Malte Kersten

Nach dem Eis


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und wollte zu einer Party eines Schulfreundes fahren. Den ersten Teil des Abends verbrachte ich dann etwas zerknirscht. Ich hatte genau in den Blitz geschaut. Das Foto zeigte mich in Großaufnahme mit wenig geistreichem Gesichtsausdruck. Den Wagen konnte ich erst mal nicht mehr ausleihen („Lässt man den Jungen einmal allein fahren.“).

      Auf diesem Bild waren alle Details des Autos gut zu erkennen. Das Nummernschild mit einer Kieler Nummer, eine kleine Beule am rechten Kotflügel und sogar die Marke der Zigarettenschachtel auf dem Armaturenbrett meinte ich am Logo erkennen zu können. Nur – der Fahrer war nicht zu erkennen. Dort, wo der Kopf zu vermuten wäre, war nur ein Stück Stoff zu sehen. Zuerst dachte ich, der Kopf würde fehlen, doch dann erkannte ich, dass der Kopf komplett verhüllt war. Der Mensch schien ein Sack über den Kopf gestülpt zu haben.

      „Dem werden Sie kaum ein Vergehen nachweisen können!“

      „Das ist der Wagen von Herrn Oster, aufgenommen bei Hannover am Vormittag des Tages vor seinem Tod. Erkennen Sie Herrn Oster?“

      Erstaunt betrachtete ich das Foto nochmals. Es hätte wirklich jeder sein können. Herr Oster war beim besten Willen nicht zu erkennen. Aber möglich wäre es. Nur was hätte er dort zu der Zeit zu suchen gehabt? Quicklebendig und voller Tatendrang?

      „Können Sie sich vorstellen, was Herr Oster dort gemacht hat?“

      „Nein, keine Ahnung“, erwiderte ich langsam und betrachtete noch einmal alle Details.

      „Wie konnte der denn überhaupt Auto fahren, mit dem Ding über dem Kopf?“

      „Das ist ein Pullover, sehen Sie mal genau hin. Wahrscheinlich wollte er ihn gerade an- oder ausziehen, musste dann aber wieder mit beiden Händen ins Lenkrad fassen. Es ist zwar schwer, im Auto einen Pullover auszuziehen, aber durch die Maschen kann man eigentlich noch ganz gut sehen.“

      „Oder er wollte so, unerkannt meine ich, von der Kamera geblitzt werden?“

      „Sie können ihn jedenfalls nicht erkennen, Armbanduhr, Form der Hände, Fingernägel?“

      „Nein, möglich wäre es, aber, nein, eindeutig nicht.“

      Er schaute auf das Bild und nickte.

      „Frau Lund wird jetzt noch Ihre Fingerabdrücke aufnehmen. Wir müssen die mit den Abdrücken in Ihrem Büro abgleichen.“

      Er raffte seine Papiere zusammen und Frau Lund erhob sich. Damit war die Unterredung beendet.

      Zusammen mit Kommissarin Lund ging ich in ein benachbartes Büro, wo uns eine Kollegin eine Art Stempelkissen und ein Formular übergab. Die Abnahme meiner Fingerabdrücke war schon vorbereitet, wie ich am Formular erkennen konnte. Mein Name und Anschrift waren bereits eingetragen. Ein wenig fühlte ich mich überrumpelt, aber bevor ich noch richtig überlegen konnte, ob ich mich dagegen wehren sollte, hatte Frau Lund schon meine Hand ergriffen und meine Finger auf das Stempelkissen gedrückt. Warme Hände.

      3. Kapitel

      Routinierte oder gar produktive Arbeit war bei mir in den nächsten Tagen nicht drin. Bis auf eine halbherzige Überarbeitung einiger Textbausteine meiner Dissertation war nichts möglich. Zumal die wesentlichen Daten in meinem Computer schlummerten und sich dieser unter polizeilicher Aufsicht befand. Auch mein Arbeitszimmer blieb verschlossen. Im Beisein eines Polizeibeamten war es mir immerhin möglich, meine wenigen Ordner, die ich im Laufe meines Forscherdaseins mit Papieren gefüllt hatte, vom Tatort zu entfernen und meinen neuen Arbeitsplatz damit zu bereichern. Zwar bescheiden, aber immerhin. Katja ließ ich im Glauben, dass später noch mehr dazukommen würde. Aber ich hatte die Vermutung, dass sie sich inzwischen ein richtiges Bild von meiner Arbeitsweise gemacht hatte.

