Helder Colaço

BIBELJAGD


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um die Berührung von Schwertern und Bomben mit menschlichen Leibern, noch um die Berührung von Stahl und Fleisch zum Zwecke des Todes, weder um die lukullischen Berührungen von Nahrung und Gaumen, noch um die Berührungen, die in unzähligen Benimm-Büchern ausgiebig abgehandelt wurden - sondern ihm ging es um die wirklichen Berührungen der Menschen, ihrer Herzen und ihrer Liebe. Wie grenzenlos und unfassbar diese Berührungen auch sein mochten, so glaubte er fest daran, sie in Worte fassen zu können.

      Alles begann damit, dass Manuel Pico sich auf die Suche nach einem Ort machte, in dem nicht nur die Zeit, sondern bewusst auch die Uhren stehengeblieben waren. Von Loulé aus ging er in Richtung der Serra do Caldeirão, einem der entlegensten Gebiete der Algarve. Eine Alternative zum Meer, dachte er, und weniger bekannt als der Fóia und der Picota, die höchsten Punkte der westöstlichen Mittelgebirgsriegel. Nach Norden hin lenkten hintereinanderliegende Hügel und Senken seinen Blick fast zehn Kilometer weit bis zum Fuß des Caldeirão Gebirges. nach Süden hin sah er alle Täler, sie sich wie Adern auf einer Greisenhand zur Küstenebene und dem stahlblauen Meer hinzogen.

      Die Erinnerungen kamen schon eine Wanderstunde später in großen Schüben. Es war an einem der ersten sonnigen Tage im Frühjahr. Manuel ging mit seinem verschlissenen Rucksack einen schmalen Weg entlang, der in sanfter Windung zu einem kleinen Tal führte, an Wiesen und Gärten vorbei, die von gewölbten Steinmauern umsäumt waren. Die einst wohl bestellten Weingärten waren verdorrt und verkümmert, weil ihr Verkauf des Landes lukrativer war als der schweißtreibende Weinbau oder die Medronho Produktion, zumindest kurzfristig.

      Im Winter bemerkte man den auffälligen Charakter der Feigenbäume, deren bizarres, sonst von großen Feigenblättern verdecktes Geäst sich entblößte. Den Sommertouristen blieb dies vorenthalten, ebenso wie der Anblick reifer Orangen und Zitronen, die dem üppigen Farbspektrum eine besondere Note verliehen. Doch was den Touristen nicht entging, war das Meer, die Steilküsten mit den Vorgebirgen, Buchten, Klippen und Grotten, Inseln und Sandbänken, den weit ausgedehnten Sandstränden, Dünen und Lagunen. Immer mehr Hotels eroberten die Küste. Tief war die Wunde, die der Tourismus zurückließ. Jeder ausgeplauderte Geheimtipp stellte nur einen weiteren Verrat dar.

      Nie konnte Manuel sich sattsehen am Schauspiel der Natur. Manchmal, wenn er morgens die Augen öffnete, war es, als bräche in ihm eine Welt zusammen - doch dann, sobald er wanderte, war es, als blühe neues Leben aus den weit verstreuten Ruinen. Und in jenen Tagen ergötzte er sich wieder, auf eine scharfsinnige und hingebungsvolle Weise, an allem Schönen seiner kleinen Welt.

      Die schmalen Wege schlangen sich im ständigen Auf und Ab um die Berge. Etwas in ihm war tief beeindruckt von der Unberührtheit dieses Reiches. Die weiten Aussichten wirkten wie die Farbtupfer eines Van-Gogh-Gemäldes auf den stillen Betrachter ein. Doch schließlich vermengte sich Freude mit der Furcht, Furcht gegenüber einer ungewissen Zukunft.

      Er ging über die gestoppelten Hügelwellen in Richtung Norden. Damals war er oft mit Großvater „Chico“ in diese Gegend gewandert, auf alles eine Antwort suchend in seiner kindlichen, unersättlichen Neugierde. Zu seinem Erstaunen hatte er immer eine Antwort bekommen, zumindest eine vorläufige. Mit zunehmender Müdigkeit fühlte er sich freier und zugleich benommen von dem Rausch dieses Ausflugs an die Vorgebirgsketten seiner Kindheit.

      Unten im Tal breitete sich königsblau ein See aus, dessen Namen er längst vergessen hatte. In ihm schlummerte noch die Erinnerung an jenen Spätsommernachmittag, an dem er seinen ersten Fisch geangelt hatte. Er hatte sich auch gleich mit dem Fisch angefreundet, so dass ihm am Abend die Caldeirada, der berühmte und besonders schmackhafte Fischeintopf, den er immer bestellte, nicht bekommen war. Die Aussicht auf das Tal hypnotisierte ihn. Ihm war, als hätte er einen geheimen Ort betreten, der nicht für menschlichen Besuch gedacht war. Eine Weile verharrte Manuel noch stumm am Abhang, dann holte er etwas Schafskäse mit Brot und Rotwein aus seinem Rucksack. Während er aß, ließ er alles auf sich einwirken. Die Vegetation erschien ihm wuchtiger und archaischer als in der Übrigen Region. Wo sonst, wenn nicht an diesem Ort, konnte er seine verschwommene und mythische Vorstellung von der Provinz vervollständigen und dingfest machen? Das Wesen der ursprünglichen Gesellschaft hatte sich in den umliegenden Dörfern am reinsten erhalten: eine extreme, nahezu mittelalterliche Armut. In dieser erstarrten Gegend eines unruhigen Europas hatte er einst beobachten gelernt, regungslos und tagelang.

