Malte Kersten

Nach dem Eis


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genau, um sechzehn Uhr wollte er mich treffen.“

      „Wir haben hier nämlich mehrere Peters, dann will ich mal nachschauen.“

      Er betrat seinen abgetrennten Bereich und schlug in einer Liste nach, die an der Wand griffbereit hing. Offensichtlich hatte er die Zimmernummer von Herrn Peters nicht im Kopf.

      „Zimmer 218, im zweiten Geschoss.“

      Er kam wieder aus seinem Glasanbau heraus und wies mit ausgestrecktem Arm den Gang entlang, aus dem er eben kam.

      „Am Ende des Flurs im Treppenhaus in den zweiten Stock, dann rechts halten und auf der rechten Seite die zweite Tür.“

      Auch wenn der Eingangsbereich etwas verlassen wirkte, war auf dem angrenzenden Flur und im Treppenhaus viel Betrieb. Einige Bürotüren standen offen und ich konnte teils ordentliche Räume aber auch überquellende Bürotische sehen. Es nahm niemand wirklich Notiz von mir, anscheinend war es normal, dass auch Besucher hier durch die Gänge gingen. Im zweiten Stockwerk ging es dann deutlich ruhiger zu, der Teppichboden schluckte meine Trittgeräusche und alle Türen waren geschlossen. Ich klopfte an der Tür 218 an und trat ein. Vor mir saß an einem Schreibtisch eine Sekretärin, wie ich annahm. Ich nannte meinen Namen und sagte, Herr Peters erwarte mich um sechzehn Uhr. Sie schien über meinen Besuch informiert zu sein und führte mich in ein angrenzendes Zimmer, bat mich Platz zu nehmen und einen Moment zu warten.

      Der Raum war spärlich eingerichtet, ein großer Tisch mit sechs Stühlen herum, ein niedriges Regal neben dem Fenster, auf dem eine Grünpflanze dahin kümmerte. Das helle Deckenlicht spiegelte sich auf dem glänzend sauberen Linoleumboden. Ein Bild von einer Berglandschaft hing an der Wand. Sicher ein Relikt eines längst vergessenen Mitarbeiters. Ich verbrachte nur einen kurzen Moment damit, nach einem Insekt in der Grünpflanze Ausschau zu halten (konnte aber keines entdecken), als Herr Peters den Raum betrat oder vielmehr die Tür aufstieß. Mit der Hand auf der Türklinke erteilte er Anweisungen an eine weitere Person, die ich von meinem Platz aus nicht sehen konnte. Dann trat er wirklich ein, schloss die Tür geräuschvoll und drückte mir kräftig die Hand. Er wies auf den Stuhl, von dem ich mich gerade erhoben hatte und ordnete dabei schon einige Papiere, die er aus einem Papphefter heraus holte.

      „Wir haben erfahren, dass Herr Oster schon vorgestern nach Kiel gekommen ist, bevor Sie ihn gestern tot in Ihrem Büro aufgefunden haben. Wir interessieren uns für diesen letzten Tag. Können Sie uns etwas dazu sagen?“

      So eröffnete Herr Peters das Gespräch und schaute mir gerade in die Augen. Hier im Dienstgebäude trug er nur einen grauen Rollkragenpullover. Zusammen mit seinen spärlichen und sehr kurz gehaltenen grauen Haaren sah er wie ein isländischer Fischer aus.

      „Das habe ich Ihnen gestern schon erzählt, ich habe Oster, Herrn Oster, am Morgen im Büro gefunden und vorher nicht gesehen. Ich wusste nicht einmal, dass er nach Kiel kommen wollte.“

      „Haben Sie eine Vermutung, wo er sich vorher aufgehalten haben könnte?“

      Er machte sich ein paar Notizen und ich überlegte kurz.

      „Er übernachtete, soweit ich weiß, immer bei seiner Tante, wenn er in Kiel war. Das hat er mir jedenfalls einmal so angedeutet.“

      „Ja, das ist uns inzwischen bekannt, dort war er nicht. Die alte Dame hat keine Ahnung, wo er sich aufgehalten haben könnte.“

      „Dann könnte er auch in seinem Auto übernachtet haben. So etwas hatte er schon öfters gemacht. So war das mal bei einem Kongress in Leiden, in den Niederlanden. Er kam etwas spät los, fuhr dann die ganze Nacht durch und schlief im Auto, bis die Tagung dann morgens begann. Weil er es dann versäumte, sich ein Hotelzimmer zu besorgen, schlief er die zweite Nacht auch noch im Auto. Ich selbst war nicht dabei, er hatte es mir nachher erzählt. Warum er das tat, habe ich nie so richtig verstanden, zumal er die Übernachtungen doch von seiner Uni bezahlt bekommt. Aber anscheinend macht es ihm wenig aus, im Auto zu schlafen.“

      Es klopfte kurz und eine junge Beamtin trat ein. Sie schloss hinter sich die Tür, reichte mir die Hand und stellte sich als Kommissarin Lund vor. Zwei Dinge gingen mir gleich durch den Kopf: Ich suchte nach der Krimiserie, in der die Kommissarin ebenfalls Lund hieß, in Kopenhagen, in Stockholm? Zum anderen war sie kaum älter als ich, sodass es mir durchaus angeraten erschien, die akademische Laufbahn zumindest einmal zu überdenken und mit anderen Ausbildungswegen zu vergleichen.

