Helder Colaço

BIBELJAGD


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Mal gesehen hast, verfolgt es dich wie eine unheilbare Sucht.«

      Während ich in Richtung des Fischmarktes ging, fielen mir unzählige Veränderungen in Quarteira auf. Es hatte sich zur Touristenstadt gemausert. Eine ruppige Lebensenergie, die nicht nur von den vergnügungssüchtigen Touristen ausging, hing in der Luft. Nur der Fischmarkt hatte sich kaum verändert. Dom Isidro hatte seine halbgefüllten Fischkisten an der gewohnten Stelle aufgestapelt. Als ich näher trat, war er gerade damit beschäftigt, Salz und Eis über die Fische zu streuen.

      »Dom Isidro, tüchtig wie immer!« begrüßte ich ihn überschwänglich. Er vergaß seine salzigen und eisigen Hände und umarmte mich fest.

      »Du hast mich also nicht vergessen!« sagte er und klopfte mir dabei auf die Schulter. Nun roch ich ebenfalls stark nach Fisch. Davon nahm Dom Isidro keinerlei Notiz, stattdessen rief er lautstark zu einem seiner Kollegen rüber:

      »Tóino, übernimm mal für eine halbe Stunde. Wir geh ‘n zu Martins!« Tóino winkte, ohne ein Wort zu sagen. Sie verstanden sich offenbar recht gut. Zu meiner Erleichterung waren bei Martins noch andere Fischer, so fiel der Abklatschgeruch meiner Kleidung weniger auf. Dom Isidro bestellte zwei „bicas“, ein besonders aromatischer Mocca, und zwei Macieiras, dessen cognacähnlicher Geschmack vortrefflich mit der „bica“ harmonierte. Ich fragte ihn, warum er als Serrenho, als ein Mann der Serra do Caldeirão, ausgerechnet Fischer geworden sei.

      »Aus Tradition vielleicht. Vor allem aber, weil ich das Meer liebe und die Fische, bis auf die dummen, die sich fangen lassen.« Wir schmunzelten.

      »Wohin, denkst du, wird der Tourismus uns führen?«

      Als ich ihm diese Frage stellte, sah er abwesend in seinen Cognacschwenker wie in eine verheißungsvolle Kristallkugel, die einen Blick in die Zukunft gewährt. Dann sagte er mit starrem Blick:

      »Der Mensch ist nicht wie ein Segelboot, das keine Spuren auf dem Meer hinterlässt. Wir bauen unsere Wirtschaft zu sehr auf den Tourismus auf. Wenn man damit anfängt, ist es immer schwierig zu kontrollieren. Die Ansprüche der Touristen steigen immer weiter. Nur wenige sind in der Lage, diesen Anforderungen zu entsprechen. Wo führt das hin? Noch mehr Raubbau? Der Druck ist gleichermaßen politisch wie finanziell. Wir sind dabei unsere kulturelle Identität zu verlieren.«

      Kaum hatte er ausgesprochen, trank er den Macieira in einem einzigen Schluck aus. Dann wurde er wieder fröhlich und forderte mich auf, eine Havanna mit ihm zu rauchen:

      »Dein Großvater „Chico“ hat immer gerne mit mir geraucht, obwohl er vierzig Jahre mehr auf den Buckel hatte als ich. Er war ein großartiger Mensch. Sein unbändiger Charakter...«

      Ich genoss es, wenn Dom Isidro von meinem Großvater „Chico“ erzählte. Manchmal wurden seine Augen dabei feucht, und ich wusste nicht, ob es an den Erinnerungen lag, an der portugiesischen Epidemie, der sie die seltsamen Bezeichnung Saudade gaben, einer Art krankhaften Sehnsucht nach den alten Zeiten, an seiner Vorahnung von dem, was noch kommen würde, oder an allem zusammen. Wie schön es auch war, auf die Dauer wurde es eher unbehaglich, dieses Früher war ja alles so viel besser, oh diese Gegenwart…

      Mir war völlig entfallen, dass Manuel mich aufsuchen wollte. Ich hatte vollkommen vergessen, wie wunderbar eine gute Zigarre schmecken konnte, besonders wenn man sich dabei mit einem alten Freund unterhielt. Wie wohltuend die einfachsten Dinge des Lebens sein konnten, wenn man sie zu schätzen wusste. Einfach herrlich, vorausgesetzt, man ignorierte den Fischgeruch, oder man hatte sich an ihn gewöhnt. Wir hatten wirklich gelernt, uns zu bescheiden und an den schlichten Dingen zu erfreuen, über die man in einer Wohlstandsgesellschaft längst hinwegsah. Man nahm sich Zeit, um einige höfliche Worte zu wechseln. Das Handy nahm man selten in die Hand, vergaß absichtlich das neu erworbene iPad aufzuladen, ignorierte die Nachrichten, die aus den überall ausgehangenen Flachbildschirmen zu uns drangen, besuchte sich dafür aber umso häufiger, ohne besonderen Anlass, spontan und unverhofft, so dass die Hand frei blieb für einen freundschaftlichen Händedruck. Wie sehr ich vermisste, was gerne als Belanglosigkeit bezeichnet wurde, weil es nicht mit dem Bild des fortschrittlichen, stressgeplagten Europäers oder mit den geräuschvollen Zeichen des Wandels in Einklang gebracht werden konnte.

