Kathleen Christochowitz

Ein Engel auf der Couch


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Straßen sind menschenleer. Ich bin die einzige, die unterwegs zu sein scheint. Ist ja typisch! Dabei mochte ich als Kind Regenwetter sehr gerne. Ich holte meine Gummistiefel raus, meinen durchsichtigen Kinderschirm und beobachtete dann die Regentropfen, wie sie in die Pfützen fielen oder von den Blättern abperlten. Das sah klasse aus. Aber da war es auch nicht so kalt wie heute. Doch es heißt ja nicht umsonst: Es gibt kein schlechtes Wetter, es gibt nur unpassende Kleidung. Und heutzutage sind wir ja auch alle zu verpimpert, anstatt uns wettergerecht anzuziehen. Ich bin keine Ausnahme, gehe ja auch nur von der Haustür ins Auto, vom Auto ins Büro und zurück. Meine Jeans war vom Regen durchnässt. Schönes Gefühl auf der Haut, schön ekelig.

      Total nass stehe ich bei Frau Hirte an der Tür. Ich klappe den Rest vom kaputten Regenschirm zusammen und mache wieder Ding-Dong an der Tür. Den Schirm könnte ich gleich so wie er war in die nächste Tonne schmeißen, doch wahrscheinlich brauche ich die Krücke noch für meine Rücktour zum Auto. Na ja, er tut ja auch nur seine Dienste. Ich werde ihn also nicht wegschmeißen. Eigentlich ist es auch schlimm, ihn wegzuwerfen, nur weil er nicht mehr so gut aussieht und ein bisschen kaputt ist. Eine Wegwerfgesellschaft wie die unsere, achtet überhaupt nichts mehr. Schlimm! Ich beschließe den Schirm zu behalten und zwar in Ehren. Mein Gott, jetzt habe ich schon Mitgefühle für Regenschirme. Wo soll das noch hinführen?

      Frau Hirte wartet wieder an der Tür. Sie sieht mich von oben bis unten an. Ich sehe aus wie ein begossener Pudel. Selbst meine Haare kräuseln sich von der Feuchtigkeit. Das hasse ich mindestens genauso, wie Regen, der mir direkt ins Gesicht prasselte. Meine Hände sind pitschnass. Ich weiß gar nicht, wo ich sie an mir abtrocknen soll. Es ist alles feucht. Ich knöpfe meine Winterjacke auf, wische meine rechte Hand schließlich an meinem Pullover ab und gebe sie ihr.

      »Ach, Frau Schön, Sie sind ja richtig nass geworden. Kommen Sie rein, das ist ja wirklich ein Wetter heute!«

      Ich nicke, seufze nur und denke, schön ist was anderes. An der Garderobe lege ich mein nasses Häufchen Jacke ab. Sie trieft und tropft. Den Schirm packe ich leicht zusammengefaltet auf den Teppichboden, der farblich zu den heutigen grauen Wetterverhältnissen passt. Frau Hirte brachte mir ein Handtuch.

      »Danke«, sage ich überrascht. Am liebsten würde ich mir gleich trockene Klamotten anziehen.

      »Kommen Sie dann bitte ins Zimmer, sobald Sie fertig sind.«

      Ach ja, ich war ja nicht nur hergekommen, um mich abzutrocknen! Und ich darf nicht vergessen, vorher mein Handy auszuschalten. Nicht, dass noch einer aus dem Büro anruft und fragt, wo ich bleibe. Mit meiner nassen Tasche gehe ich in ihr Zimmer. Sie nimmt bereits die Sitzstellung in ihrem Korbsessel ein. Mir fällt auf, dass sie die gleiche dunkelrote Tunika wie vorgestern trägt. Sie steht ihr sehr gut, sieht sehr modisch und attraktiv aus. Aber ich würde nie das gleiche vom Vortag anziehen und schon gar nicht das von vor zwei Tagen. Was ich einmal getragen habe, werfe ich, bis auf Hosen, sofort in die Waschmaschine, egal ob es noch sauber ist oder nicht. Das mache ich grundsätzlich so. Warum eigentlich? Frau Hirte bringt mit ihrem Oberteil auf jeden Fall einen Farbtupfer in diesen Raum. Mut zur Farbe finde ich gut! Ich renne eher rum wie eine graue Maus, schön unscheinbar.

      Auf ihrem Schoß liegt der Schreibblock und in der rechten Hand hält sie den Stift bereit. Ja, sie ist bereit. Und ich, ich bin nass. Auf dem runden Tischchen neben ihr steht eine Box mit Taschentüchern. Für die Tränenvergießer unter uns. Ich gehöre hoffentlich nicht dazu.

      Meine Tasche stelle ich wie beim letzten Mal am Kopfende der Couch ab und lege mich hin. Meine Haare streiche ich ein wenig zur Seite. Ich atme tief durch, bis in den Bauch hinunter. Er wölbt sich gleich nach oben. Hallo, Kumpel, sage ich innerlich zu ihm. Da sind wir beide wieder: Mein Kopf mit seinen tausend Gedanken und du, der Ruhige. Und was ist dazwischen? Mein großes pumpendes Herz, das ich seit dem Visionsseminar wieder stark spüre und fühle.

