Helder Colaço

BIBELJAGD


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große Augen machte vor dem Anblick der kleinen Versuchungen, die sich einladend vor ihm ausbreiteten.

      Das Ave-Maria des Kirchenchors drang zwischen die halb geöffnete Pforte nach draußen und weckte in mir alte Erinnerungen an Manuels Kinderstreiche als Messdiener. Schon früh ministrierten wir in der Kirche und verweigerten dem altmodischen Pfarrer da Motta traditionsgemäß die Soutane zu küssen. Verdächtig oft half er in der Pfarrküche aus und die jüngste der Pfarrköchinen belohnte ihn mit süßem Johannisbrot, haugemachter Butter und Marmelade, während ich in der Küche kiloweise Rüben schaben durfte, Kartoffeln aus eigenem Anbau schälte und sonst nichts zu denken brauchte und Manuel einen Bauch voll von Delikatessen hatte, die allen anderen versagt blieben. Nur um ihretwillen hatte er in der Pfarrküche ausgeholfen. Als er mir die Pfarrköchin mal vorstellte, begriff ich die Herkunft seiner seltsamen Motivation sofort. Mit einem Mal verstummte der Chor und es wurde still in der Kirche. Einige ältere, allesamt schwarzgekleidete Frauen knieten ehrfürchtig und gesenkten Hauptes auf den knarrenden Holzleisten vor ihren selbstangezündeten Kerzen und der heiligen Madonna.

      Der Chorleiter wollte soeben nach draußen eilen, da fragte ich ihn nach der rothaarigen Pfarrköchin und bemerkte, dass ich mich eigentlich nach dem Pfarrer hätte erkundigen sollen.

      »Die Pfarrköchin«, sagte der Chorleiter sichtlich erstaunt, »hat in Loulé ein Restaurant aufgemacht. Das Alegríssimo, glaube ich.«

      »Und der Herr Pfarrer?« besann ich mich.

      »Pfarrer da Motta ist in Lissabon. Geldprobleme, wegen der dringend notwendigen Restauration. Die Kirchenorgel hat auch einige Reparaturen nötig, sie wissen ja, Krisenzeiten. Wenn sie mich jetzt bitte entschuldigen möchten.«

      »Selbstverständlich, vielen Dank für die Auskunft«, konnte ich noch hastig von mir geben, aber der Chorleiter, der mich offensichtlich nicht erkannt hatte, war bereits verschwunden. Die Abwesenheit des Pfarrers stimmte mich etwas traurig, weil ich mich auf ein Wiedersehen gefreut hatte. Obwohl er recht altmodisch sein konnte, so waren seine Predigten einfach großartig und inspirierend. Und die Wirkung derselben spiegelte sich an jedem Sonntag in einer regelmäßig überfüllten Kirche wieder, was selbst in einem nahezu rein katholischen Land wir Portugal leider immer seltener wurde. Die orientierungslose Jugend, wie auch Manuel in frühen Jahren, wich fast gänzlich von der Religion ab und hegte von Anbeginn der religiös-sittlichen Unterweisungen des Katechismus ernsthafte Zweifel an den religiösen Grundwahrheiten und kam über das Niveau eines Laienkatecheten nicht recht hinaus. Aber was die Pfarrköchin anbelangte, so ließ Manuel gelegentlich auch während der Messe Einblick in seine Gedankenwelt. Eines Sonntags, als wir gerade in Reihe und Glied in Richtung Altar marschierten, um demütig die Hostie entgegenzunehmen, flüsterte er mir über meine Schulter hinweg zu:

      »Niemand kitzelt meinen Gaumen so sehr wir die Pfarrköchin, aber in der Polarität der Geschlechter stehend, gestehen wir unseren Leibern nicht zu, was wir unseren Seelen erlauben«, hauchte er, als hätte er den ganzen Morgen lang darüber nachgesonnen. Als wir wieder auf unseren Plätzen saßen, sah ich ihn an und mir wurde bewusst, dass er die Pfarrköchin zwar liebte, aber diesen persönlichen Sachverhalt niemals als Vorwand dazu benutzen würde, dass junge Mädchen über die Stränge einer platonischen Liebe hinauszuziehen. Und somit wandelte er eine profane Beziehung um in eine sakrale, den niederen Instinkten entsagende geistliche Verwandtschaft. Ihr reiner, eher naiver Glaube, faszinierte ihn. Meine Wenigkeit hingegen hätte den Verlockungen dieses überaus hinreißenden Wesens nicht lange widerstehen können. Und Gott weiß was geschehen wäre, wenn ich mich nicht aus reinem Selbsterhaltungstrieb in der Diaspora der Emigration verstrickt hätte.

      Bei einem relativ hohen Tidenhub der vergangenen Saison könnte ein Strandspaziergang allzu leicht zu einem unangenehmen Stapfen durch weichen Sand ausarten, so dass ich es vorzog, für den kurzen Weg bis zum Fischmarkt die Standpromenade zu benutzen. Die angebotene Artenvielfalt war erstaunlich. Zu meiner Verwirrung nahmen die Fischer neunzehn verschiedene Bezeichnungen in der Umgangssprache auf, für die etwa 11 Thunfischarten, neben den beiden amtlichen Bezeichnungen Atum und Bonito. Um diesen verwirrenden Sachverhalt zu kompensieren, hatten die etwa sechs Rochenarten nur eine einzige Bezeichnung: Raia.

