Malte Kersten

Nach dem Eis


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auffallen würde, wenn ich jetzt einfach wieder verschwinden würde. Doch dann deutete der Dekan auf die Sitzgruppe. Ich setzte mich. Der Blumenstrauß von meinem letzten Besuch war nicht mehr an seinem Platz, genauso wie der Käfer. Auch kein Kaffee, keine Kekse. Es befand sich nichts außer der Armbanduhr von Elster auf dem Tisch. Der Sekundenzeiger vibrierte langsam vorwärts, ein Countdown. Ich saß in dem viel zu tiefen Polster mit den Knien fast in der Höhe meiner Ohren und fühlte mich relativ unwohl. Eine spontane Flucht wäre jetzt unmöglich. Ich käme gar nicht aus dem Polster heraus.

      Nach einiger Zeit griff Elster in eine Schublade, nahm einige Seiten Papier heraus und kam damit zu mir herüber. Er legte diese mit Nachdruck aber auch mit einer gewissen Vorsicht vor mir auf den Tisch. Er trat wieder einen Schritt zurück und musterte mich intensiv.

      Auf Anhieb erkannte ich, was es war. Es waren großformatige Ausdrucke der Fotografien von der Speicherkarte, die letzten Bilder von Herrn Oster.

      Das Schweigen war eisig. So langsam glaubte ich zu wissen, worum es ging. Ich hatte Herrn Elster nichts von den Bildern gesagt, noch nicht, legte ich mir sofort zurecht. Denn ich hatte sie auch erst gestern in die Hände bekommen. Ob die Polizei ihm die Bilder gegeben hatte?

      „Das sind aber gute Ausdrucke“, war das Einzige, was mir dazu spontan einfiel und schon bereute ich meinen laxen Tonfall.

      Leise, mit einem bewusst bedrohlichen Unterton brachte Herr Elster den Sachverhalt auf den Punkt.

      „Warum erfahre ich erst jetzt von diesen Bildern?“

      Ich überlegte kurz, die Bilder waren bereits ausgedruckt, er hatte schon gestern versucht, mich zu erreichen, ich selbst hatte die Bilder gestern Morgen in die Hände bekommen. Was wollte er eigentlich?

      Er unterbrach meinen Gedankengang schon mit deutlich lauterer Stimme.

      „Hatten wir uns nicht darauf verständigt, dass Sie unverzüglich mir alles melden, was im Zusammenhang mit Herrn Kollegen Osters Tod steht? Sind Sie sich darüber im Klaren, was es bedeuten würde, wenn Informationen in die falschen Hände geraten würden, auch und insbesondere für Sie?“

      Seine ohnehin kräftige Stimme hatte sich weiter gesteigert. Die Lage war ernst.

      „Alle Fakten gehen über meinen Tisch, ich entscheide in diesem Fall, was nach außen dringt und in welcher Form berichtet wird.“

      Er kam wieder zum Tisch, stützte sich mit beiden Händen darauf ab und fuhr mit seiner leisen, bedrohlichen Stimme fort. Das Spiegelbild seiner Armbanduhr nahm die Vibrationen seines Puls auf.

      „Wenn Sie hier bestehen und später in diesem Bereich etwas werden wollen, müssen Sie mit dem Institut kooperieren.“

      Das war deutlich, obwohl ich es für etwas übertrieben hielt. Und es war der falsche Augenblick zu erwähnen, dass ich die Bilder bereits der Polizei gegeben hatte, ohne ihn zu benachrichtigen. Aber ich wollte unbedingt heraushören, ob er die Bilder von der Polizei hatte oder von jemandem aus dem Institut.

      „Ich hatte die Bilder nur kurz durchgesehen und dann zur Polizei gebracht. Die haben es gleich als wichtiges Beweismaterial eingestuft, für die Rekonstruktion der letzten Tage von Herrn Oster“, übertrieb ich. Er schien einen kurzen Moment zu erstarren, ich machte mich auf einen erneuten Wutausbruch gefasst.

      „In Zukunft gehen alle Kontakte, Gespräche oder sonstiges nur über mich. Ist das klar?“

      „Ja, ja, ist klar, ist mir auch lieber so.“

      „Was können Sie denn zu den Bildern sagen?“, kam es jetzt in einem versöhnlichen Ton. Aber mir stand überhaupt nicht der Sinn nach einem konstruktiven Gespräch mit Herrn Elster.

      „Nichts, ich habe nichts erkannt.“

      Er wartete noch einen kurzen Moment, ob mir nicht doch noch etwas einfallen würde, griff sich dann seine Ausdrucke und ging damit zu seinem Schreibtisch hinüber.

