Gerald Roman Radler

DIE LSD-KRIEGE


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gefährlich unser Unterfangen war. Eines der zahlreichen Kinder des Nachbarn unserer Unterkunftsgeber fand ein frühes Ende aufgrund dieses Vergnügens.

      Es bremste zu spät, oder konnte nicht genügend Kraft auf den Ballonreifen übertragen. Es kam zu einem tödlichen Unfall. Der Bub rollte einfach auf die Straße, kurz bevor ein Tankwagen mit überhöhter Geschwindigkeit in Richtung Brenner raste und ihn regelrecht zerquetschte. Mit unserem geliebten Zeitvertreib war es danach ein für alle Mal vorbei.

      Das Ende unseres Urlaubs kam den Eltern zu Hilfe. Während der Abfahrt, winkten wir lachend mit unseren Stofftaschentüchern der Martinswand im Vorbeifahren. Ich aber spürte unter der Maske der Fröhlichkeit einen furchtbaren Abschiedsschmerz.

      Die Martinswand gehörte zur Nordkette und man konnte deutlich eine halbmondförmige Höhle erkennen, an der ein österreichischer Kaiser beim Aufstieg scheiterte. Er erreichte die Höhle, indem er sich auf einen Überhang schwang. Doch von dort aus konnte er nicht weiterklettern und auch nicht mehr absteigen. Mit dem Fernglas beobachtete ich mit morbider Faszination die schicksalhafte Höhle. Ich stellte mir die Not des Kaisers vor und wandte mich mit Schaudern ab. Die wuchtige Martinswand beeindruckte mich während unserer Aufenthalte in Tirol besonders. Einmal wanderten wir unter einem schwarz verhangenen Himmel über eine breite Wiese, auf der zahlreiche Starkstrommasten standen. Ihre Metallgerüste ragten in die Gewitterwolken hinauf.

      Vor uns befand sich die Martinswand. Ich schlug vor, in das Loch des Kaisers aufzusteigen. Mein Vater lachte nur. Nach zwei Stunden Gehzeit lag die Höhle greifbar nahe. Sie schien ums Dreifache angewachsen und ich konnte das Holzkreuz in ihrem Inneren deutlich erkennen. Bevor es zu regnen anfing und wir umkehrten, sah ich mit Unbehagen, dass uns nicht nur ein langer Marsch, sondern eine tiefe Schlucht und unüberwindbare zerklüftete, steile Felsen von der Höhle trennten.

      In Wien bereitete ich mich nach dem letzten der zahlreichen Urlaube in Tirol auf die erste Klasse des Gymnasiums vor. Jeder meiner Schritte wurde ständig überwacht. Meine Eltern kontrollierten unaufhörlich, ob ich ihre strengen Gebote einhielt. Ich konnte nie über mich bestimmen. Die Eltern setzten ihre Ideen stets durch. Für sie ging es vielleicht um eigentlich unwichtige Dinge, die für mich aber die Welt bedeuteten. Sie zeichnete ein lineares Verhalten aus. Sie waren Egoisten und mir blieb keine andere Wahl, als alles hinzunehmen und daran zu ersticken.

      In meiner damaligen Lage gab es keine andere Möglichkeit mich zu behaupten, als das, was ich fürchtete, vehement anzustreben. Bevor ich einschlief, stellte ich mir oft vor, was ich tun würde, wenn ich versagte und keine gute Benotung mehr erhalten würde. Das Schreckgespenst der geächteten Schüler, die repetierten und in der Eselsbank saßen, geisterte durch meine Albträume.

      Die schlimmste Zeit begann, als ich mit der ersten Klasse des Gymnasiums begann. Da brach auch bald meine asthmatische Beklemmung mit voller Wucht aus. Dass meine Eltern die wahre Ursache nicht begriffen, verstand ich nicht. Sie dachten, ich wäre auf Pelztiere allergisch. Zum Teil stimmte das auch. Ich reagierte auch auf Meerschweinchen, Hamster und Katzen mit Atemnot. Mittlerweile war ich bereits von Dr. Flossys Drogen substanziell lädiert und litt psychisch fortgesetzt unter Erfolgszwang.