      Unter der Woche war die Nachfrage gering, folglich bot man den Fisch zu etwa zwei Drittel des Wochenendpreises an. Die emsigen Algarvios meisterten ein mysteriöses Chaos, das unsereins zur Verzweiflung brächte. Seit Jahrhunderten waren sie versierte Händler und schienen mir auch als Charaktere viel zu konzentriert und ehrgeizig, als dass sie sich mit Imitationen und Nachäfferei zufriedengeben könnten. Das Meer würde immer eine Hauptrolle in der Zukunft der Portugiesen spielen. Es war nicht einmal fehlende Phantasie, sondern primitive Maulfechterei, die hinter der Unfähigkeit gähnte, sich auf taktvoller Art mit dem Tatbestand unseres menschlichen Daseins abzufinden. Den Ausweg aus der Wirtschaftskrise ausfindig machen zu wollen in den vergangenen 40 Jahren Demokratie, verwirrt mit einem aus den naturalistischen Menschenbild resultierenden, gekränkten Weltverbesserungswillen, der seine endgültige Niederlage zwar bereits eingesehen hatte, aber noch nicht aufgabt, um den Feind durch den Überraschungseffekt zu schwächen, war zum Scheitern verurteilt.

      Um Dom Isidros Fischtheke zu erreichen, musste ich quer durch die laute Halle gehen. Er bediente soeben eine reichlich mit Schmuck beladene Dame, die mit ausgestrecktem Zeigefinger unschlüssig zwischen den auf Eis gelegten Fischen hin und her wedelte, ohne auch nur einen beim Namen nennen zu können:

      »Ein Kilo von diesem dort, ja den, zwei Mittelgroße von diesen da, ja richtig, nein, die Kleineren. Perfekt, Danke! Oh – ich glaube ich habe die Schilder vertauscht. Entschuldigen Sie. «

      Beim Anblick jener weitverbreiten, wohlhabenden Beschränktheit befiel mich jedes Mal ein tagelang anhaltendes und dann immer wieder aufflammendes Entsetzen, angesichts der schreienden Gegensätze, einer fatalen Widersprüchlichkeit, in der unmäßiger Reichtum sich schamlos in der Gegenwart erniedrigender Armut brüstete.

      Dom Isidro deutete auf seine Uhr und gestikulierte weitere 5 Minuten. Nach einer Weile sprang er um die Theke herum und führte mich aus der Halle hinaus über den Parkplatz in ein kleines Kaffee. Nachdem wir in der Ecke Platz genommen hatten schaute er sich wiederholt bedächtig um und reichte mir einen Umschlag.

      »Olá. Ich war gerade kurz in der Kirche, da dachte ich mir, geh einfach mal den Isidro besuchen.«

      »Nur wegen meiner frommen Frau, um den Hausfrieden zu bewahren betrete ich noch eine Kirche oder kümmere mich um den Pfaffenkram.« warf er entschieden ein.

      »Was soll dieser Brief?«

      »Gut, dass ich das endlich los bin. Steckt ihn sofort weg. Wo kommst du eigentlich nach so langer Zeit her?«, sagte er in einem leisen Ton, in nur einem Atemzug, beugte sich noch näher heran und sprach zügig, »Man könnte uns beobachten. Hör genau zu, wir haben nicht viel Zeit. Damals war ich der einzige Überlebende des Unglücks. Der Tanker hat uns bei Nacht aus heiterem Himmel gerammt. Dein Großvater Chico hatte mir den Brief in der Nacht vor unserem Ablegen in Vilamoura zugesteckt. Ich war jahrelang sein Skipper gewesen und er vertraute mir. Jedenfalls konnte ich gerade noch zur Schwimmweste greifen und kam dann an Bord eines Kutters wieder zu mir. Dein Großvater war besorgt um euch wegen der Penha Lourinhos, Lancastre do Monte und Ferreiras – die immer noch an der Macht stehenden, einflussreichsten Familien Portugals. Seit Jahrzehnten versuchen sie an gewisse Familienerbschaften der Picos ranzukommen. Du musst der Sache nachgehen, sobald du kannst. Versprich mir das, hörst du? Ich muss jetzt aber los« ließ er verlauten und ging schnellen Schrittes, mit seinem breiten Seemannsgang zwischen den Tischen hindurch nach draußen.

      Mit einem Brief in der Tasche saß ich nun vor meiner vollen Tasse lauwarmen Kaffees und wünschte mir alles andere auf der Welt, als einen Abschiedsbrief oder irgendetwas, was mich noch weiter deprimieren konnte, als ich ohnehin bereits war. Außerdem wartete Manuel sicherlich schon, wie vereinbart vor dem Hotel, ohne auszusteigen oder sein Handy zu benutzen, in der Annahme ich wäre pünktlich.

      Wie angenommen, saß er in seinem gelben VW Käfer 1303 Cabrio gegenüber vom Hotel, dem Meer zugewendet, im Genuss von Beethovens Symphonie Nr. 5. Mit aufgedrehter Musik, war es ein leichtes ihn ausfindig zu machen. Sogar die Passanten drehten sich nach dem Spektakel um, während er im Rhythmus der Musik sein Ta-Ta-Taaam,