Malte Kersten

Nach dem Eis


Скачать книгу

der Zeit wurden die gedämpften Unterhaltungen etwas lauter. Wir mussten weiter warten. Hans hatte ich noch nicht wieder entdeckt. Herr Peters saß einige Reihen vor uns ganz außen. Herrn Elster konnte ich nicht sehen. Auch hatte ich ihn draußen vor der Tür nicht gesehen, wie mir jetzt klar wurde.

      „Wo ist Elster?“, fragte ich Johann. Der beendete die Betrachtung seiner blauen Finger, schaute mich an, hob seine Augenbrauen und sagte: „Beim Buffet?“

      „Ach Quatsch, hast du ihn draußen schon gesehen?“

      „Nein, habe ich nicht, ich sage doch, der ist schon beim Buffet. Wo wir uns hier noch die Finger abfrieren, haut der sich schon den Bauch voll. Der weiß, wo der Trauerschmaus stattfindet.“

      Aus Johann war nichts Genaueres mehr herauszubekommen. Er fror wirklich und war äußerst schlechter Laune. Daher wendete ich mich an Frau Hubertus zu meiner anderen Seite.

      „Haben Sie Herrn Elster hier schon gesehen?“

      „Nein, jetzt wo Sie es sagen, ich habe ihn heute noch nicht gesehen.“

      Merkwürdig. Erst macht er so ein Theater, dass jeder kommen muss und jetzt war er selber nicht da.

      Die Trauergäste wurden unruhiger. Der Pastor besprach sich mit einigen aus der ersten Reihe. Herr Peters ließ seinen Blick über die Reihen schweifen. Schuhe scharrten. Verhaltenes Gelächter weiter vorn.

      „Mir reicht es“, kam es von Johann. „Noch zehn Minuten, dann geh ich. Ich erfriere hier sonst.“

      Der Wind und die Kälte draußen hatten uns so ausgekühlt, dass uns die bescheidene Wärme der Kapelle nicht mehr aufwärmen konnte. Von der Tür her fühlte ich einen kalten Luftstrom meine bloßen Knöchel umfassen. Ich hätte auf den Anzug verzichten sollen.

      „So, Schluss jetzt, lass mich mal durch.“

      Johann stand auf. Ich setzte mich aufrecht hin, um ihn vorbeizulassen.

      „Nun bleiben Sie schon“, sagte Frau Hubertus nicht mehr gespielt entrüstet, als er sich auch an ihr vorbei zwängte.

      „Johann, setz dich hin“, bestand auch Katja.

      Doch der knurrte nur noch böse und arbeitete sich weiter durch die Reihe hindurch dem Ausgang zu. Dort verschwand er, ohne sich noch einmal umzusehen.

      „Der ist aber sauer.“

      Katja schüttelte den Kopf.

      Der Pastor zupfte ein paar Blumen zurecht und verschob das Mikrofon um dreißig Zentimeter. Der mürrische Halbwüchsige schaute zu Boden oder schien mit seinem Telefon zu spielen. Fairerweise muss ich sagen, dass ich das nicht genau sehen konnte, sondern lediglich vermutete.

      Frau Hubertus stieß mich sachte an.

      „Sehen Sie mal, wer da kommt.“

      Ich blickte zum Ausgang und sah, wie sich Herr Elster den Schnee von seinem Mantel im Gehen abklopfte und vorsichtig nach vorn durchging. So eilig, wie es die Situation gerade noch erlaubte, denn er stützte sich auf zwei Krücken. Ein Fuß steckte in einem Gipsverband. Erstaunt sahen wir uns an, Katja, Frau Hubertus und ich. Ihm im Schlepptau folgte Johann mit einem gequälten Grinsen auf den Lippen. Herr Elster ließ sich von ihm aus dem Mantel helfen und legte diesen auf einem Stuhl ab. Mit einer Geste wies er Johann an, sich auf den Platz daneben zu setzen. Dann humpelte er eilig auf den Pastor zu, der ihm entgegenkam. Beide besprachen sich kurz, Elster deutete auf seinen Fuß, der Pastor schüttelte ungläubig seinen Kopf. Elster setzte sich vorsichtig, der Pastor trat an das Mikrofon und schaute suchend über unser aller Köpfe hinweg. Er verließ noch einmal seinen Platz und eilte mit großen Schritten zum Ausgang.

      Frau Hubertus zuckte erschrocken zusammen. Die Orgel hinter uns setzte ein. Würdevoll schritt der Pastor wieder zum Mikro. Alle Unterhaltungen verstummten. Es ging los.

      Nachdem die Orgelklänge verklungen waren und der Pastor einen Moment lang schweigend in die Menge gesehen hatte, setzte er an zu reden. Er begann mit einem Zitat aus der Bibel, sagte einiges zum Tod im Allgemeinen und ging dann über, aus dem Leben von Herrn Oster zu berichten. Als er im Lebenslauf beim Institut anlangte, schwieg er wieder einen Moment.

