Helder Colaço

BIBELJAGD


Скачать книгу

Zigarette und ging in die Küche, um mir einen Kaffee zu brühen. Mit einem Mal stand Manuel vor mir. Er schenkte mir ein Lächeln, das ich lange vermisst hatte. Er war unrasiert, schien aber zufrieden zu sein mit sich und der Welt. Auf dem Wohnzimmertisch lag die Zeitung, die ich dort hingeworfen hatte, ohne sie vollständig gelesen zu haben.

      »Du hast es also gelesen?« fragte er.

      Als ich keine Antwort gab, mir stattdessen eine weitere Zigarette anzündete, fuhr er fort:

      »Das sind unsere Waffen, Brüderlein!« Er warf mir einen Umschlag zu.

      »Das sind Photokopien der beiden amtlichen Analysen der Wasserproben und der Bodenproben. Die Unterschiede der ersten Analyse zur zweiten sind so deutlich, dass ein Blinder bemerkt, dass etwas nicht stimmt. Veröffentlicht wurde nur die zweite Analyse. Wenn wir das alles an die Öffentlichkeit bringen, ist der Skandal perfekt.«

      Das Problem war damit zwar nicht aus der Welt geschafft, aber es verbesserte unsere Ausgangsposition erheblich.

      »Wie bist du an diese Unterlagen herangekommen? Mensch, ich bin Projektentwickler, du bringst mich hier in eine Zwickmühle.«

      Er winkte ab. »Das ist eine andere Geschichte!«

      Erleichtert ging ich in die Küche, um mir einen Kaffee zu holen.

      »Wie möchtest du deinen Kaffee, Manuel?«

      »Heiß wie die Hölle, schwarz wie der Teufel, rein wie ein Engel und süß wie die Liebe, wenn es möglich ist!« Mit diesem Zitat von Talleyrand trumpfte er nur dann auf, wenn er besonders gut gelaunt war.

      »Für wen hast du auf Band gesprochen?« wollte ich nun wissen, als ich ihm den Kaffee reichte.

      »Für die Liebe meines Lebens.«

      »Weißt du, wie lächerlich das aus deinem Munde klingt?«

      »Nun, für Außenstehende wirkt die Liebe meistens lächerlich, das liegt in der Natur der Sache.«

      »Komm mir nicht mit diesen Pessoa Spruch. Du könntest sie mir ja mal vorstellen.«

      »Alles zu seiner Zeit. Jetzt habe ich keine Zeit. Ich muss noch mal kurz raus, um etwas erledigen. Die Faulheit und das fehlende Engagement der Behörden ist ein schlimmerer Feind des Fortschritts als die sogenannten Wirtschaftskrisen. Ein Typ aus dem Rathaus wollte mir noch ein paar Unterlagen besorgen. Nach mehrfachen Anrufen und zwei Wochen Überredungskunst, ist er so weit, dass er damit rausrückt.«

      »Das ist sicherlich ein Teil der Geschichte, die du mir erzählen wolltest. Stimmt´s, oder habe ich recht?«

      »Nein. Heute werde ich dir etwas erzählen, jeden Tag etwas mehr, ein Mosaiksteinchen nach dem anderen, bis du selbst dann alle Einzelteile zu einem Ganzen zusammenfügen kannst.«

      »Aber du solltest dich nicht wieder manipulieren lassen wie ein Spielball im Kräfteturnier der politischen Intrigen. Du kannst das physisch nicht mehr verkraften.« erinnerte ich ihn an seinen labilen Zustand.

      »Keine Sorge, ich habe alles unter Kontrolle. Bin auf der Warteliste. Ein neues Herz. Der Schrittmacher funktioniert prächtig.« versicherte er.

      »Hoffentlich findet sich bald das kompatible Organ. Ich brauche meines ja noch. Hast du dich um die Erbschaft gekümmert?«

      »Geld ist kaum noch da. Unser altes Haus in Almodovar, dieses Apartment hier und die Ruine am Eingang der Stadt Loulé; die Caravela Bar natürlich auch. Keine Hinweise auf irgendwelche wirtschaftliche Aktivitäten, Wertpapiere, die alte Büchersammlung Großvaters, einfach nichts.«

      »Das ist seltsam. Ich hatte den Eindruck er wäre nach der Revolution regelrecht aufgeblüht.«

      »Wer konnte denn ahnen, dass es ihr letzter Jachtausflug werden sollte? Fast wären wir dabei gewesen und ebenfalls ertrunken.«

      »Schon gut, belassen wir dabei.« beendete ich das Gespräch, als ich bemerkte wie blass und entkräftet Manuel aussah. Lange genug emigrierte ich, vernahm immer deutlicher den dumpfen Ruf der Natur meiner südlichen Heimat, umgeben von der heilenden Meeresluft und der brennenden Hitze des Landes, fern der Furcht vor der eigenen unbändigen und rastlosen Natur, die mich schon oft gefährlich nahe der Grenze unheilvoller Überwältigung gebracht hatte. Mit noch unvollständig ausgepackten Koffern glaubte ich, alles rasch nachholen zu müssen, was ich verpasst hatte, auf meiner elenden Glückssuche, als wäre es ein statischer Zustand mit Ewigkeitscharakter.