      Sie setzte sich neben Herrn Peters, mir schräg gegenüber.

      „Es bleibt also die Frage, wo war Herr Oster“, nahm Herr Peters wieder das Gespräch auf.

      Frau Lund strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und studierte kurz die Notizen von Herrn Peters.

      „Seit diesem Kongress war er mehrmals in Leiden, in den Niederlanden“, erklärte ich, „er hatte da zusammen mit einem Kollegen dort von der Uni eine internationale Zusammenarbeit aufgebaut. Er war auch öfters mal nur für einen Tag dort, deswegen komme ich jetzt darauf. Wenn es Sie interessiert, kann ich Ihnen den Namen und das Institut heraussuchen.“

      „Welcher Art war diese internationale Zusammenarbeit?“, fragte Frau Lund.

      „So weit ich weiß, haben sie zusammen Artikel für wissenschaftliche Zeitschriften verfasst. Aber ich glaube, sie wollten auch einen Projektantrag schreiben. Heute ist es eigentlich unmöglich, ohne internationale Kontakte den Zuschlag für ein Projekt zu bekommen“, fügte ich hinzu, da ich annahm, dass die beiden über die Vergabebedingungen wissenschaftlicher Projekte wenig Bescheid wussten.

      In welcher Serie spielte eine Frau Kommissarin Lund mit? Ich nahm mir vor, Hans danach zu fragen. Der müsste es wissen. Einen Augenblick überlegte ich, Frau Lund selbst zu fragen, doch war dies ganz klar dafür nicht der richtige Zeitpunkt.

      „Wann war Herr Oster das letzte Mal in Leiden?“, fragte sie.

      Ich dachte kurz nach, es musste schon einige Zeit her sein. Er war nach dem Kongress mindestens zweimal in Leiden, vielleicht auch noch öfter. Da er mir nicht alles erzählte, könnte es durchaus sein, dass er dort war, ohne dass ich es wusste.

      „Hat Ihnen Herr Oster in letzter Zeit etwas anvertraut, eine CD, eine Akte oder etwas Ähnliches?“, mischte sich Herr Peters wieder in das Gespräch ein. „Auf Ihrem Rechner konnten wir keinen Hinweis finden, keine ungewöhnlichen Dateien oder gespeicherte E-Mails.“

      Meine vielleicht nicht ganz legale Musiksammlung fiel offensichtlich nicht in ihren Aufgabenbereich. Ein ganz klein wenig war ich erleichtert. Und doch, da war sie wieder, die Frage nach den geheimnisvollen Daten.

      „Jetzt müssen Sie mir mal erklären, warum jeder glaubt, Herr Oster müsste mir kurz vor seinem Tod eine CD gegeben haben.“

      „So? Wer glaubt das?“

      „Einfach jeder, der mit mir über den Toten spricht. Und nein, ich habe nichts bekommen“, fügte ich hinzu.

      „Wer hat Sie danach gefragt?“ Er sah mich an.

      „Der Dekan, meine Kollegen, auch mein Mitbewohner, irgendwie jeder, der hört, dass er mein Chef war.“

      Er schaute kurz zu Frau Lund hinüber, die sich keine Notizen mehr machte, sondern mich ansah. Dann blickte auch er mir starr in die Augen als erwartete er, dass ich fortfahren würde. Doch hatte ich alles gesagt, was mir dazu einfiel.

      Es entstand eine Pause, in der ich erst in seine grauen und dann in ihre blauen Augen schaute. Lund, Lund – oder in Oslo? Auch jetzt schien mir der Augenblick nicht passend zu sein.

      „Woran ist denn nun Herr Oster gestorben?“, beendete ich die eingetretene Stille.

      Kommissarin Lund machte sich Notizen, Herr Peters holte aus seinem Papphefter ein Papier hervor, welches er mir zuschob.

      „Erkennen Sie diese Person?“

      Ein Foto aus einer Verkehrsüberwachungskamera. Das Schwarz-Weiß-Bild war gestochen scharf. Die Bilder gleicher Art, die ich bisher von mir gesehen hatte, waren deutlich schlechter in der Qualität. Es lag schon einige