Helder Colaço

BIBELJAGD


Скачать книгу

id="u23fcfb0c-1c69-59b8-a6a0-17a12256a020">

      Helder Colaço

      BIBELJAGD

      Roman. Nach einer wahren Geschichte.

      Dieses ebook wurde erstellt bei

       Verlagslogo

      Inhaltsverzeichnis

       Titel

       HEIMKEHR

       MANUELS GESCHICHTE

       MANDELAUGEN

       Dorffest

       Herzkrank

       Aufklärung

       Glocken

       Berlin und Hamburg

       Invicta Letra

       B-42

       Menhir

       Geheimnis

       Impressum neobooks

      HEIMKEHR

      Irgendwann hatte ich vergessen, wovor ich eigentlich weggelaufen war. Vielleicht war es vor mir selbst.

      In Zyklen von etwa drei Jahrzehnten vollzieht sich ein Generationswechsel, ungeachtet dessen, ob die neue Generation bereit ist, sich der Herausforderung zu stellen oder nicht. In meiner Familie vollzog sich der Wechsel wie eine Feuertaufe, ohne jede Vorwarnung, mit einem tragischen Unglück, welches kaum durch die Wahrscheinlichkeitsrechnung hätte erfasst werden können. Und dennoch war es geschehen.

      »Jede neue Generation muss die Zeit besiegen, nicht umgekehrt.« hatte Großvater Chico dem Verfasser immer gesagt, obwohl dieser es lieber von seinem stets abwesenden Vater auf einer seiner mysteriösen Reisen gehört hätte — und zu diesem Zeitpunkt noch nicht verstand, was das eigentlich bedeuten sollte.

      Um zu begreifen, in was für eine Zeit ich hineingeboren wurde, floh ich vor meinem eigenen Bruder davon und irrte in Europa herum, bis sowohl jene seltsame Form von Heimweh als auch ein zunächst als vollkommen sinnlos anmutender Zustand der Verwirrung unerträglich geworden waren.

      Vielleicht hatte ich es aber nur satt, wegen meines berühmten Namens gehänselt zu werden. Von einem „Jesus“ wird eben Großes erwartet. Meine Mutter, die keineswegs jungfräulich war, hatte mich schlichtweg Jesus getauft, nicht aus Nazareth, sondern aus einem mediterranen Niemandsland. Sobald ich nur den Namen Jesus hörte, wurde mir flau im Magen und ich ergriff das Weite. Ich unterschrieb oft einfach nur mit Pico, um etwaigen Problemen vorzubeugen, im überaus nervigen Religionsunterricht hatte ich mir diese Angewohnheit antrainiert. Sobald ich nur irgendwie konnte, flüchtete ich und empfand keineswegs Saudade – das portugiesische Wort für Sehnsucht.

      Vom semantischen Kaleidoskop des Wortes Saudade abgesehen, welches nur annähernd und unzulänglich mit Sehnsucht übersetzt wird, gibt es eine Reihe ungeklärter Bezeichnungen für portugiesische Lebensgefühle und Menschen, dessen präzise Umschreibung mit einem Bataillon von Synonymen lediglich die Oberfläche ankratzen und den Kern der Sache wohl kaum berühren. Aus der jeweiligen Situation heraus wird dem Zuhörer eine Interpretationsgabe abverlangt, die viel Erfahrung und eine mit Feingefühl gepaarte Beobachtungsgabe voraussetzt, die sowohl die Tonlage als auch die Mimik in die Waagschale wirft, ähnlich dem Plattdeutsch und dem Jodeln.

      Später nannte man mich auch Compadre. Dem Substantiv Compadre werden hauptsächlich acht Bedeutungen beigemessen, wobei der portugiesisch-brasilianische Sinn völlig vom Kontext abweicht und sogleich gestrichen werden kann, sowie unzählige anderer Worte, die sich die Brasilianer anmaßen, Portugiesisch zu nennen, weil die portugiesische Sprache nur wegen der zahlreichen Brasilianer global Rang 5 erreicht. Unweigerlich beschäftigte ich mich zu lange damit, über dieses Wort Compadre nachzudenken.

