Helder Colaço

BIBELJAGD


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Ich bin zu alt geworden für diese Schwerstarbeit.«

      Manuel sah den Töpfer an, den Schlag von Mensch, der auf einem Vulkan tanzt, frohen Mutes, den Schnee verflossener Jahre im Herzen, fernab von den Plänen Europas. So geschah es, dass sie in einen Diskussionsstrudel um das Wertebewusstsein der Algarvios gerieten. Wenn Manuel auch nur den Versuch andeutete, Senhor Magnussen zu widersprechen, breitete sich ein Lächeln über sein Gesicht aus, wie ein Betäubungsgas in einem abgeschlossenen Raum - absolut wirksam. Dann redeten sie über die Emigration, über Ausländerhass - ein Fremdwort, das die Algarvios nur aus Zeitungsberichten kannten. Die Rassendiskriminierung hielt bereits ihren schleichenden Einzug in den westlichen Teil Quarteiras, den Wellblechhüttenslums, in denen vorwiegend die billigen Arbeitskräfte aus den ehemaligen Kolonien hausten, ausgemergelt und ausgebeutet, um die Betonwüste zur Befriedigung der Touristenmassen zu vergrößern, vor allem aber zur Bereicherung skrupelloser Bauspekulanten. Die soziale Ungerechtigkeit wucherte einem Tumor gleich in den dunkelsten Gehirnwindungen der Unterdrückten. In der Nacht wurden die Straßen unsicher. Von der Zeit, in der die Häuser nicht abgeschlossen worden waren, weil fast alle miteinander verwandt oder befreundet gewesen waren, erzählten nur noch einige wenige Geschichtsbücher, deren Verfasser der Salazar-Diktatur den einen oder anderen positiven Aspekt abgewinnen konnten - und das waren die wenigsten.

      Senhor Magnussen war längst weitergezogen, und Manuel schaute wieder auf das Tal hinab. In seinem Kopf stauten sich die Gedanken. Der alte Drang zum Schreiben stellte wieder ein und ergriff von ihm Besitz. Er nahm das Schreibzeug, das er immer bereithielt, ganz gleich wohin er ging, bloß damit er sich seine Visionen aus dem Leib schreiben konnte, oder um die Texte anschließend an die Fado-Sänger oder sogar den neulich in der Musikszene auftauchenden „Luso-Rappern“ zu verkaufen:

       Emigration

       Ein alter Mann unbekannter Nation

       fragte mich nach der Emigration;

       was ihr Grund sei und ihr Wesen,

       man könne es nirgends lesen.

       Ein Selbstverrat, eine ungewisse Heirat,

       Verhängnis, Schicksal, blutiges Hemd -

       in der Fremde keine Heimat

       und die Heimat so fremd...

       Eine vage Hoffnung innerer Unruhen

       sehnsüchtiger Träumer in Wanderschuhen…

      Ein Wort ergab das andere, sowie die Emigration den Ausländerhass nach sich zog. Die Verse reihten sich aneinander wie ein langer Güterzug, ratarataratt - und die Ladung konnte eine teure Ware sein. Jede Facette seiner Weltanschauung wurde von neuen Erfahrungen korrigiert.

      Er musste sich schließlich selbst eingestehen, dass doch etwas mehr an diesem Land dran sein musste, als er sich in seiner lückenhaften Erinnerung vorgestellt hatte. Wie eine Wundsalbe trug Manuel die Worte zusammen und massierte sie sich sanft ein, flößte sich Mut und Selbstvertrauen ein, flickte sein zertrümmertes Ego wieder zusammen und glaubte wieder an eine mysteriöse Kraft, die seine eigene Bedeutungslosigkeit überstieg.