      „Na, wie auch immer.“

      Ich fasste dies als Signal auf, dass unser Gespräch beendet wäre, und verließ sein Büro.

      Woher hatte er die Bilder?

      4. Kapitel

      Es war kälter geworden. Ungewöhnlich kalt. Auch tagsüber unter dem Gefrierpunkt, in Kiel eher selten. Meine Gedanken schweiften umher, ähnlich den tanzenden Schneeflocken. Sie hatten den engen Rahmen meines Forschungsthemas längst verlassen, als Frau Hubertus zu uns ins Büro geschneit kam. Ich hatte keine Ahnung, wie lange ich aus dem Fenster geschaut hatte.

      „Ja, wenn ich nicht störe, haben Sie schon gehört?“, fragte sie mich.

      „Was gehört? Und Sie stören nie.“

      „Dass übermorgen die Beerdigung von Herrn Oster stattfinden wird und zumindest Sie dabei sein sollten. Der Dekan schickt diese Mitteilung herum.“

      „Hier? Nicht in Dresden?“

      „Ja, hier. Er hatte hier wohl auch noch Verwandtschaft. Die haben das veranlasst“, erklärte Frau Hubertus und hielt mir einen Zettel entgegen. Da sie aber weiter fortfuhr, konnte ich mir das Entziffern der kleinen Schrift auf dem wackelnden Papier in ihrer Hand ersparen.

      „Alle Institutsangehörige sollten anwesend sein, von engeren Mitarbeitern von Herrn Oster wird eine Teilnahme erwartet. Dazu gehören Sie und ich wohl auch. Es geht um zwölf Uhr in der Friedhofskapelle los. Ja, das wird eine eisige Angelegenheit“, griff Frau Hubertus meinen Blick zum Fenster auf. Wobei ich nicht sagen kann, ob die Doppeldeutigkeit der Aussage Absicht war. Die Tür sprang auf und Johann kam herein.

      „Moin, was ist denn hier los?“, fragte er.

      „Übermorgen findet die Beerdigung von Herrn Oster statt. Alle Institutsangehörige sollten anwesend sein, auch Sie“, erläuterte Frau Hubertus.

      „Gibt es etwas zu essen?“

      Tadelnder Blick von Frau Hubertus.

      „Und ziehen Sie sich angemessen an“, sagte sie betont streng, als sie wieder unser Büro verließ.

      „Wo soll ich denn jetzt so etwas herbekommen?“, überlegte ich und betrachtete mein kariertes Hemd und die nun schon etwas ausgewaschene Jeans. Gedanklich meinen Schrank zu durchforsten, hatte keinen Sinn. Ich hatte keinen Anzug für solche Anlässe, zumindest nicht in Kiel. Bei meinen Eltern hing noch mein Anzug, den ich zur Hochzeit meiner Schwester getragen hatte. Meine Eltern bestanden darauf, dass ich ordentlich gekleidet war und kauften mir den Anzug. Einmal getragen, dann in den Schrank gehängt. Nein, ein weiteres Mal hatte ich ihn noch hervorgeholt. Zum Vorstellungsgespräch bei Herrn Oster. Ich war dann reichlich overdressed, da Oster selbst sehr legere und unorthodox das Bewerbungsgespräch geführt hatte.

      „Glück gehabt, ich habe sogar zwei schwarze Anzüge, den alten kannst du haben“, erwiderte Johann. „Der ist noch ganz in Ordnung.“

      Johann ist zwar einen halben Kopf kleiner als ich, aber trotzdem waren damit zumindest meine Sorgen wegen der Garderobe beseitigt. Im Kopf betrachtete ich seinen schwarzen Anzug unter meinem Mantel und kam schnell zum Schluss, dass dies ungefähr dem „angemessen“ von Frau Hubertus entsprechen musste. Super, Problem gelöst.

      „Was ist denn mit dir los, gar nicht unterwegs heute?“, begrüßte ich Hans und schüttelte den Schnee aus meinem Mantel. Hans war unerwartet zu Hause. Gequälter Gesichtsausdruck.

      „Ich muss nächste Woche meine Hausarbeit abgeben und bin etwas in Verzug. Da muss die Zerstreuung warten“, formulierte er sehr gewählt aber niedergeschlagen.

      „Was gibt es Neues aus der Kriminalistik?“, fragte er mit deutlich mehr Energie in der Stimme.

      „Eigentlich nicht viel.“

      Ich fasste mein Gespräch bei der Polizei und der Beerdigung übermorgen zusammen.

      „Übermorgen, das passt perfekt. Nachmittags?“