      Wer Jorge Amados O Compadre de Ogum gelesen haben sollte, der versteht sogleich, dass es sich hierbei nur um kaum mehr als einen Taufpaten handelt. Auch in Portugal ist die geläufigste volkstümliche Verwendung für Compadre sinngemäß für Patenonkel oder dessen Vater, Comadre wäre dann die Patentante. Aber dabei belassen es die Portugisen leider nicht. Zur allgemeinen Verwirrung beitragend werden auch die Schwiegereltern, willkommen oder nicht, als Compadres bezeichnet. Ebenfalls werden entfernte Verwandte, von denen man den Grad nur schätzen kann, Compadres genannt. Gute Freunde werden ebenfalls als Compadres geehrt, wie in Goethes Wahlverwandtschaften. Dann kommen noch obskure Bedeutungsnuancen wie die des Vorwurfs der Beteiligung an einer oder mehrerer Verschwörungen. Die Hauptrolle in einer Revue, auch compére bezeichnet, kann in Theaterkreisen auch ein Compadre übernehmen, nicht zu verwechseln mit der Komparsenrolle.

      Im Süden Portugals werden die Karten aber anders gemischt, wo in jedem Dorf die Verschmelzung der Gene kaum nachvollziehbare, subtile, sogar überaus verwirrende Vernetzungen zwischenmenschlicher Beziehungen geschaffen hat, in denen jeder die Nachbarn, Freunde, Cousins ersten Grades, Cousins zweiten Grades und auch gute Bekannte zusammenfassend Compadre nennt. Aus genau diesem Grunde eignet sich diese wage Bezeichnung eines Individuums vortrefflich zu dessen Tarnung und Wahrung der Anonymität, weil jeder glaubt, alle Compadres zu kennen, doch im Grunde niemand genau weiß wer nun eigentlich damit gemeint ist, es sei denn, der Familienname wird in diesem Zusammenhang herangezogen in Verbindung mit den im Durchschnitt zwei Mittelnamen, die meist mütterlichen Ursprungs sind, denn auch in Portugal wird in der Regel der Familienname dem männlichen Nachkommen vererbt.

      Es ist ein Höchstmaß an Taktgefühl nötig, um den Missbrauch dieses mehrdeutigen Wortes zu vermeiden, dass nur allzu schnell fehlgedeutet werden kann, sobald es aus dem ursprünglichen Kontext willkürlich herausgerissen wird. Es kann daher nicht schief gehen, wenn man beim Amigo bleibt, eine freundschaftliche Bezeichnung die auch in spanischen Kreisen akzeptabel ist. Und wird ein Ausländer mal mit der Anrede Compadre Heinrich angesprochen, so ist dies als eine öffentliche Freundschaftserklärung zu deuten, denn man wird sogleich im Kreise der Einheimischen akzeptiert und als rechtmäßiges Mitglied in der lokalen Gesellschaft willkommen geheißen und in diese auch integriert. Es herrscht dann Anlas zum Feiern, denn ein Compadre zahlt gerne unaufgefordert die erste Runde…

      In seltenen Fällen kann Compadre auch mit Humor verwendet werden, als “Clown” oder “Witzfigur”, als eine indirekte Beschimpfung, ein Veräppeln, oder gar als eine abtrünnige Beleidigung missbraucht werden, um ein ahnungsloses Individuum in der Öffentlichkeit bloßzustellen und nach allen Regeln der Kunst zum Besten zu halten. Diese Sprachbarriere führt in den Fachbereich der Soziologie hinein, sowie der Verhaltensbiologie und Psychologie, was für das Verständnis der Handlung entbehrlich ist. Beim Veräppeln zieht der Sprecher das “Compaaadre” in die Länge, schaut einem dabei nicht in die Augen — und kommt es ganz schlimm — ersetzt er das e mit einem i zum Compadri, klopft einem dabei auf die Schulter oder den Rücken, ohne einen kräftigen Händedruck. Ist der Händedruck dann noch schlabbrig und schwächlich, dann ist äußerste Vorsicht geboten, denn wir könnten mit hoher Wahrscheinlichkeit einem neurotischen Spinner oder