      Mein Bauch knurrt wie verrückt, er rumort regelrecht. Was ist denn? Ich lege sofort meine Hände darauf, um ihn zum Schweigen zu bringen. Seine Geräusche sind mir peinlich.

      »Na, was sagt er Ihnen?«, fragt Frau Hirte.

      »Ich glaube, er will von mir beachtet werden«, sagte ich ohne nachzudenken. Ich nehme ihn sehr selten wahr und schenke ihm kaum Beachtung, außer wenn ich wie so oft denke, dass er zu dick ist und mir dann im gleichen Moment eine Diät vornehme. Aber das ist nicht sehr liebevoll. Elisa Schön hat einen ganz schönen Bauch. Ich muss über meine zweideutigen Gedanken schmunzeln.

      Habe ich, A: einen schönen Bauch, weil er schön ist, wie er ist, oder habe ich B: einen Bauch, der schön dick ist? Bitte ankreuzen: A oder B?

      Was nun schon wieder alles in meinem schönen Köpfchen vorgeht. Jetzt konzentriere dich doch mal, Lieschen! Frau Hirte wartet und will was hören. Hm, was soll ich denn erzählen? Schon wieder die gleiche Stresssituation wie in der letzten Stunde.

      Ich kam mir vor wie Bill Murray im Film Und täglich grüßt das Murmeltier. Aber vielleicht stellt sie mir gleich wieder ein paar Fragen, dann flutscht es ein bisschen besser. Zum Thema Bauch könnten wir doch heute sprechen!

      Ein Hungergefühl macht sich breit. Im Büro dachte ich nicht daran, noch etwas zu essen und jetzt knurrt er, der Kleine. Nachher gibt es etwas Leckeres, sage ich zu ihm im Stillen. Diese Stunde müssen wir leider noch durchhalten. Doch danach kannst du haben, was du möchtest. Er beruhigte sich wieder. Kein Knurren mehr.

      Redete ich wirklich die ganze Zeit mit meinem Bauch? Wer ist denn da drin? Ach, du meine Güte! Mir fällt es wie Schuppen aus den Haaren: Die Kleine Lieschen sitzt noch immer da drin. Die Kleine Lieschen von früher, die seit Jahren versteckt in einem Holzschuppen lebt.

      Was passiert denn mit mir? Ich glaube, ich hatte sie, als ich selbst noch klein war, da hinein gesteckt und gesagt, sie solle dort bleiben und nicht mehr heraus kommen, weil mich sonst keiner mehr mag. Ich hatte sie verbannt. Doch warum? Hatte ich sie weggeschickt, weil ich dachte, dass ich sonst nicht mehr von meinen Eltern geliebt werde? Sie war auf jeden Fall ganz schön rebellisch. Das hat meinen Eltern möglicherweise Angst gemacht. Sie hatten Angst, sie nicht bändigen zu können. Sie wollten mich mit ihr wegschicken, wenn ich sie nicht unter Kontrolle bekäme. Ins Heim schicken. Sie sagten oft zu mir als Kind, dass sie mich ins Heim bringen, wenn ich nicht artig bin. Davor hatte ich solche Angst, dass ich sie selbst verbannt habe. Zum Schutz. Ich habe sie damit schützen wollen und mich auch.

      Werde ich langsam irre? Dennoch bin ich sehr aufgeregt. Die Kleine Lieschen ist wieder da, sie hat sich herausgetraut. Allerdings schaut sie noch misstrauisch. Wahnsinn! Sie ist wieder da und ich könnte heulen, weil ich sie so vermisst habe. Ob sie mir böse ist, weil ich sie damals wegschickte? Sie versucht mit mir Verbindung aufzunehmen. Mit meinem starken Kopf, der voll ist von Gedanken und Bewertungen und Urteilen. Die Kleine ist echt mutig.

      »Was denken Sie gerade über Ihren Bauch? Was geht in Ihnen vor?«, fragte Frau Hirte.

      Ich fühle mich ganz durcheinander. »Da wohnt das Mädchen aus dem Schuppen. Das ist die Kleine Lieschen von früher.«

      »Was für ein Schuppen?«

      »Sie hat seit Jahren in diesem Schuppen gewohnt und ist nicht rausgekommen. Es ist ein alter, kleiner Holzschuppen. Vorhin, als ich zu meinem Bauch sagte, dass wir nach dieser Stunde etwas essen werden, wurde er völlig ruhig.«

      »So, als wäre er damit einverstanden gewesen?«

      »Ja, genau«, sage ich. »Und dann musste ich plötzlich an das Mädchen aus dem Schuppen denken und hatte das Gefühl, dass sie wieder mit mir in Kontakt treten wollte.«

      »Was heißt wieder?«, fragt Frau Hirte nach.

      »Wieder, weil sie schon mal da war. Doch sie hatte sich in diesem Schuppen verbarrikadiert. Sie war, glaube ich, sehr traurig.«

      »Worüber denn?«

      »Weil ich nicht mehr mit ihr gespielt habe. Ich schickte sie stattdessen fort und das machte sie sehr traurig. Und mich auch.«

      Tränen schießen mir in die Augen.

      »Es ist in den Schuppen gegangen«, sage ich zu ihr. »Sie haben mich