Helder Colaço

BIBELJAGD


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lassen oder die Situation getrost für eine Schlägerei ausnutzen.

      Da die Geistlichen, die Padres, den Ausdruck wegen des vulgären Charakters eher meiden, auch aus dem einleuchtenden Grund, dass wir bei einer rein wörtlichen Übersetzung auf den seltsamen Begriff Mitvater stoßen könnten, ein Neologismus, der leicht in Zusammenhang mit Mittäter, Mitwisser, im Sinne von unter einer Decke stecken, gebracht werden kann und daher vermeidbare Missverständnisse geradezu heraufbeschwört.

      Mein Bruder Manuel verkörperte den Geist der Picos. Wie alle anderen Portugiesen machten die Picos einst vor der Schwelle des Südens halt und fühlten sich nirgends zugehörig als zu sich selbst. Wenn sie beisammen waren, im familiären Kreise und unter Freunden, dann tollte das Leben so laut, dass die Kirchenglocken im selben Raum nicht gehört werden konnten. Keinen fremden Klang der Außenwelt ließen sie durch den pulsierenden, wilden Lärm des Lebens an sich heran. Das Schreien und Quengeln der Kinder war Musik in ihren Ohren.

      Bei der Arbeit brachen sie nur selten mit Anstrengung und Schweigen. Streit gab es nur wegen irgendeiner Landparzelle, aus deren Forderungen und Widerständen blutige Schlägereien erwuchsen, denn die Besitzurkunden waren unschlüssig und unpräzise wie die Charakterzüge der Faustschwingenden Landarbeiter. Aber die Kämpfe waren stets fair, der Feind stand sichtlich vor ihnen, Auge in Auge, ohne verborgene Tricks und hinterlistigen Manövern, eine längst vergangene Art der Kriegsführung. Der überlieferte Stolz bebte in der Geschlechterfolge unangefochten in seiner ursprünglichen Härte weiter.

      Die Picos waren eingefleischte Händler und standen in der ersten Reihe, wenn es darum ging neue See- und Handelswege zu erschließen. Das sollte stets ein Trumpf im Spiel sein, seit Jahr und Tag.

      Ein Wiedersehen nach vielen Jahren konnte ein leichter Schock werden, denn ich hatte gegen jede Vernunft noch das Jugendbild des Betreffenden vor Augen.

      Fast vier Jahre war es her, seit ich Manuel Pico das letzte Mal gesehen hatte. Manuel saß an einem kleinen Ecktisch links von der Bar des Caravela in Quarteira, als wir uns begegneten. Er neigte sich tief über einen Stapel scheinbar ungeordneter Manuskripte, vor ihm ein Tumbler, ein vollgepfropfter Aschenbecher und eine halbvolle Flasche Whiskey. In seiner Existenzgrübelei versunken, geriet er dauernd in Konflikt mit einer Moral, die sich ihm quer vor dem Weg stellte.

      Wir begrüßten uns ohne übertriebene Gefühlsäußerung, und ich nahm an, dass er mich schon länger beobachtet hatte als ich ihn. Sein durchdringender Blick lastete aufmerksam auf jede meiner Gesten und erriet, wie ich mich verändert hatte.

      Schon immer hatte er das verschlossene Lächeln eines Blinden gehabt, unergründlich und eine Art egozentrische Verschwörung mit seinem Spiegelbild, so dass niemand in der Lage war, seine Zufriedenheit mit ihm zu teilen.

      Von Anfang an waren bei Manuel die Weichen in Richtung Literatur gestellt. Er hielt sich in dem gefährlichen Grenzgebiet zwischen Wahn und Wirklichkeit auf. Mitten in einem Gespräch konnte es aus heiterem Himmel faszinierende und verrückte lyrische Beschreibungen hageln. Nahezu zügellos konnte die Kraft seiner schöpferischen Phantasie seine Zuhörer in eine andere Welt versetzen. In ekstatischen Augenblicken, in denen er sich voll und ganz in Worten auflöste, glich seine Persönlichkeit der von Virginia Woolf:

      »Ich hatte fast Angst, als mir wieder die Stimmen einfielen, die vorauszueilen pflegten.«

      Bei der kleinsten Sozialkritik machte Manuel sofort voller Behagen mit und steuerte skandalöse und zotige Einzelheiten bei – ganz Fachmann für die Beurteilung der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Lage. Konkrete Zahlen im Zusammenhang mit der Staatsverschuldung, der Verschuldung der Betriebe und der Familienhaushalte konnte oder wollte er jedoch nicht nennen.

      Sein Unterbewusstsein eilte dem Bewusstsein voraus, bedingungslos der kreativen, schreibenden Zunft verschrieben, wie „Pegasus im Joch“, an einer Bar oder in seinem Appartement, versunken in einem verwahrlosten Chaos, alles um sich herum vergessend. Die Vollkommenheit der Jugend lag längst hinter ihm, er war nicht länger übermäßig hübsch – glänzte aber mit seiner Intelligenz. Ein Mann wird schnell müde und alt, wenn er merkt, dass er sich noch keine Gewinnerin herausgepickt hat und es fast zu spät ist, um noch etwas daran zu ändern. Manuel war schon fast in den Vierzigern, die ich schon bald selbst erreichen sollte.

