Helder Colaço

BIBELJAGD


Скачать книгу

oder weise sie zurück, je nachdem, ob das Vermächtnis die Kraft des Fortschritts der erbenden Generation bedeute oder nicht. Um Fortschritte zu machen, müsse eine Generation nicht aus Wissenschaftlern bestehen, aber sie müsse notwendigerweise gebildet sein.

      Er sei zweifellos ein Mitglied jener Generation, die an allem zweifle, zunächst an Gott und schließlich an sich selbst. Er verweigere den Wehrdienst, kehre dem Spiel der Nationen den Rücken zu und wandere in Richtung Wahrheit, so weit wie möglich im extremen Limit von dem, was zu erwarten sei, auf verlorene und verzweifelte Weise, als wolle er sich dem utopischen Zustand absoluter Wahrheit nähern. Dieses Lebensgefühl stelle eine neue Erfahrung für ihn dar. Wem das zu kompliziert war, vor allem wenn genauere Bezeichnungen fehlten, verliehen die Älteren ihrer Fassungslosigkeit Ausdruck, indem sie versuchten, dieser Generation Namen zuzuordnen wie Hightech-Generation, Handy-Generation oder indem sie für die Bezeichnung des Generationswechsels die Wortwahl von Douglas Coupland übernähmen: Generation X. Was auch immer das X bedeuten sollte. Die selbstbezeichnende Ausdrucksweise für eine ähnliche Bestandsaufnahme der portugiesischen Jugend, war „Geração à Rasca“, die zwar gebildete, jedoch eher mittellose, größtenteils arbeitslose Jugend, der die Gesellschaft keine Entscheidungsbefugnis einräumt und die im relativ hohen Alter noch von den Eltern abhängig ist, sich folglich nicht entfalten und verwirklichen kann, außer sich in Massenprotesten auf der Straße bemerkbar zu machen.

      »Ach Jesus — entweder der Überfluss oder der Mangel an Verstand sind die Kardinalfehler unserer Generation. Lebendige Erfahrung ist das Wichtigste. Durch die goldene Mitte, unauffällig durch die goldene Mitte.« stellte er fest, mit steigendem Alkoholpegel.

      »Da magst du Recht haben. Aber was ich noch sagen wollte ist… es gibt noch eine Reihe Ungereimtheiten in unserer Vergangenheit, meinst du nicht?« bemerkte ich und entledigte mich endlich meiner Besorgnis, die mich zurück nach Portugal geführt hatte.

      »Aber ja, sicher. Dazu werden wir genug Zeit haben. Ich glaube, ich habe zu viel getrunken. Aber einer geht noch. Im Moment möchte ich davon nichts wissen. Bin fast wahnsinnig geworden bei den Nachforschungen, wie besessen von irgendeinem Details, was keinem aufgefallen ist, ein Hinweis… dann die Therapie. Ich bin es los…« sagte er sichtlich angestrengt.

      Manuel lenkte ab und sprach von der Zeit der Nelkenrevolution, als Portugal, der älteste Nationalstaat Europas, sich von der ältesten Diktatur Europas befreite, durch einen friedlichen Militärputsch. Er sprach von unserem Vater, der enthusiastisch von Europa geträumt hatte. Er selbst war eher ein anonymer Philanthrop, der der Politik mit Humor und der Theologie mit einem frechen Gesicht begegnete und hoffnungsvoll in die Zukunft blickte. Jede Form von Kontrolle war ihm suspekt. Nie wusste er, wohin er seine Ausweispapiere verlegt hatte, auch seine Steuernummer war ihm zutiefst verhasst. Manuel fühlte sich von der Revolution betrogen, und von der EU wusste er, dass sie ihn bisher nicht sonderlich bereichert hatte, ganz im Gegenteil, der Schuldenberg hätte monströse Dimensionen angenommen. Eine vorprogrammierte Staatspleite. Keineswegs vertrat er die damals weit verbreitete Meinung, dass sein Land den für eine halbwegs funktionierende Demokratie notwendigen Reifegrad erlangt hatte. Wo Europa sich ins Meer stürzt, herrschten von jeher andere Gesetze. Er formulierte das folgendermaßen: Der Portugiese guckt ins Glas, der Deutsche ins Reagenzglas. Patentanmeldungen, darauf komme es an.

      Seine leisen und bedächtigen Worte klangen wie die Schwingungen einer fernen Telefonstimme. Er beschrieb irgendein Gefühl von Heimatlosigkeit und innerer Dürre. Zunächst begriff ich nicht, worauf er hinauswollte, bis seine Augen zu glänzen begannen und seine Gefühle in einem Rausch eskalierten, den ich in diesem Ausmaß noch nie zuvor an ihm beobachtet hatte. Hin und wieder legte er mir eine Hand auf die Schultern, als wolle er sich vergewissern, dass ich wirklich vor ihm saß.

      Schlagartig wurde mir bewusst, worauf Manuel hinauswollte. Da war er nun im Caravela, als ob er all die Jahre nur darauf gewartet hatte, sich jemandem anzuvertrauen. Er hatte etwas Sonderbares erlebt - und er hatte eine Geschichte.