      Hans sah ich in diesen Tagen nicht. Morgens war ich der Erste, der die Wohnung verließ, abends der Erste, der schlafen ging. Hans musste zwischendurch mal zu Hause gewesen sein. Meist hörte ich ihn nur im Halbschlaf nach Hause kommen, wenn überhaupt. Ich hatte die Türangeln unserer Wohnungstür geölt, daher hörte ich ihn jetzt kaum noch.

      Aber ich wurde langsam ungeduldig, da ich Hans vom Gespräch mit der Polizei berichten wollte. Hans schien mir am besten geeignet zu sein, meine Gedanken durch seine Einwürfe etwas zu ordnen. Außerdem konnte er mir sicherlich sagen, in welcher Krimiserie Kommissarin Lund mitgespielt hatte. Auch diese Frage ging mir nicht mehr aus dem Kopf. Daher beschloss ich, zumindest diese Frage durch den üblichen Zettel auf dem Küchentisch anzuschneiden.

      Unter dem „wir brauchen dringend Kaffee!!!!“ schrieb ich noch die Zeile „in welcher Serie spielte eine Frau Lund die Kommissarin?“

      Meinen ersten Kaffee an diesem Tag versuchte ich bei Rolf zu bekommen. Katja trank leider keinen Kaffee, sodass in unserem Büro so etwas nicht zu finden war. Zu einer eigenen Kaffeemaschine hatte ich mich bisher nicht durchringen können. Viel kommunikativer war es, bei den Nachbarn mal vorbeizuschauen.

      „Na du Halbwaise“, begrüßte mich Rolf, „willst du einen Kaffee?“

      Ich sog genussvoll die Aroma gesättigte Luft ein.

      „Gern.“

      Er goss mir einen Becher voll und deutete auf die Milch, die auf dem Tisch stand. Ich nahm beides, den heißen Becher und goss ein wenig Milch dazu.

      „Wieso Halbwaise?“

      Wie ein Tornado zeichnete die Milch Kreise in den Kaffee.

      „Na, dein Doktorvater ist ja nun tot. Hat sich da schon etwas ergeben? Weiß die Polizei schon wer es war oder ob es überhaupt jemand war und wenn ja, warum?“

      „Wie ein Vater war er nun wirklich nicht“, erwiderte ich. Ich musste lachen. Der Vergleich war grotesk. „Nein, ich glaube, die wissen noch nichts. Aber richtig im Bilde bin ich auch nicht.“

      „Auf jeden Fall bist du den los. Auch wenn es nicht die feine Art war.“

      Er grinste mich an und ich überlegte, ob ich auf diesen Scherz eingehen konnte.

      Draußen auf dem Flur balancierte ich meinen immer noch heißen Becher meinem Büro entgegen. Der Tornado hatte sich inzwischen gänzlich aufgelöst und ist einem satten Braun gewichen.

      Ich wollte gerade meine noch etwas fremde, neue Bürotür öffnen, da winkte mir schon vom Treppenhaus her die studentische Hilfskraft des PC-Labors namens Fred zu. Ich nippte am heißen Kaffee und wartete, dass er bei mir ankam, denn ich wollte mit dem vollen Becher keinen weiteren Schritt mehr machen.

      „Ich muss dir etwas zeigen, komm mal mit nach oben.“

      Dampf stieg von der noch immer leicht rotierenden Kaffeeoberfläche wie Fäden auf.

      „Den kannst du auch oben trinken.“

      Also nahm ich noch einen Schluck und folgte Fred zum Treppenhaus. Mit dem Kaffeebecher in der Hand und der fortgeschrittenen Uhrzeit erfüllte sich leider voll und ganz das Klischee wissenschaftlicher Arbeit, wie ich am Blick des Hausmeisters erkannte, dem wir auf der Treppe begegneten.

      Oben angekommen gingen wir ins Büro vom PC-Labor. Fred ging zu einem Schrank und holte dort eine Kamera heraus.

      „Die hat dein Chef am Abend bevor er, na ja, an seinem Todestag eben hat er sie zurückgegeben.“

      Mit diesen Worten drückte er mir die Kamera in die Hand und ich stellte meinen Kaffee ab.

      Etwas überrascht und mit einer gewissen Abneigung nahm ich sie entgegen. Es war eine hochauflösende digitale Kamera, die den Mitarbeitern des Instituts zur Verfügung stand. Kalt und schwer lag sie in der Hand. Ich schaute Fred fragend an, er schaute fragend zurück, als erwartete er, dass sich mir augenblicklich neue Erkenntnisse erschließen würden.

      „Wann hat er die denn zurückgegeben?“, fragte ich.

      „Am Abend vor seinem Tod, denn wir wussten gar nicht, dass die Kamera wieder da war. Er hatte sie selber wieder zurückgelegt und in der Liste die Rückgabe eingetragen. Aber es wird noch interessanter. Schau mal.“