Helder Colaço

BIBELJAGD


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Auto – gutes Auto!« sagte der Mann, und hielt den Daumen gestikulierend vor dem Auge. Wie ich Manuel kannte, würde sogleich die Antwort herausschießen:

      »Die Portugiesen befinden sich seit rund 900 Jahren an der Schwelle der Rührseligkeit, während die Deutschen sich über jede einzusparende Sekunde in den Produktionsprozessen ihrer Autofabriken den Kopf zerbrechen.«

      »Donnerwetter, das ist ja ´n Deutscher!« murmelte der Tourist zu seiner Frau und machte eine 180-Grad-Kehrtwende.

      Stumm, ohne jede persönliche Begrüßung, wie üblich, fuhren wir hinaus aufs Land. Als aber nun Beethovens Moonlight Sonata erklang, konnte ich es nicht länger ertragen und schaltete das Kassettenradio unter Protest aus. Noch ging ihm kein Wort über die Lippen. Manuel führte mich bei Loulé in ein mir bis dahin unbekanntes Restaurant, das Alegríssimo. Als der Kellner an uns herantrat und die Menu-Karten reichte, erkundigte er sich nach der Chefin. Sie sei heute nicht da.

      »Das ist bedauerlich, es ist immer wieder eine Freude mit ihr zu plaudern. Die Pfarrköchin, erinnerst du dich?« klärte er mich auf. Dann bestellte für beide eine Caldeirada, begleitet von einem roten Vinho Verde aus Amarante, weil, wie er immer wieder betonte, die angenehm frische Säure auf so wunderbarer Weise mit dem Fischgeschmack und den Gewürzen harmoniere. Als die mir die Warterei auf die angekündigte Geschichte sichtlich auf die Nerven ging, waren wir bereits beim Dessert angelangt. Als dann die Bica serviert wurde, bestellte er noch einen dieser Medronhos, der gewöhnlich aufs Haus ging, bevor er mit seiner Geschichte begann.

      »Eines möchte ich aber noch wissen. Wohin bist du am Tag vor deiner Abreise abgetaucht? Ich konnte dich nirgends finden.«

      »Vor dem Flug nach Deutschland bin ich Richtung Norden gewandert, einfach drauf los.«

      »Erzähl!« beharrte er auf eine Erklärung.

      »Also gut. Ich ging ziellos umher. Zwei Wandertage nördlich der Serra do Caldeirão, kurz nach dem Ausgang des Dorfes, hinter der Stelle, wo die Straße von Guedelhas nach Monte da Vinha zweigt, im Süden des Alentejo, sah ich eine Gruppe von Feldarbeitern. Sie hatten sich unter der schützenden Baumkrone der weit und breit einzigen Korkeiche versammelt und gingen in alle Himmelsrichtungen auseinander. Ein junges Mädchen blieb in zurück und summte ein Liedchen vor sich her, während sie mühevoll mit der Sichel die Arbeit verrichtete, die ein Mähdrescher in Sekunden erledigt hätte. Allein in der heißen Öde, unter der blendend hell leuchtenden Glocke des Himmels, vernahm sie meine Schritte, richtete sich auf, legte die Hand über die Augen und sah zu mir hin. Es mussten weniger als zehn Meter gewesen sein, die uns noch voneinander trennten. Als unsere Blicke sich kreuzten war es lediglich die kleinste subtilste Reizenergie, die ein Mann bemerken kann. Jene absolute Schwelle, jener Minimalbetrag physikalischer Energie, der nötig war, damit zuverlässig und deutlich wahrnehmbar eine Sinnesempfindung zustande kommen konnte und sogleich maßlos überschritten wurde. Von einer pulsierenden Faszination ergriffen schritt ich über die Stoppeln zu ihr hin. Zunächst ging kein Wort über unsere Lippen. Was dann folgte war möglicherweise nur die logische Konsequenz der natürlichen Anziehungskraft. Was dann gesprochen wurde, das vermag ich niemals zu sagen. Gewiss war, dass mein Rucksack nach wenigen Minuten zu Boden viel und nur noch eine Handbreite zwischen unseren verschwitzten Körpern lag. Sie trug nur ein weißes Hemd über einem T-Shirt, das heiß war und feuchtgeschwitzt. Auf ihrer Stirn bildeten sich Schweißperlen, die sie in kurzen Abständen mit den Ärmeln abtupfte. Der Hauch, der von ihrer jungen Kraft ausging, raubte mir die Sinne und sogleich den Atem, der immer jungen, fruchtbaren Erde. Nur einen vergänglichen Augenblick lang war jene überaus seltsame, unterschwellige Wahrnehmung präsent, welche sich nicht dingfest machen ließ, weil sie über die Dimensionen visueller Erfahrungen hinausging. Und es waren auch keine Phantasien die sich freizügig ihrem Lauf hingaben oder notwendigerweise eskapistische Unternehmungen, sondern ein Weg, dem Mysterium des Lebens mit respektvollem Staunen zu begegnen. Gerade als ich ganz hingerissen war von der natürlichen Schönheit, zwang eine innere Stimme mich dazu, die Contenance zu bewahren. Die langen Montage städtischer Enthaltsamkeit, in denen ich als Angestellter zu körperlicher Untätigkeit verdammt war, türmten sich vor mir auf wie eine Mauer. Der Drang meiner jungen Jahre hätte in diesem Augenblick in gleichem Maße mein Leben zerstören sowie ein neues schaffen können, wäre ich nicht rechtzeitig zur Besinnung gekommen. In Gedanken nur stellte ich mir vor, ihren weiten, offenen, gesunden, törichten Mund zu küssen, an den Knöpfen ihres Hemdes zu reißen, ihre reifen, festen Brüste zu liebkosen, mein Gesicht in ihre Brust zu wühlen, Augen und Mund badend in ihrem jungen Duft, von einer ungeheuren, brausenden Anziehungskraft in ein neues, ungewisses Schicksal gestoßen. Als mir das Blut in die Augen stieß und ein Taumeln meine Sinne ergriff, wurde ich mir schlagartig bewusst über die Gefahr der Situation und machte mich ebenso schnell davon wie ich in der ländlichen Idylle erschienen war. Wie leicht wäre es gewesen, sich von den Gefühlen treiben zu lassen unter der brennenden Glut des Gestirns, ohne zu wissen, wer ich war, was ich tat oder wen ich besaß. Was kümmerte die Natur diese Grenze? Doch wehe dem der sie überschritt.«

