Kathleen Christochowitz

Ein Engel auf der Couch


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      Herrje, was ist denn das wieder für eine haarspaltende Frage? Sie nimmt ja jedes Wort von mir auseinander.

      »Keine Ahnung. Wahrscheinlich«, entgegne ich. »Ich habe mir schon gewünscht, dass auch mich mal der tollste Junge der Schule anspricht und ansieht.«

      Na super, jetzt fühle ich mich richtig elendig und wie eine Versagerin. Doch dafür kommt das Gespräch langsam in Gang. Ich merke, wie ich mental und körperlich hier ankomme. In meinem Gehirn rattert es wie in einem Computerlaufwerk. Meine Nervenzellen arbeiten angestrengt. Sie wissen gar nicht, in welchen Schubladen sie das jetzt alles abspeichern sollen.

      »Wie war denn Ihre Teenagerzeit? Hatten Sie schon früh einen Freund?«

      Warum soll ich denn jetzt über meine Teenie-Zeit reden?

      »Ich war schon immer etwas pummelig aus. Das liegt daran, dass ich nicht so groß bin. Damit wurde ich auch oft aufgezogen. Meinen ersten richtigen Freund beziehungsweise mein erstes Mal hatte ich erst mit dreiundzwanzig Jahren. Ich war ein Spätzünder. Meine Eltern und mein Bruder haben mich früher Pummellieschen genannt. Lieschen haben ja sowieso alle zu mir gesagt. Pummellieschen kam auch nicht von ungefähr. Mein Vater ist Bäcker und wir haben in unserem Haus unten eine Bäckerei, da habe ich mich schon als Kind immer sehr gerne aufgehalten und genascht. Am liebsten Kekse und Streuselschnecken und dazu dann frische Milch getrunken. Das war das größte für mich. Zuerst hab ich den äußeren Rand der Streuselschnecke abgegessen und mir die Mitte, wo der meiste Zuckerguss war, bis zum Schluss aufgehoben«, fällt es mir amüsiert ein.

      »Ah ja, das Beste also zum Schluss«, resümiert Frau Hirte.

      »Ja, genau. Mit vollstem Genuss vertilgte ich dann die Zuckermitte.«

      Das war wirklich lecker. Ich weiß gar nicht, wann ich das letzte Mal eine Streuselschnecke gegessen hatte. Es war lange her. Jetzt verspüre ich großen Appetit darauf. Appetit auf eine Streuselschnecke. Ich weiß plötzlich, wohin ich nach dieser ersten Stunde gleich gehen werde, nämlich in die nächste Bäckerei. Zwei Straßen von hier befindet sich das Café Berta.

      »Sie haben also noch einen Bruder?«

      »Ja, der ist vier Jahre jünger als ich. Er heißt Heinrich, aber wir sagen alle Heini zu ihm.«

      Sie lacht auf. »Das ist ja ein niedlicher Name. Was macht er beruflich? Ist er vielleicht Bäcker geworden wie Ihr Vater?«

      »Oh nein. Vater hätte es schon gerne gesehen und Heini hatte auch mit einer Bäckerlehre angefangen. Aber das frühe Aufstehen war dann nichts für ihn. Er kommt mit seinem Leben irgendwie nicht so richtig in Gang. Hat verschiedene Ausbildungen angefangen, mal hier und mal dort gearbeitet, aber es war alles noch nicht das richtige für ihn. Derzeit studiert er BWL an der Universität in Rostock. Mal sehen, wie lange«, zucke ich mit den Schultern. Ob sie diese Geste überhaupt sieht?

      »Das hört sich ja so an, als wüssten Sie alle, dass er das Studium auch wieder abbricht.«

      »So ist Heini halt. Wenn er keine Lust mehr hat, hört er einfach auf und macht wieder etwas anderes.« Ich muss lächeln, als ich an ihn denke.

      »Und Sie?«

      »Was meinen Sie?«

      »Hören Sie auch einfach auf, wenn Sie keine Lust mehr haben?«, fragt Frau Hirte.

      »Ich überhaupt nicht. Ich habe bisher immer alles durchgezogen und absolviert, was es so gab. Wenn es bei mir nach dem Lustprinzip gegangen wäre, wäre ich schon nach der dritten Klasse abgegangen.«

      »Wieso das?«

      »Ich wollte und bin auch nur in die Schule gegangen, um lesen und schreiben zu lernen. Der Rest war mir total egal und hat mich auch gar nicht interessiert.«

      »Wieso wollten Sie lesen und schreiben lernen?«

      »Damit ich endlich die Bücher selbst lesen konnte. Das war der einzige Grund. Meine Mutter hat mir früher immer ganz viel vorgelesen und ich fand das so toll und habe so viele Bücher gehabt, dass ich die alle selber lesen wollte. Als Kind hatte ich sehr viel Fantasie und stellte mir vor, selbst mal Bücher zu schreiben«, sagte ich. Ich sah mich gerade bei meinen Eltern im Bett liegen. Immer wenn ich krank war, durfte ich tagsüber in ihrem großen Ehebett liegen und dann hat mir meine Mutter immer ganz viele Geschichten vorgelesen. Das war schön. Ich war meistens sehr gerne krank.