      Trotz der vielen Rückschläge und Enttäuschungen arbeitete er beharrlich weiter an dem, woran er glaubte. Seine außergewöhnliche Begabung zur Hartnäckigkeit war keine Garantie für den Erfolg. Ihm war bewusst, dass er durch die Zuversicht, die ihm sein Talent schenkte, nur allzu leicht dazu verleitet werden konnte, weniger erfolgsorientiert an seinen Zielen zu arbeiten. Er wünschte sich, dass dieses Land niemals heimgesucht werden würde von der Seuche, der Senhor Magnussen erfolgreich entronnen war:

       Ausländerhass

       Wie gern ignorieren wir ihn,

       wenn wir beängstigt unser Leben führen?

       Wenn wir der Menschlichkeit entfliehen,

       bekommt der Fremde ihn zu spüren.

       Unermüdlich ist die Jagd nach dem Geld,

       und jeder sich selbst der nächste,

       auf Kosten der hungernden Welt -

       Hand in Hand in heuchlerischer Geste.

       Ein Bericht steht in der Zeitung

       und wird gelesen nach sattem Essen;

       es wird gesendet als eine Aufbereitung,

       hingenommen, verdaut, vergessen.

       Schon die Wortwahl ist suspekt,

       scheint nicht recht zu passen -

       Staatsbürgerhass wäre korrekt.

       Es sind nicht die Ausländer, die hassen.

      Nun hatte er Zeit und Muße, um zu schreiben, frei heraus, seine persönliche Geheimtherapie.

      Die unberührte Vegetation, die sich vor seinen Augen erstreckte, ließ nach unzähligen, scheußlichen Tagen den gewaltigen Eisblock in seinem Herzen schmelzen. Seine Einsamkeit störte ihn nicht länger, denn die Natur hatte auf alles eine Antwort. Auch hatte er eingesehen, wie wahnsinnig und vermessen es gewesen war, jahrelang geglaubt zu haben, einen Menschen besitzen und die Welt um sich herum nach eigenen Interessen gestalten zu können.

      Er sah in der Ferne ein Dorf an einem Abhang. In den winzigen Reihenhäusern saßen die Familien bei Tisch, im Fernsehen liefen die Telenovelas, so die portugiesische Bezeichnung für die stets neu aufgewärmten Seifenopern mit stets das gleiche Darstellen und wechselndem Hintergrund. Die Kartoffelreste vom Mittagstisch wurden zu Bratkartoffeln aufbereitet oder eine der über tausend Stockfischgerichte à Brás serviert — den Gerüchen nach zu beurteilen.

      Die Jalousien waren noch lange nicht heruntergezogen in dieser fröhlich-betriebsamen Nacht. Niemand störte sich an die sich überschneidenden Geräusche verschiedener Musikinstrumente, dessen Besitzer fleißig bis tief in die Nacht übten, ohne dass sich jemand beschwerte, denn sie wussten, wer beim Dorffest Musik haben wollte, der musste diese Prozedur über sich ergehen lassen.

      In der Dunkelheit stolperte Manuel einige Male, ehe er einen geeigneten Schlafplatz ausfindig gemacht hatte. In dieser Nacht genoss er sorglos den Duft der Mandelbäume, der ihn sanft in einen tiefen Schlaf wog, lange genug, um etwaige trübe Gedanken zu vertreiben. So lange schon hatte er sich danach gesehnt, im Freien zu schlafen. In dieser Flucht, die auch zugleich eine Suche war, fieberte er einem gewissen Etwas entgegen, das noch ganz im Verborgenen lag, frei von den konventionellen Meditationen der Christensippe, von einem paradoxen, unklaren Zögern ergriffen, als ob er an der Schwelle eines entscheidenden Ereignisses stünde, das Glückseligkeit oder auch den Tod mit sich bringen könnte. Dieser mehrdeutige Zustand hatte ihn inspiriert, während er alles Religiöse verdrängte und sich alle Christen und Jesuiten als Minensetzer eines eitlen und intoleranten Gottes ausmalte. Das helle Licht des vom Mondschein beleuchteten Tals überstrahlte seinen friedlichen Gesichtszug und sein tiefes Geheimnis. Schlafend vollzog er seine metaphysischen Streifzüge auf der Suche nach einem Schutzwinkel und dem Rhythmus eines neuen Lebens, zu dem er sich notwendigerweise erst herantasten musste.

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