Gerald Roman Radler

DIE LSD-KRIEGE


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mochten glauben, ich hätte schnell und sauber die vier vorgegebenen Punkte behandelt. In Wahrheit gab ich nur über einen einzigen Abschnitt Auskunft. Der betraf eine fantasievolle Beschreibung der Germanen, wie sie die Römer erlebt haben mochten. Meine Ideen stützten sich aber nur ansatzweise auf den Originaltext von de bello gallico. Ich hatte nicht die blasseste Ahnung von den Arrangements der Feldherren und das würde die Klasse bald auch wissen. Ein Anfang war gemacht. Die erste Hürde zur Furchtlosigkeit war gemeistert.

      Gerne wäre ich Wissenschaftler geworden, dazu hätte ich aber tolerante Eltern gebraucht, die mich in Ruhe ließen, meine Interessen wirklich unterstützten und nicht nur vorgaben meine Karriere zu befürworten. Sie unterbanden meine Bemühungen drastisch, sobald sie ihnen unbequem erschienen. Sie sabotierten meinen Forscherdrang, wenn ihnen meinen wahrlich harmlosen Missetaten einfach über den Kopf wuchsen. Ich hätte meine eigenen vier Wände lieber selbst gestaltet. Ich hätte mir meines Lebensraums sicher sein müssen, auch ohne Anknüpfung unfairer Bedingungen. Mein Platz in der Wohnung und im Leben galt nur als unangreifbar, solange ich ihrem Diktum Punkt für Punkt nachkam. Widerspruch und eigene Ideen, die eigentlich in diesem Alter normal waren und sich ständig änderten, wurden so zu einer fixen Idee, weil ich mich in meiner Entwicklung bedroht und betrogen fühlte.

      Es war ganz einfach: Ich wurde nicht mehr geliebt, weil ich schleichend aber unübersehbar erwachsen geworden waren. Doch die Eltern merkten nicht, was sie mit ihren unkontrollierten Emotionen, die über der Vernunft standen, verbrachen. Indem sie ihre eigenen Unzulänglichkeiten demonstrierten, schufen sie einen unüberbrückbaren Abstand. Sie zeigten sich leidend über die jüngsten Veränderungen, anstatt mir mit Offenheit zu begegnen. Sie wünschten letztlich nur das für sie, was ihnen vermeintlich gut tun würde. Daher wandte ich mich schließlich ab. Die Eltern entzogen ihre Liebe, weil ihnen mein Unabhängigkeitsbestreben zu viel wurde und sie den Überblick verloren. Letztlich kannten sie nur dieses eine gemeine Druckmittel: die Verweigerung, sowohl von Ressourcen, als auch der Entzug von Zuneigung. Sie boten keinen Raum zur Entfaltung. Im Speziellen vertrat mein Vater überhaupt eine ungesunde Spießbürgermoral, die mir das Bewusstsein allmählich aufspaltete.

      Er hörte leicht verdauliche Popmusik, lehnte aber Rock, der mir gefiel grundsätzlich ab. War eine Frau in engen Jeans und prall gefülltem T-Shirt die Bandleaderin, befand er die Songs als melodiös. Stach ihm ein langhaariger, bärtiger Mann, der überdies noch eine Nickelbrille trug, von einem Cover ins Auge, verurteilte er die Platte als untalentiertes Negergekreische. Er war von Tina Turner fasziniert, ignorierte Ike und verachtete Frank Zappa, den er als Scheißkerl bezeichnete, ohne je eine Nummer komplett gehört zu haben. Er kaufte all you need is love von den Beatles, dann drehte er die volle Lautstärke auf und pfiff die Melodie, mit am Rücken verschränkte Arme, als hörte er eine Robert-Stolz-Platte. Er kleidete sich auffällig wie ein bunter Papagei, ertrug es aber nicht, mich in knappen, unterhalb des Knies ausgestellten Hosen und weißen Tennisschuhen zu sehen. Was er bei jungen Mädchen als unheimlich erotisierend empfand, stieß ihn bei Burschen ab – nämlich das auf die Schultern hängende, unmodellierte Haar. Seine Gattin jedoch schickte er zum Friseur, weil er fand, dass ihr nur kurze, aufgetürmte Haare standen, bei denen die freiliegenden Ohrläppchen mit bunten Plastikclips geschmückt waren. Seine Doppelbotschaften verwirrten mich, weil sie trotz meiner unsinnigen Bemühungen nie aufgeklärt wurden. Weder meine Mutter noch mein Vater sahen einen Widerspruch in ihrem Verhalten. Im Gegenteil, sie suchten den Fehler bei mir, während Zuneigung beim Befolgen ihrer Vorstellungen und Abneigung bei Zuwiderhandlung ihrer Diktate in rascher Folge wechselte. Groteskerweise behandelten die Eltern mich wie einen Erwachsenen, der schon eine abgeschlossene Reifung hinter sich hatte, anstatt in mir das unlogische, verwirrte Kind zu sehen, dass totale Unterstützung brauchte, weil es die Hormone zu einem vollwertigen Menschen machen sollten. Ein Fehler, den auch die Lehrer oft genug bei ihren Schülern machten. Sie erwarteten logisches, zukunftsorientiertes Denken. Doch wir waren nur von Rockmusik begeisterte Halbwüchsige, die mit ihrer erwachenden Sexualität und dem Strecken ihrer Knochen nicht zurechtkamen.

