Gerald Roman Radler

DIE LSD-KRIEGE


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kein Interesse an ihrer Umwelt. Bald gelangten wir in den tieferen Wald. Die Stämme waren so hoch, dass sie den Himmel verdeckten. Ich beobachtete meinen Bruder von der Seite und dachte er sei wahnsinnig geworden. Sein Stock sauste durch die Luft und die Kappe eines Schwammes wirbelte in hohem Bogen über meinem Kopf und blieb am Stamm einer Tanne kleben. Er schnaufte und hatte die Unterlippe eingezogen.

      Bald lag ich ein wenig hinter den Anderen zurück, da ich mich nicht Sattsehen konnte an der Farbenpracht bestimmter Pilze. Meine Perspektive schränkte sich irgendwie ein und ich verweilte selbstvergessen vor einer Ansammlung von Pilzen. Sie schienen mich mit einem Mal magisch anzuziehen. Besonders einige tiefrote Pilze mit weißen, buckligen, rissigen Flecken fesselten meine Aufmerksamkeit. Alles andere verblasste im Angesicht dieses märchenhaften Prunks, den ich wohl gut aus den Bilderbüchern kannte.

      Es war so angenehm still und ich schlenderte aufatmend, als wäre eine Last von mir gefallen, umher. Hinter einer mächtigen Tanne stand ein Fliegenpilz, der genau so aussah wie auf den Zeichnungen inmitten der Märchen der Gebrüder Grimm. Ich bückte mich und berührte die Kappe, von einer unergründlichen Sehnsucht ergriffen. Sie passte ihn meine hohle Hand. Sie war kühl, feucht und ein wenig klebrig. Ich hatte das Gefühl ein seltenes Tier zu berühren und es mochte mich. Von dem Pilz ging ein belebender Geruch aus, der meine Nasenlöcher öffnete.

      Einem inneren, unerklärlichen Impuls zufolge, brach ich ein großes Stück der Kappe ab und steckte es in den Mund.

      Das Fleisch schmeckte frisch und etwas scharf. Ich kaute und hatte ein angenehm kühles Gefühl am Gaumen.

      Meine Finger brachen noch ein Stück ab.

      Es knackte und der Bruch war regelmäßig. Ich begutachtete das madenlose Fleisch und die radialsymmetrischen Fächer, von denen nicht eine einzige Schnecke gekostet hatte, wie es sonst oft zu beobachten war. Auch diesem Stück konnte ich nicht widerstehen und steckte es, ohne lang zu überlegen in den Mund. Dann stand ich mit einem Ruck auf. Ich starrte auf den Fliegenpilz mit der halben Kappe, doch ich hatte weder Angst, noch ein schlechtes Gewissen. Ich drehte mich um und ging ein Weilchen gedankenlos weiter.

      Ich brauchte nicht auf die Richtung zu achten. Ich schloss kurz die Augen. Ich war zufrieden und glücklich in diesem alten Wald.

      Dann sah ich wieder meinen Bruder. Er war seltsamerweise schwer zwischen den Bäumen zu erkennen. Das Licht schmerzte mich ein wenig in den Augen und schob Schlieren und blättchenartige Filter, die mit durchsichtigen Blasen gefüllt schienen, vor meinen Augen her. Besonders dann, wenn ich zur Sonne schaute, verlor ich kurz die Orientierung und meine gewöhnliche Wahrnehmung setzte aus. Ich sah optisch veränderte Sonnenstrahlen. Sie waren gebrochen und dort, wo sich der Knick befand, leuchteten sie in Regenbogenfarben. Ich musste genau auf meine Beine achten, um nicht zu stolpern. Ein wattiges Gefühl ergriff von meinem Körper Besitz und ich überlegte, ob dieser dahin watschelnde Bub, auf den ich lossteuerte wirklich mein Bruder war. Ich konnte mich ja an ihn heranschleichen und dann seine Identität überprüfen. Es wäre mir aber unerträglich gewesen, einen Fremden anzusprechen. Ich hatte den Jungen rasch eingeholt. Gerade drehte er sich um. Ich erschrak zutiefst, als ich das Gesicht meines Bruders sah. Johnny forderte mich dümmlich grinsend auf, es ihm gleichzutun und sein Stock köpfte gerade mit einem zischenden Laut einen Satanspilz, deren Kappe durch die Luft wirbelte. Ich bekam einen Stich in der Brust und wurde schrecklich wütend.

      »Wie würde es dir gefallen, wenn ich dir mit einem Stock den Kopf abschlüge, du Zwerg!« herrschte ich ihn an.

      Drohend hob ich meinen Spazierstock und ließ ihn einige Zentimeter hinter seinem Nacken herab sausen.

      Mein Bruder war wie gelähmt vor Schreck. Er muss wohl bereits mit einem unvermeidlichen, furchtbaren Stockhieb gerechnet haben. Ich brach in Gelächter aus, das von den Wipfeln der Tannen widerhallte. Ich blickte etwas verängstigt zu dem schmalen Stück Himmel zwischen den Bäumen. Johnny rechtfertigte sich, indem er mit seltsam quakender Stimme kundtat, er handle nur auf Geheiß des Vaters. Er hatte die Einwürfe meiner Mutter und die Zerknirschung meines Vaters wohl vergessen. Ich starrte ihn ungläubig an. Er schien nichts Ungewöhnliches an seiner Stimme zu finden. Ich sagte ihm, die Schwämme seien so etwas wie Tiere und sie würden den Schmerz und vor allem den Tod deutlich spüren. Mein Bruder war ehrlich erschüttert und ging mit gesenktem Kopf neben mir.