      Manuels Auffassung vom Glück beschrieb er wie die Freiheit vom Schmerz. Sein Familiensinn war derart überentwickelt, wie die Leute auf dem Lande unterentwickelt waren. Sie hielten sich lebenslänglich aus und beschimpften sich lautstark, weil sie sich leidenschaftlich aufeinander konzentrierten und dadurch einander die Fehler ausfindig Machten wie die Affen im Zoo die Läuse. Dann schmeichelten sie einander wieder, besonders wenn sie etwas voneinander wollten.

      Wir hatten im vergangenen Jahrhundert Diktatur und Rebellion nach römischem Muster erlebt, nur etwas friedlicher. Seitdem wanderten alle vier bis acht Jahre, solange dauerten ein oder zwei Legislaturperioden, alle Engel aus und neue, verkappte, selbstsüchtige und verlogene Tyrannen übernahmen das Ruder und überschlugen sich in immer größeren Schuldenbergen, ganze Gebirgsketten von Schulden, dass die Opferlämmer auf Generationen hin damit beschäftigt sein würden, alles zurückzuzahlen, was unter den oberen Zehntausend verteilt worden war, in der blinden Hoffnung, der nächste Regierungswechsel ließe ihnen den Grundbesitz und die Offshore-Konten.

      Während der Wintermonate machte es sich eine neue Kategorie von Touristen im Süden gemütlich. Dieses Mal waren es keine gewöhnlichen Touristen aus dem kalten Nord- und Mitteleuropa, sondern Ruheständler, die für eine Mittelschichtrente ein warmes und vor allem erschwingliches Plätzchen suchten. Mit den eingesparten Heizkosten ihrer kühlen Heimat ließ es sich in der Algarve angenehm überwintern, vorausgesetzt man wusste wie und wo, ohne in eine Touristenfalle zu tappen. Und dazu musste man sich unter die Einheimischen mischen, ihre Sprache lernen, ihre Geheimnisse erforschen — etwas von sich selbst preisgeben, aus der dicken Schutzhaut des Touristen herausschlüpfen oder aus dem Wohnwagen.

      Unserer mangelnden Rationalität erlegen, waren wir beide in ein tiefes Loch der Empfindsamkeit gestürzt. Der durchschnittliche Portugiese hinkt ein wenig der Evolution hinterher, wenn es darum geht, die Empfindungen zu bändigen — als handle sich es sich um einen noch wenig dressierten Lusitaner. Jene Empfindungen, noch so alt, waren zäh wie Rindsleder, alte Lieder aufdringlich — selbst die alten Schlagzeilen sprangen immer wieder in neuen Varianten aus dem Sack hervor und konnten schneiden wie ein Skalpell — wo immer wir auch versuchten vor ihnen zu fliehen. Überall begleitete uns eine mysteriöse, verborgene Ironie. Was wir auch taten, es schien niemals genug zu sein, immer zu spät, als seien alle Engel bereits fortgewandert, um in ihrer List die langsame Zerstörung ihrer Fassade zu verheimlichen, ohne forsch aus dem Dunkel ihrer Traumfabrik ins Licht der Wahrheit zu treten. Vollkommen abseits standen wir oft da, während andere sich amüsierten, bohrten beständig im Verborgenen kleine Löcher in die Wand, um die Menschengeschöpfe zu beobachten, formten uns unsere kleinen Teilansichten, um am Ende unser Mosaik zu vollenden, zufrieden mit unseren pedantischen Bohrversuchen.

      MANUELS GESCHICHTE

      Überhaupt war es für einen Weltbürger des einundzwanzigsten Jahrhunderts ein guter Morgensport, tatsächlich vor dem Frühstück eine beliebte Hypothese einzustampfen, um jung zu bleiben. Unumstößlich erschien mir doch die darwinistische These der Mutation, Selektion oder natürlichen Zuchtwahl, was bei Tieren wohl zutreffend ist. Der Mensch verzerrt und biegt sich diese Gesetze nach seinem Ermessen zurecht und korrumpiert die Chancengleichheit, um seine Konkurrenten auszuschalten.

      Alles war erlaubt, solange man nicht dabei erwischt wurde. Wo kein Kläger, da kein Richter. Besonders ausgeprägt im Verhalten des portugiesischen Volkes ist dessen Reaktion auf subtile Erbänderungen, die ein Organ oder Organgefüge ein wenig leistungsfähiger ausfallen lassen. Die Träger dieses Merkmals samt seiner Nachkommen wurden für alle nicht gleicherweise begabten Artgenossen zu einer Konkurrenz, der sie zahlenmäßig unterlagen. Schafften