die sich in diesem Moment als feige abstempelte, überlegte, wie sie es wohl am besten anstellen könnte, Annelie zu helfen. Sie hielt den Mund und wollte einen günstigeren Augenblick abwarten.

      Die beiden Kinder spielten, laut lachte Bernadette auf, während Thorsten stumm, in seinem Spiel vertieft, die Mini-Eisstöcke schoss. Annelie reichte ihm Kuchen, er aß schnell und kaute kaum, schluckte die Brocken halb gekaut hinunter. Annelie reichte ihm noch 3 Stück die er schnellstens vertilgte, während Annelie voll des Lobes und Freude den gesunden Appetit des Jungen hoch pries. Als sie gegangen waren, wuchtete Ferry seine Faust mit voller Kraft an die Tischplatte. „So kann es nicht weitergehen, sie züchtet einen geistig-abnormen Menschen heran, verdammt noch mal, etwas muss geschehen, wie lange werden wir noch zusehen können. Sagt was, Menschenskind!“ Er raufte sich die Haare und rannte in der Küche hin und her. Böse blickte er zu Franzine, die sich geduckt am Tisch anlehnte.

      „Ich weiß nicht, was ich tun kann, lass mir noch Zeit um die richtigen Worte zu finden, du weißt, das es nicht einfach sein wird. Ich dachte, bei Bernadette würde sie den Unterschied merken, aber noch ist es nicht soweit.“ Franzine versuchte ruhig zu bleiben. Nervosität bei allen, auch bei Tanno und Senta, nur Tanno sagte kein Wort, er sprach nie über diese Sache und bei Tisch dachte er nur an seine Vögel und an seinem Platz im Wald, den er bald wieder aufsuchen würde. Er hasste diese Familienzusammenkünfte, die nur dafür gedacht sind sämtliche Probleme sichtbar zu machen und niemand konnte auch nur annähernd etwas tun, gute Miene zum bösen Spiel waren nicht seine Sache. Ohne ein Wort ging er durch die Tür und schlug den Weg zu seinem Waldlager ein. Das Wetter stimmte, die Sonne hatte den Bogen über den Himmel schon mehr als die Hälfte nach Westen überquert, doch erst in ein paar Stunden würde es vollständig dunkel werden und die Finsternis, wie in so vielen Menschenseelen, bereitete sich ohne Gnade aus.

      Ratlosigkeit beherrschte nun die Stimmung. Einzig Bernadette, die nun wieder in ihrem Bettchen saß, ließ die Gemüter etwas aufhellen. Die Vögel taten das ihre dazu, das Radio blieb nun stumm und die jungen Eheleute machten es sich wieder in ihrem Bett bequem. Tanno blieb die ganze Nacht aus, Senta röchelte etwas, doch sie machte sich keine Sorgen um ihren Mann, der immer wieder den Weg zu ihr nach Hause gefunden hatte.

      Nach zwei Tagen hatte Ferry wieder das Nötigste zusammengepackt, belud sein altes Motorrad und wartete noch auf das Mittagessen, dass Senta mit viel Wehmut zubereitet hatte.

      „Das Wasser wird euch alle gesund machen, ich nehme ein paar Flaschen mit, ich kann es nicht länger mit ansehen wie ihr alle leidet, und Thorsten soll auch davon trinken.“ Bitterernst war es ihm wieder, wild entschlossen und voller Enthusiasmus. Seine Reise sollte nach Lourdes führen, diese berühmte Grotte in Frankreich die unzählige Touristen anlockte und das heilende Wasser als letzten Ausweg sahen. Er glaubte fest daran, war überzeugt von den heilenden Wirkungen des Wasser, das schon Gelähmte zum gehen brachten und die sich innerhalb einer Minute aus ihrem Rollstuhl erhoben und langsam einen Schritt nach den anderen vorwärts setzten. Blitzheilungen soll es tatsächlich schon gegeben haben, Zeitungen berichteten davon und die lange Liste der Glaubenden die darauf hofften und beteten ihr Gebrechen zu heilen, pilgerten genauso zahlreich an den heiligen Ort, wie es gesunde junge und alte Menschen jedes Jahr zu ihrem Reiseziel magisch hinzog.

      Franzine konnte ihren Ärger kaum unterdrücken, tatsächlich erwies sich Ferry als fanatischer Glaubensanhänger, der diesen Humbug wie nichts auf der Welt in sich aufsog.

      „Warum hast du mir wieder nichts gesagt“, fragte sie bei Tisch während sie Bernadette zu sich auf den Schoß nahm, ihr ein paar Bissen Gemüsereis fütterte und sie wieder auf den Boden abstellte wo sie lebhaft um den Tisch herumrannte.

      „Ich brauche dir keine Rechenschaft ablegen, merk dir das, das Wasser wird geholt, ich pfeife auf deine Meinungen“, böse herrschte er sie an, sein Egoismus verbot ihm auch nur das kleinste bisschen Verständnis aufzubringen, seine Frau hatte in diesen Dingen kein Recht, sich einzumischen, wenn es um diese speziellen Angelegenheiten handelte, kannte er kein Erbarmen.

      „Siehst du nicht ein, dass dies alles nur ein Trick ist, Zauberei wobei Menschen in die Irre geführt und sehr oft enttäuscht wieder nach Hause fahren müssen? Vielleicht konnte sich so manch Gelähmter schon viel früher auf den Beinen halten….“, weiter kam Franzine nicht, sie bemerkte zu spät, dass Ferry eine weite ausladende Bewegung machte und das laute Klatschen dass sie fast wie in Trance vernahm, die Ohrfeige gewesen war, die sie mit brutaler Härte an der Wange traf.

      „Sag das nie wieder, verstanden? Du willst die Heilung meiner Mutter verhindern, du hast nichts unternommen um meine Schwägerin aufmerksam zu machen wie es um ihren Sohn steht, du willst die gesamte Familie ins Lächerliche ziehen, du willst nicht einsehen wie ernst die Dinge um uns stehen. Was willst du tun wenn ich eines Tages krank hier läge und der Tod mir ins Gesicht grinst, unternimmst du dann auch nichts und lässt mich einfach krepieren?“ Ferry war außer sich, mit erhobenem Zeigefinger fuchtelte er vor Franzines Gesicht herum, wütend stapfte er dann durch die Küche, sein Atem war schnell, kaum konnte er sich wieder beruhigen. Franzine rieb sich ihre schmerzende Wange und konnte nicht begreifen, was in ihrem Mann gefahren war. Das konnte doch unmöglich sein Ernst sein, schob er nun die alleinige Schuld auf sie? Sie selbst soll die Verantwortung für Thorstens Verhalten und Sentas Asthma tragen? Langsam ließ sie sich auf den Stuhl nieder, Tränen traten ihr in die Augen. Nicht der Schmerz war die Ursache, Ferrys Verhalten bereitete ihr Angst die sich unaufhaltsam in ihre Knochen schlich und ein panikartiges Gefühl in ihr auslöste. In sich zusammengekauert hielt sie es für das Beste, in diesem Spannungsdurchtränken Moment weiterhin kein