      »Woher weißt du das alles?« fragte er.

      »Ich weiß es ganz genau und du solltest es niemandem verraten«, gab ich ihm, erstaunt über meine eigene Sprache, zur Antwort.

      Er nickte und wir näherten uns schweigend den Eltern.

      Ich sah das Steinmarterl zuerst und lief los. Mein Vater folgte mit langen Schritten. Ihn erfasste ein Freudentaumel, über das wieder gefundene Stück schöner Kindheit. Er wusste immer nur Gutes von seinen Jugendjahren zu erzählen.

      Auf Steinsäulen, die in einem großzügigen Kreis angelegt waren, befanden sich Steinquader mit gehauenen Rahmen, in denen längst verwitterte, bunte Gemälde befestigt waren. Darunter standen in einer verschnörkelten, alten Schrift Zweizeiler in Reimform geschrieben. Wir gingen langsam und bedächtig die Stationen des Grauens ab. Besonders mein Vater vertiefte sich in das lebensecht geschilderte Szenario.

      Es ergab sich, dass unsere kleine Gruppe zerstreut wurde. Meine Mutter widmete sich eher den Heidelbeeren und schwärmte von Heidelbeeren mit Schlagobers. Sie packte einen Plastiksack aus und ließ die gepflückten Beeren hinein gleiten. Bald war ihre Stimme, die uns alle aufforderte, endlich sammeln zu helfen, nur mehr ein Murmeln. Die Steingebilde schienen von einem unheimlichen, grünlichen Leuchten umgeben zu sein. Vielleicht strahlten sie auch von innen heraus. Ich stand mit offenem Mund vor einem der Bilder. Erwartungsvoll ging ich zur nächsten Säule, die im tieferen Wald verborgen war. Ihr gemaltes Bild schilderte das unselige Ende des »Anderls«. Die Darstellung gewann an dämonischer Plastizität. Ich verlor mich in jedem Detail – den groben, muskulösen Extremitäten der Räuber, ihren stechenden, aufgerissenen Augen, der schreienden Furcht des Kindes und dem absoluten Tötungswillen der ruchlosen Mörder, der hier dokumentiert wurde.

      Um mich herum war es völlig still. Ich fröstelte. Mir war nicht bewusst, dass ich bereits vor dem letzten Sockel stand, auf dessen brüchigem Gemälde der verlassene, erbleichte Anderl dargestellt wurde. Seine Gliedmaßen waren vom Leib gerissen und genauso wie die Killer aufgetaucht sind, waren sie wieder verschwunden. Sie hatten sich ausgetobt und niemand hätte etwas dagegen unternehmen können.

      Ich blickte mich um. Die Sonne stand ein wenig schief und das Licht war nicht mehr so blendend. Ich erinnerte mich, noch zuvor gedämpfte Stimmen gehört zu haben, doch ich war allein.

      Nicht so allein wie Anderl, dachte ich bei mir. Ich blickte noch einmal auf das Bild. Das Schlimmste war bereits passiert. Ruhe kehrte ein. Nein, ich hatte keine Angst.

      In der Folge muss mein Bewusstsein in argem Ausmaß getrübt gewesen sein. Nicht so der Instinkt meines Körpers. Später sehe ich, ohne chronologische Abfolge, meine beschuhten Füße laufen.

      Ich beobachte sie von der Seite und ihr Tappen erfüllt mich mit Beruhigung. Die Füße bringen mich brav nach Hause, so denke ich. Sie sind wie von rechts oben, ein wenig hinter mir positioniert, gefilmt. Ich betrachte nur den Film. Ich spüre keine Anstrengung und habe nichts mit den beschuhten, tappenden Füßen zu tun. Doch ihre Aktivität ist vertraut und beruhigt mich ungemein. Dann sehe den Rand einer Landstraße, die sich endlos hinab windet. Lichter, deren Herkunft ich nicht erklären kann. Ein Durcheinander an Dingen, die ich nicht zu einem Ganzen fügen kann. Eine Holztür ist da noch. Dann wird es warm und riecht gut. Ich bin zu Hause, aber ich weiß noch nicht genau, wo ich hin will. Dann sehe ich das Ziel meiner Wünsche. Die Lösung meiner Probleme. Ich finde ganz einfach einen Platz, wo ich endlich geborgen bin.

      Es ist die bleiche Freundin! Ich krieche unter ihren Körper. Ich habe es geschafft. Ich bin außer Gefahr. Sie steht über mir und betrachtet mich freundlich. Hier kann einfach nichts mehr passieren. So ist es auch. Ich rolle mich zusammen. Für heute ist es genug. Ich kann nachlassen. Mir wird nichts mehr geschehen. Es scheint, dass ich eingeschlafen bin. Ein Teil von mir ist aber wach und genießt den Schutz durch meine bleiche Freundin. Ein Teil von mir sieht den Film eines Buben,