      »Mein Lieblingsbuch als Kind war übrigens Der kleine Angsthase. Kennen Sie das Buch?«, frage ich Frau Hirte.

      »Ja, ich habe auf jeden Fall davon gehört, doch ich kann mich nicht mehr ganz an den Inhalt erinnern.«

      Ich glaube, ich werde das Buch bei Gelegenheit mal wieder in die Hand nehmen.

      »Also, da ist ein kleiner Hase, der bei seiner Oma lebt. Die Oma sagt immer zu ihm: Pass auf, geh nicht auf die Straße, geh nicht hier hin oder dort hin, denn dir könnte ja so viel passieren. Also hatte der kleine Hase immer und ständig Angst, deshalb nennen ihn alle den Angsthasen. Der kleine Angsthase ist natürlich sehr traurig darüber, weil er auch gerne mit den anderen Kindern spielen möchte, doch er ist immer allein und spielt für sich oder mit dem kleinen Uli. Eines Tages sieht er, wie der Uli von einem Fuchs, der ins Dorf kommt, angegriffen wird. Der kleine Angsthase läuft zu ihm hin, packt den Fuchs am Schwanz und vertreibt ihn. Einfach so. Von diesem Tag an sagte nie wieder jemand Angsthase zu ihm. Alle haben ihn dann gefragt, wie er das gemacht hat, weil er doch immer so ängstlich ist. Und er hat einfach nur geantwortet, dass er gar keine Zeit hatte, an seine Angst zu denken, sondern nur daran dachte, dem kleinen Ulli zu helfen. Ja, er hat sogar einen Orden für seinen Mut vom Bürgermeister überreicht bekommen.«

      Das war die Geschichte. Ich kannte sie als Kind auswendig. Meine Mutter hatte eine Seite in dem Buch aufgeschlagen und ich gab Wort für Wort den Text wieder, ohne wirklich lesen zu können.

      »Das ist eine sehr schöne Geschichte«, meint Frau Hirte. »Ja, wirklich.«

      »Um nochmal auf das andere Thema zurückzukommen«, will ich ergänzen, »ich habe immer alles ordnungsgemäß beendet. Nach der Schule ging ich aufs Gymnasium und machte Abitur. Dann absolvierte ich eine Ausbildung, anschließend ging ich studieren und machte einen Hochschulabschluss. Nach der Uni ging ich direkt nach Frankfurt am Main und arbeitete in einer großen Werbeagentur.«

      Ich machte alles, was ich machen sollte oder besser gesagt, was ich dachte, dass ich machen müsse, damit aus mir was wird. Damit ich ein anerkannter Mensch, ein anerkanntes Mitglied der Gesellschaft werde.

      »Das hört sich sehr zielgerichtet an. Der Weg ist klar. Sie scheinen mit dem Lernen keine Schwierigkeiten gehabt zu haben«, so die Meinung von Frau Hirte.

      »Doch, ich habe alle logischen Fächer sehr schwer begriffen. Ich musste dafür viel lernen, ich war super fleißig. Meine ganzen Zensuren oder Abschlüsse beruhen nur auf Fleiß. Und dabei war ich noch nicht mal ehrgeizig, echt nicht. Ich war nur fleißig, mehr nicht. Ich musste immer mehr für das Gymnasium und für die Uni tun als andere«, ich sage es so, als sei das ein Skandal.

      »Dann alle Achtung. Das ist sehr diszipliniert und zeugt von Durchhaltevermögen«, sagt sie doch glatt.

      Das ich nicht lache. Für mich habe ich das bestimmt nicht gemacht. Für meine Eltern? Oder doch für mich, weil ich am Ende selbst glaubte, dass nur Bildung mich weiterbringen würde? Bildung ist das A und O, dieser Satz wird ja nun wirklich Jedem jeden Tag eingehämmert. Doch was nützt einem die Bildung, wenn man dabei selbst auf der Strecke bleibt?

      Irgendwie werde ich ärgerlich. Ich denke an den kleinen Angsthasen und an meine geliebte Streuselschnecke zurück. Da war die Welt noch in Ordnung, da habe ich sie noch verstanden mit meinem kleinen Kindergehirn. Jetzt musste ich auf die Couch, um meine Welt wieder zu ordnen, um mich und meinen Werdegang zu verstehen. Ich will auch einen Orden für Mut bekommen! Doch, was hatte ich schon Mutiges getan? Nichts.

      Mein Leben fühlt sich wie eine Kassette an, die ich jetzt zurückspule, um sie noch mal von Anfang an zu hören. In Wirklichkeit gibt es nicht mal mehr Kassetten, sondern nur noch digitale CDs, MP3s und weiß