      »Zunächst musst du mir einen Gefallen tun. Da sind einige Dokumente, die du anonym für mich veröffentlichen solltest. Du weißt schon - ich habe mir in den letzten Jahren viele Feinde gemacht. Ich schaffe es einfach nicht unauffällig zu bleiben. Du bist in Quarteira weitgehend unbekannt. Das Risiko ist kalkulierbar. Nun?« sagte er in der Erwartung eines bedingungslosen Einverständnisses.

      »Aber Manuel, ich weiß doch nicht einmal, um was für Dokumente es sich handelt. Es ist nicht meine Art, blinde Versprechungen zu machen - aber red’ schon!« gab ich nach.

      Meine Ungeduld kostete er aus, obwohl ich versuchte, reserviert zu bleiben, und mir auch sonst alle erdenkliche Mühe gab, keinerlei Bewegungen und Gesten zu machen, die auch nur den geringsten Hinweis darauf gaben, was in meinem Inneren vorging. Trotzdem schien Manuel zu wissen, wie es in mir aussah. Diese Gabe wirkte beängstigend auf mich.

      Ich geriet in den Strom seiner Gedanken hinein. Der Barkeeper schien nur noch auf uns zu schielen, während er seine letzten Gläser polierte. Manuel vergewisserte sich, dass niemand anwesend war, der uns hätte belauschen können. Er warf einen misstrauischen Blick zu seinem Barkeeper hinüber und sagte:

      »Morgen werde ich dich aufsuchen und das Beweismaterial mitnehmen, um alles zu klären. Wo kann ich dich finden?«

      »Im Dom José. Die Aussicht vom Torre 20 auf den Raubbau kann ich nicht länger ertragen.«

      »Gleich an der Strandpromenade, aus reiner Bequemlichkeit. Das hätte ich mir denken können. Du musst meine Geheimnistuerei entschuldigen, aber hier ist nicht der richtige Ort für derartige Angelegenheiten.«

      Als wir aus dem Caravela gingen, war die Stadt verlassen, wie die Kulisse einer längst abgedrehten Szene. Noch brannte die Lichterkette der Fangboote am dunklen Horizont.

      Nach einem Händedruck verschwand Manuel vergnügt in eine der dunklen Gassen. Ich setzte, einem Seemann gleich, breiten Schritts einen Fuß vor den anderen in Richtung des „Dom José“. Mir war, als segelte ich auf einer Nussschale am Kap der Guten Hoffnung entlang.

      Am nächsten Morgen musste ich den leichten Rausch vom Vorabend bitter bezahlen. Aufgrund der anhaltenden Müdigkeit sah ich mich gezwungen, das Frühstück vom Zimmerservice servieren zu lassen. Da ich nicht gerne allein mein Frühstück zu mir nahm, griff ich nur selten auf diese bequeme Alternative zurück. Der Etagenkellner José Rosa war sehr gesprächig. Er war ein einfacher und unscheinbarer Mann und hatte allem Anschein nach die Fünfziger bereits überschritten. Seine Unterwürfigkeit bezeichnete er als anhängliche Selbstlosigkeit oder auch als Treue. Armut setzte er nicht unbedingt mit Elend gleich, seinen Stolz hatte er noch lange nicht verkauft. Seinen Stolz hielt er selbstbewusst fest wie ein Ritter sein Wappenschild. Ich mochte ihn, weil er ein Original war, ein authentischer algarvio, vor allem aber deshalb, weil er keinem Klischee entsprach. Wenn ich ihm Trinkgeld zustecken wollte, lehnte er zunächst ab, nahm es aber beim zweiten Versuch, oder wenn ich es ihm zusteckte:

      »Nicht von ihnen, Compadre Pico. Es ist mir eine Ehre, Senhor...«

      Er schien zu wissen, dass ich nicht irgendein Tourist war. Es gibt Begegnungen, bei denen es weniger auf die Konversation ankommt, sondern auf die Haltung und den Gesichtsausdruck der jeweiligen Individuen. José Rosa war schwerfällig, aber durch jede seiner Bewegungen schimmerte eine gewisse Würde. Allein mit seinen Blicken vermochte er sein Wesen und seine Empfindungen zu offenbaren. Sein ausdrucksvolles Schweigen hinterließ einen bleibenden Eindruck in meinem Gedächtnis. José Rosa wusste Dinge von mir, die er eigentlich nicht hätte wissen können. Ich war gerührt von seiner ruhigen Art, und es wirkte keineswegs lächerlich, wenn er behauptete, Wesen und Absichten eines Menschen allein vom Gesicht ablesen zu können.

      Am späten Vormittag ging ich aus dem Hotel. Die Luft war herrlich und erfüllt vom Geruch der Pinien und des Eukalyptus, vermengt mit einer frischen Meeresbrise. Plötzlich hing der betäubende Duft gebratener Sardinen in der Luft. Das erinnerte mich an Dom Isidro, einen alten Fischer, der Großvater „Chico“ bereits zu der Zeit gekannt hatte, als er aus einer Laune heraus bis nach Afrika segelte, um nach einigen Wochen mit einer Ladung exotischem Plunder aufzutauchen — ich habe ihm nie ganz glauben können, dass er allein wegen des unbrauchbaren Zeugs nach Afrika gesegelt war, jedenfalls wird es für immer