      Dom Isidro verabschiedete sich. Er entschuldigte sich, so wenig Zeit zu haben. Aber beide wussten wir, dass wir uns noch öfter sehen würden.

      »Noch was – erinnere mich beim nächsten Mal daran, dir den Brief zu geben, den „Chico“ hinterlassen hat. Erst wenn mächtig Grass über die Sache gewachsen ist, sollte ich ihn dir übergeben. Komm morgen zum Fischmarkt, unbedingt, es ist wichtig!« warf er noch ein, als er sich bereits abwendete.

      Ehe ich auch nur ein Wort sagen konnte, stand ich allein an der Theke, verwundert und brennend neugierig zugleich.

      In der Hoffnung, dass Manuel nicht schon auf mich wartete, begab ich mich im Eilschritt ins Hotel. Erst als sich zahlreiche Gäste naserümpfend nach mir umdrehten, bemerkte ich den abartigen Fischgeruch, der aus den Fasern meines Hemdes strömte und einen Schweif hinterließ, der, wie mir José Rosa im Nachhinein bestätigte, noch für Stunden wie der Geist Neptuns in der Empfangshalle sein Unwesen trieb.

      Ich fand eine Nachricht vor, und der Concierge überreichte mir gleichzeitig die Schlüssel von Manuels Wohnung. Nachdem ich ein Bad genommen und frische Kleidung angezogen hatte, besorgte ich mir eine Tageszeitung und machte mich auf den Weg. Auf der Titelseite protzte ein Foto des Palácio dos Viscondes de Estói. „Dornröschens Schloss“ war also endlich verkauft worden. Es war angeblich zu einer Pousada umfunktioniert worden. Die hohen Restaurationskosten, die aufgrund des Denkmalschutzes nicht gerade gering waren, übernahm in diesem Falle wieder der Steuerzahler.

      Dann fiel mir eine weitaus interessantere Schlagzeile auf: HOTELKOMPLEX BEI FONTE SANTA GEPLANT. Ich konnte meinen Augen nicht trauen, blieb vor Entsetzen stehen und machte mir Luft:

      »Wie ist das nur möglich?«

      Einige Passanten musterten mich erstaunt. Nervös las ich weiter. Die Wasserqualität der Quelle „Fonte Santa“ sei mehreren Laborberichten der Wasserwerke in Faro zufolge, entgegen allen Erwartungen, nicht hochwertiger als gewöhnliches Trinkwasser. Schon Großvater „Chico“ hatte immer von dieser Quelle geschwärmt. In meiner frühesten Kindheit hatte mich dieses Wasser innerhalb von nur drei Tagen von lästigen Schuppen befreit. Und nun lag es an mir, die Quelle vor gewissenlosen Bauspekulanten zu schützen. Zahlreiche Bohrungen in unmittelbarer Nähe hatten die Quelle schon fast ausgetrocknet, weil der junge Erbe der umliegenden Ländereien offenbar unfähig war, sein Land rationell zu bewässern. Folglich sanken die Erträge, und er beschloss zu verkaufen. Quarteira war dabei, dem miserablen Beispiel anderer Städte zu folgen und seine Seele an den Tourismus zu verkaufen. Es war unerträglich, diesem Schauspiel tatenlos zusehen zu müssen.

      Manuels Wohnung lag in der nördlichen Altstadt. Ich war angenehm überrascht vom glänzenden Marmor im Wohnzimmer, vom antiken Bechstein, von den hervorragenden Kopien von Marc Chagalls „Die Liebenden in Grau“, „Die blaue Landschaft“ und „La femme au bouquet“. In meiner Bewunderung übersah ich eine Blumenvase neben dem Kanapee und stolperte vornüber auf die Kommode. Die Vase blieb erstaunlicherweise unbeschädigt. Nachdem ich alles wieder auf seinen Platz gestellt hatte, ging ich ins Badezimmer, um mir die Hände zu waschen. Gleich neben der Badewanne stand ein winziger Marmortisch, auf dem sich ein einsames Glas, eine leere Flasche Dom Perignon und ein Diktiergerät befanden. Ich war neugierig und hörte mir das Band an. Nach Sekunden undefinierbarer Geräusche konnte ich ein Geplätscher identifizieren und dann Manuels Stimme, beinahe flüsternd und melancholisch:

      »Meine liebe Patricia, es ist spät in der Nacht. In der Badewanne knistern leise die Schaumbläschen. Der Wasserdampf steigt auf, und ich atme den zarten Hauch von Eukalyptus ein. Nach einem anstrengenden Tag entfernt sich alles weiter und weiter von mir. Meine Haut wird geschmeidig, meine Muskeln entspannen sich, die Gesichtszüge glätten sich mehr und mehr. Mein Herz pocht immer schneller beim bloßen Gedanken an dich. Glühend treibt es mir den Schweiß aus den Poren. In diesem Zustand völliger Nacktheit durchjagen mich Erinnerungen an eine Berührung von dir... und ich liebe, liebe, liebe dich, dass es mir die Sinne raubt, die Sinne raubt... und die Worte...«

      Es