      »Sieh an, sieh an, ganz der Verführer. Beachtliche Selbstbeherrschung. Meine Geschichte ist anders. Aber vorher noch dieses Foto – ich möchte, dass du es behältst.«

      Er reichte mir ein altes Schwarz-Weiß-Foto von der Heuernte. Es hatte auf der Rückseite einen Vermerk: meine glückliche Familie bei der Heuernte. Das vergilbte Foto schleuderte mich sogleich in die längst vergangene Zeit zurück. Nach der Heuernte waren die Schuppen randvoll. Ärmere Nachbarn durften sich nehmen, was sie brauchten. Als der erste Mähdrescher kam, ein blaulackiertes, heuballenspuckendes Monster, und die Produktion stieg, wurden viele Arbeiter eingestellt, um eine regionale Logistik aufzustellen, mit langen Listen bedürftiger Bauern, die das Heu kostenlos geliefert bekamen. Die Postboten wurden dazu erwählt, diese Listen zu erstellen, weil sie täglich Kontakt mit den Bauern hatten und bestens über dessen Schuldenverhältnisse informiert waren. Das Foto war während der Heuernte 1975 aufgenommen worden und zeigte eine glücklich grinsende Gruppe vor einem Pferdekarren, der stets herangezogen wurde, wenn der LKW wieder monatelang wegen fehlender Ersatzteile in der Werkstatt stand. Großvater Chico trug eine Lederweste und hielt einen Heurechen in der Hand. Sein Hut warf einen Halbschatten auf eine Gesichtshälfte, die vor Schwärze unkenntlich war. Neben ihm Großmutter, die sich in ihrem Baumwollkleid mit blauen, aufgedruckten Azulejos-Muster dazugesellt hatte, vor ihr auf dem Boden, Manuel und ich, beide mit gekreuzten Beinen. Anstatt in die Kamera zu schauen, blickten wir hinab auf den vor uns sitzenden Hund, der Labrador des Nachbarn, der sich bewegt hatte und auf dem Bild als ein grauverschwommener Schatten zu sehen war. Das war die Zeit in der Manuel versucht hatte mir zu erklären, wie man mit dem Pflug umging. Die Furche, die ich durch das Feld zog glich der Kurve eines Elektrokardiogramms. An der ersten Hecke begriff ich, dass mich das Unterfangen überforderte, denn bei der Kehrtwende erschraken die großen Pferde, verwirrt von meinem ungestümen Ziehen an den Riemen.

      »Schau dir die Furchen im Hintergrund an. Erkennst du die Linienführung?« erinnerte sich Manuel.

      »Wie eine Aktienkurve!« bestätigte ich und reichte ihm ein Stückchen Mandelkuchen. Wortlos nahm er an.

      »Mmmh, vorzüglich! Schmeckt wie, na eben wie, früher?« sagte er mit vollem Munde.

      »Gleicher Ort, gleicher Händler, gleicher Bäcker!« bestätigte ich.

      In den darauffolgenden Tagen lebte ich nur noch in der Erwartung der Fortsetzung. Manuels Erzählstil war geprägt von Zeitsprüngen und Erinnerungsfetzen, indirekter Rede und wechselnder Perspektive; aber doch in sich geschlossen, erfüllt von Sehnsucht, Sinnlichkeit und Leidenschaft, Tristesse und Tragik. Manuels religiöse Anläufe konnten für die gelassene Seelenruhe eines begnadeten Gläubigen nur die Verrenkungen eines Ästheten sein.

      Noch war mir schleierhaft, inwiefern ich Teil der Geschichte werden sollte. Er erzählte zunächst von der visuellen Kraft der Bilder, verlor sich anschließend aber in Beschreibungen des ihn umgebenden, exotischen Landschaftstableaus. Seine Wortwahl ließ unweigerlich auf das Vokabular eines im Künstlermilieu angesiedelten Verliebten schließen, der sich in eine Beziehung gestürzt hatte, die auf rätselhafte Weise ein Mysterium auflöste. Da aber diese Beziehung in keinerlei Hinsicht etwas mit dem schnellen Konfetti-Konsum unserer Zeit zu tun hatte, stellte