      Die einzige Anstrengung, die mein Vater unternahm, sich mir zu nähern, bestand in seinem Anliegen, mir das Geheimnis von Mann und Frau drastisch näher zu bringen. Er bemühte sich, mich mit diesem, für ihn schwierigen Thema, frühzeitig zu unterrichten. Er rang sich eine sexuelle Aufklärung ab, die so verklemmt anmutete, dass es rasch peinlich wurde. Ich fühlte mich ihm während der ganzen Unterredung fremd und unendlich fern. Ich kannte den heiklen Gegenstand seines stockenden Vortrags schon längst aus den Magazinen, die meine Eltern regelmäßig lasen. Die Zeitschriften lagen offen in der Wohnung herum. In Praline, Jasmin und Eltern stand alles Wissenswerte über Partnerschaft und Sex. Oswald Kolle füllte regelmäßig mehrere Doppelseiten mit seinen Vorstellungen von freier Liebe und antiautoritärer Erziehung in der umfangreichen Ausgabe von Eltern. Daher wusste ich auch, dass moderne Eltern ihre Kinder beizeiten ungeniert aufklären sollten.

      Mein Vater blieb an der Schilderung des männlichen Geschlechtsorgans hängen und versuchte mit beiden Händen die Größe eines erigierten Penis zu zeigen. Ständig korrigierte er die vorgeführten Maße. Schließlich blieb er bei der beeindruckenden Länge eines Eselschwanzes. So bezeichnete er auch den männlichen Penis, um einen treffenden Vergleich zu finden. Ich war unangenehm fasziniert, weil ich annahm, er sprach von seinen eigenen begnadeten Maßen. Gleich darauf fühlte ich mich gedemütigt, denn mir schien seine Vermessungstechnik wenig korrekt, oder mit mir stimmte etwas nicht.

      Vor einigen Wochen hatte ich einen ansehnlichen Stapel bunter Pornohefte in einem Schrank des Vaters gefunden, der meine Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte. Die spärlich vorkommenden nackten Männer waren nicht so gut bestückt gewesen, wenn es auch erhebliche Unterschiede in Form, Länge und Umfang des Geschlechts gab. Vielleicht wollte er nachdrücklich klarstellen, wer der wahre Herr im Hause war. Tatsächlich begann schon bald eine unterschwellige, lang dauernde Rivalität, die vor allem von meinem Vater ausging und in dieser ungeschickten Schilderung des männlichen Gliedes seinen Anfang nahm. Lange nach dieser Unterredung spulte ich diese Szene immer wieder vor meinem geistigen Auge ab. Nie kam ich dahinter, wieso er es nicht bemerkte und innehielt, als er nur mehr mit einer hypothetischen Abmessung beschäftigt war.

      Das heimliche Betrachten und Benutzen der Hochglanzmagazine im praktischen Format A5, wurde allmählich zu meiner liebsten Passion. Dieser Ambition gesellte sich eine zweite, neue Gestaltung meiner Freizeit hinzu. Ich bekam Gefallen daran, meinen Körper mit Übungen zu trainieren. Ich zog an drei Federn meines neuen Expanders, mit dem Vorsatz, einmal alle fünf Federn zu schaffen. Aber was ich noch mit größerem Optimismus tat: Ich zog mich am Türstock zur Küche hoch. Bald gelangte ich zu einer Meisterschaft. Mein Vater überging gnädig meine Betätigung mit den Heften, die ich nach dem Gebrauch immer ordentlich an ihren Platz zurücklegte. Meine Klimmzüge am Türstock schienen ihm aber zu missfallen. Er fand, ich hinge »ständig wie ein Affe am Baum« und entferne mich zusehends von der menschlichen Kultur.

      Ich erreichte gerade mein dreizehntes Jahr, als mein Leben in einem wesentlichen Punkt bereichert wurde, der mich durch alle weiteren Stationen meiner Existenz begleiten sollte.

      Es verhielt sich ähnlich wie mit einer mir bisher unbekannten Art der Rockmusik. Diese Musikrichtung lag jenseits der »Großen Zehn«, einer Sendung, in der Musikstücke in undurchsichtiger Weise bewertet und nie zur Gänze ausgespielt wurden. Genauso wie die einstündige Vormittagssendung des Rundfunks, »beschwingt um elf«, in der – immerhin ohne Unterbrechung – seichte Unterhaltung geboten wurde. Eine neue Musik bestimmte mein Leben. Diese fantastische Richtung war seit ihrem Auftauchen nicht mehr aus meinem Alltag wegzudenken. Was mein Streben nach Autonomie auf unerwartete Weise unterstützte und meinen Mut schürte, war die englische Rockgruppe Jethro Tull.

      Ich bekam die Platten Aqualung und A Passion Play von meinem Sitznachbarn Schlesinger, mit dem Hinweis auf ihre Einmaligkeit, geborgt. Schon von den Plattenumschlägen konnte ich meinen Blick nicht wenden. Sie schienen ein Geheimnis zu verbergen, dass ich unbedingt lüften wollte. Als ich dann zu Hause das erste Mal Aqualung hörte, konnte ich die Genialität dieser Klänge nicht fassen. Die mitreißenden, direkten, spontanen Riffs, rissen mich aus meiner Lethargie und transportieren mich in einen Zustand, in dem ich nichts zu befürchten hatte.

      Und dann, im Sommer passierte