      Herr Elster war bereits bei den letzten Worten mühsam aufgestanden (eine Krücke fiel scheppernd auf den harten Boden) und wartete nun mit mehreren Zetteln in der Hand auf seinen offensichtlich abgesprochenen Einsatz. Die Krücken ließ er am Platz. Der Pastor schwieg und Herr Elster starrte den Fußboden an. Dann machte der Pastor den Platz am Mikrofon frei. Herr Elster hüpfte gemessen ans Mikro und sortierte seine Blätter am Pult, räusperte sich und schaute dem Pastor gleich in die Runde, bevor er zu sprechen ansetzte. Er begrüßte die Trauernden, die Familie und die Institutsangehörige, die er mit „meine Freunde“ betitelte. Er brach ab und begann seine Brille mit einem großen, karierten Taschentuch zu putzen. Er schwankte ein wenig, als er die Hände vom Rednerpult nahm. Katja und ich sahen uns an. Es war still im Saal. Herr Elster begann wieder seine Papiere zu sortieren. Er schien ein wenig irritiert zu sein.

      „Wir alle haben einen lieben Verwandten, einen guten Freund und einen hervorragenden Wissenschaftler verloren.“

      Katja setzte sich aufrechter hin.

      „Ich kann mich noch gut an unser erstes Zusammentreffen vor genau neun Jahren und drei Monaten erinnern.“

      Er nahm wieder seine Brille ab und hielt sie gegen das Licht.

      „Ich war Gastredner während einer Tagung in Dresden und ich hatte noch nicht das Vergnügen, ihn kennen gelernt zu haben. Da ich mich in dem Universitätskomplex nicht auskannte, ging ich am Morgen durch die Flure auf der Suche nach dem richtigen Hörsaal. Es war relativ früh, vielleicht halb acht. Normalerweise ist es zu dieser Zeit sehr ruhig in den Universitäten.“

      Der Halbwüchsige mit den wirren Haaren im Gesicht stand auf und ging dem Ausgang entgegen.

      Herr Elster fuhr unbeirrt fort. „Wir alle kennen die Vorliebe der Studenten für den morgendlichen Schlaf.“

      Hier machte er eine Pause, um dem Publikum Zeit für ein Schmunzeln oder gar leisem Lachen zu lassen.

      „Als ich jedoch am Hörsaal sieben vorbeikam, hörte ich ein unglaublich lautes Getöse. Es wurde gerufen und laut gelacht. Ich nahm an, dass dort Studenten herum tobten, vielleicht auf eine Vorlesung wartend.“

      Ich sah plötzlich einige Reihen vor mir Hans aufstehen. Er schlängelte sich an seinen Sitznachbarn vorbei dem Ausgang zu. Bei jeder Person entschuldigte er sich, wie ich leise hören konnte. Seine Rockschöße blieben öfters an Stuhllehnen oder Handtaschen hängen, woraufhin seine Entschuldigungen teils noch mit weiteren Worten ausgeschmückt wurden.

      „Ich öffnete daher die Tür, um die jungen Leute zur Ruhe zu bringen, und war nicht wenig erstaunt, den werten Kollegen Oster inmitten einer aufgeregten Schar von Studenten zu sehen. Alle diskutierten wild durcheinander, allen voran Kollege Oster. Als sie mich erblickten, trat der Kollege Oster auf mich zu und fragte mich, ob ich einen Moment lang teilnehmen möchte an der Vertiefung von Kennzahlen.“

      Hans hatte gerade den letzten Sitz passiert und eilte nun mit weiten Schritten und wehendem Mantel dem Ausgang zu, als Herr Peters sich erhob und sich ebenfalls dem Ausgang näherte. Mein Erstaunen ging in echte Sorge über. Was wollte er von Hans und was, wenn unsere Nachforschungen, bescheiden zwar, aber immerhin, ans Tageslicht kamen?

      Herr Elster stockte einen Moment, bevor er weiter fortfuhr. „Er hatte seine Studenten einige Zahlen schätzen lassen, um so die Neugier zu wecken. Wie er mir später einmal sagte, festigte er damit diese Zahlen besser in den Köpfen der jungen Leute. So war er eben, gern dabei, wenn es darum ging, Neues auszuprobieren. Das war unser erstes Zusammentreffen. Daraus sollten noch viele weitere Treffen werden, bis der werte Kollege Oster hier in Kiel die Stelle annahm.“

      Ich hatte von dieser Geschichte bisher noch nichts gehört, Katja offensichtlich auch nicht.

      „Wie waren denn deine Erfahrungen mit ihm?“, fragte sie mich leise.

      „Ich