      Ein knarrendes Geräusch, wie das einer alten Kutsche, riss Manuel aus seinem Tagtraum. Er wandte sich erschrocken um und sah einen alten Mann missmutig neben einem Carrinha hergehen, einem großen zweirädrigen, mit allen Grundfarben bemalten Karren. Als der alte Mann Manuel am Wegesrand bemerkte, erschrak er ebenfalls, hielt den Karren an und gab dem Maultier mit gravitätischer Gelassenheit einen entschiedenen Klaps:

      »Ruh´ dich aus, Brauner!«

      Das Zugtier schien an derlei Sprüche gewöhnt zu sein. Der alte Mann kam auf Manuel zu:

      »Schöne Gegend, nicht wahr?«

      Manuel verstand die rhetorische Frage.

      »Ich bin Magnussen, guten Tag!«

      »Angenehm, Pico, Manuel Pico, guten Tag!«

      »Pico?! Kommt mir irgendwie bekannt vor. Na ja, haben Sie etwas dagegen, wenn ich mich eine Weile zu Ihnen setze? Ich möchte mich ein wenig ausruhen. Das Pferd ist zwar ein hervorragender Zuhörer, aber ein miserabler Gesprächspartner.«

      »Keineswegs! Sagen Sie, Senhor Magnussen, Ihr Name klingt aber nicht nach dem eines Algarvios, wenn ich das so sagen darf.«

      »Nein, ich bin vor fast fünfzig Jahren aus Schweden hierher umgesiedelt, weil ich mich schlicht und einfach verliebt habe in dieses Fleckchen Erde.«

      »Damals gab es Abba nicht. Warum also weglaufen alter Schwede?« Sie lachten, als seien sie schon länger miteinander befreundet. Senhor Magnussen erzählte von seinem Bruder in den USA, wo mehr Portugiesen leben als südlich vom Tejo.

      »Dort kann man gutes Geld verdienen, aber«, er unterbrach sich selbst, blickte auf die Berge, sich behutsam wendend, um keinen von ihnen auszulassen, nahm jeden Farbton in sich auf und sah auf ein kleines, weißes Dorf unterm blauen Himmel und verharrte dann mit seinem Blick in südlicher Richtung auf irgendeinem fiktiven Fluchtpunkt in der Ferne, »wo auch immer man ist, die Sehnsucht lässt nicht eher locker, bis man schließlich hierher zurückkommt. Diesen besonderen Ort kann man nicht richtig verlassen. Man hat mir niemals das Gefühl vermittelt, Ausländer zu sein. Die Gastfreundschaft der Menschen hier ist einfach bewundernswert. Aber ich fürchte um die kulturelle Identität dieses Landes. Sie wird verfremdet vom Konsumdenken Europas. Was nützen uns die neuen Hotels überall, wenn unsere Provinz bald von keiner anderen mehr in Europa zu unterscheiden ist? Kahle Küstenplateaus verschwinden unter Bungalowsiedlungen. Selbstverständlich - innerhalb von fast vier Jahrzehnten haben die Portugiesen eine schnelle und unkontrollierte Entwicklung durchgemacht, die zu sehr vom Tourismus abhängig ist, da sind Bausünden unvermeidbar.«

      »Wie wahr! Sagen Sie, was machen Sie beruflich?«

      »Ich bin weit und breit der einzige Töpfer, der noch alcatruzes herstellt. Ich stamme aus einer wohlhabenden Familie, aber ich mag keinen Luxus und muss mich irgendwie beschäftigen. Mein Handwerk habe ich damals von Senhor Barros gelernt, der seiner Zeit sehr bekannt war. Er ist wie ein Vater zu mir gewesen. Nach seinem Tod habe ich die Tradition weitergeführt.«

      Senhor Magnussen sagte das ohne Wehmut, wie jemand, der sich längst nicht mehr damit beschäftigen musste, Geld zu verdienen und Reichtum anzuhäufen, um es wie eine Amme zu wiegen. Wie einäugig der Mensch sein konnte, der nur die zurückgebliebene Wirtschaft der „Hinterwäldler“ beachtete! Wer Argusaugen hatte, entdeckte die eigentlichen Werte und die alten Traditionen der friedliebenden Algarvios wieder. Anhand der vielen Details war es Manuel möglich, ganze Episoden seiner Vergangenheit zu rekapitulieren.

      »Erzählen Sie mir etwas über die alcatruzes!« bat Manuel.

      »Das sind große Tonkrüge, etwa 25 cm hoch und mit einem Durchmesser von mehr oder weniger 20 Zentimetern. In Abständen von drei Metern binde ich sie zu einer rejêra, einem Netz, zusammen. Eine rejêra lässt sich beliebig verlängern. Das können bis zu 400 Krüge