      Unermüdlich feilte er an mal wieder an jeder Seite seines Manuskripts. Aber nur selten gab er ein Werk der Öffentlichkeit preis; denn seine pathologische Empfindlichkeit gegenüber Kritik von außen war stärker als sein Selbstvertrauen. Sein Geld machte er mit Werbetexten, die dann in den Hochglanzbroschüren die Hotels die Region bewarben.

      Da saßen wir nun in einer dunklen Ecke des überklimatisierten Caravela. Manuel ließ den Whiskey abräumen und bestellte drei Martinis. Erst nach dem zweiten Martini Medium Cocktail begann er mit dem Gespräch:

       »Als du vor Jahren gingst, grübelte ich gerade über eine Beschreibung des Naturschutzgebietes Ria Formosa, so hast du mich auch jetzt vorgefunden. Als Werbetexter und Barbesitzer verdiene ich meinen Unterhalt, um mich in meiner Freizeit... na, du weißt schon. Was hat der kleine Bruder mit dem großen Namen in der weiten Welt so lange getan?« sagte er zwischen zwei Atemzügen. Er zog geduldig an seiner Zigarette und nahm den ersten Schluck von seinem dritten Martini – das erkannte ich an den drei Strichen auf dem Bierdeckel:

      »Nun, ich habe mir eine Position erarbeitet«, antwortete ich nachdenklich, »die größtenteils ein Resultat meiner Erfahrungen ist, nicht das irgendeines Talents. Ich bin in einer großen Hotelgruppe als Development Manager beschäftigt und weiß, wovon ich rede, wenn ich dir sage, dass der Martini im Caravela überteuert ist.«

      »Zu teuer? Du lenkst ab. Es steht jedem frei, sich in Konsumverzicht zu üben!« entgegnete er ironisch. Und wer wäre Manuel ohne eine beiläufige Stichelei:

      »Es scheint, als ob du einen schlechtbezahlten Job ausübst, Jesus Rodrigues Pico. Aber du bist mein Gast, denn ich habe diesen heruntergewirtschafteten Club vor zwei Jahren gekauft...«

      Während er austrank, machte er eine Geste zu seinem Barkeeper, der in regelmäßigen Abständen zu uns herüberschaute.

      »Warum bist du damals nach Deutschland gezogen, ohne dich zu verabschieden?« Und schon waren wir bei der Gretchenfrage.

      »Du und Formalitäten? Ich hatte Angst, du würdest mich mitreißen in deinem Wahnsinn. Immer habe ich versucht, dich zu verstehen, aber irgendwann musste ich...« er wusste, dass ich wie auf Nadeln saß.

      »Du verstehst dich selbst nicht, Jesus. Lauf nicht vor dir selbst davon! Vergiss die Vergangenheit, das Unglück, die Toten!«

      Diese Aussage überraschte mich, denn er hatte immer mit Vorliebe von der Vergangenheit gesprochen. Woher kam diese plötzliche Sinneswandlung? Warum ließ er sich nicht mehr auf ernsthafte Diskussionen über das ein, was damals wirklich passiert war?

      Beim objektiver Betrachtung der Situation stellten wir beide fest, dass wir bis zum Abitur systematisch verwöhnt worden waren: keinerlei Miet-, Kleider- oder Büchersorgen, nicht einmal Versorgungssorgen. Von derartiger Unbeschwertheit sollten die Tage nie wieder werden. Danach sollten erst die wahren Probleme auftauchen. Der Lärm der Gäste übertönte unser Schweigen. Manuel entwickelte seine Gedanken im Stillen weiter, auf Spurensuche im Dschungel seiner Synapsen. Beide hatten wir einen leichten Silberblick, aber das war nichts Neues für uns.

      Er erzählte irgendetwas über seine Art, die Wirklichkeit zu betrachten. In dieser Hinsicht habe er sich nicht verändert. Es ginge ihm nie um eine möglichst genaue Darstellung der Wirklichkeit. Wirklichkeit sei für Manuel nur das, was das Bewusstsein dafür hielt. Alles, was er schriebe, sei nur auf den ersten Blick objektiv wahrgenommen.

      Er sprach zu mir in einem Monolog, jede Verästelung seines Bewusstseins offenbarend. Obwohl fast alle seine Freunde vorgäben, ihn zu verstehen, verstünden ihn die wenigsten. Er habe ohnehin sehr wenige Freunde, denn er gehöre zu jener Generation, die die Tatsache, sich möglichst viele Feinde zu schaffen, als ihr unabwendbares Schicksal akzeptiere.

      Alle Generationen hätten eines gemeinsam. Jede von ihnen befinde sich in einer Emanzipation gegenüber der vorhergehenden, was bedeute, dass keine