      Eines Tages betrat ich die, gegenüber unserer Wohnung liegende, neu eröffnete Zoohandlung und mir wurde die Luft knapp. Dieser Zustand war neu und ich blieb viel zu lange in dem muffigen Geschäft. Ich bestaunte die Aquarien mit den tropischen Fischen besonders ausgiebig. Ich sah schon Sternchen, so schwer fiel mir das Atmen. Als ich mich unter äußerster Anstrengung über die Gasse wieder in meinem Zimmer geschleppt hatte, röchelte ich nur mehr. Im Spital wurde eine Allergie festgestellt, die durch kleine Säugetiere, die mit einem Pelz ausgestattet waren, ausgelöst wurde.

      Kurze Zeit nach diesem Wendepunkt in meinem Leben war ich bei einem Freund aus meiner Klasse zu Besuch und bekam nach wenigen Minuten einen schweren Anfall. Er hielt ein Meerschweinchenpärchen in einem Schuhkarton. Für meinen angekündigten Besuch sollte er aufräumen und hatte die Tiere unter dem Kleiderkasten versteckt. Nachdem sich die Erstickungsanfälle häuften, wurde mir klar, dass ich aufpassen musste, wo ich mich fürderhin aufhielt.

      Der familiäre Druck war inzwischen so stark geworden, dass er bei mir ein Ventil an der undichtesten Stelle fand. Mir fehlte regelrecht die Luft zum Atmen. Ich wäre gerne eigenverantwortlich gewesen, erstickte aber aufgrund meiner Minderjährigkeit an dem engen Kostüm, das Eltern und Lehrer mir geschneidert hatten. Zu dieser Zeit war ich gerade zwölf Jahre. Dabei hatte ich mich anfangs auf die allgemein bildende höhere Schule gefreut, bis ich merkte, dass ich mein Niveau als Vorzugsschüler nicht vorbehaltlos halten konnte. Die drei ersten Jahre sollte ich es trotz des Drucks schaffen, einen bemerkenswerten Notendurchschnitt zu erreichen. Wenn ich nicht lauter Einser nach Hause zu bringen imstande war, hing der Haussegen schief. Bei meinem Bruder reichte es, wenn er eine Prüfung bestand. Er litt unter einer leichten Form der Legasthenie. Er verdrehte Zahlen und Wörter. Die Eltern waren froh, wenn er mit einem Vierer benotet wurde. Mir wurde zum Ausgleich doppelt so viel abverlangt. Dabei hatte ich anfangs große Freude mit dem neuen Unterricht. Ich fühlte mich wie ein junger Forscher, der endlich die Gelegenheit bekam, seine Intelligenz unter Beweis zu stellen. Ich wollte mich in die anregende Gesellschaft der Professoren für Chemie, Physik und Naturgeschichte begeben, um dort die passende Herausforderung zu finden. Die Wirklichkeit sah freilich anders aus. In Wahrheit war ich ein Kind, das zu den Lehrern aufsehen musste. Ich kämpfte mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln um Beachtung. Ich bemühte mich unter Aufbietung aller Kräfte erfolgreich, mich von der Masse abzuheben. Bei meinem Bruder war die Situation anders gelagert. Er bekam die Gelegenheit mich zu beobachten. Er hatte immer zwei Jahre Zeit abzuwarten, was passierte. Als er sah, wie viel ich lernen musste, um zu bestehen, bekam er es mit der Angst zu tun.

      Ihn begeisterte die Vorstellung, das Gymnasium zu besuchen nur wenig. Er ließ sich – ganz im Gegensatz zu mir – nur auf Wunsch des Vaters in die Albertgasse einschreiben. Hatte ich noch dem Besuch der allgemein bildenden höheren Schule mit klopfendem Herzen entgegengefiebert, fürchtete sich Johnny vom ersten Schultag an vor dem Druck, dem er ausgesetzt sein würde. Er sollte sich nicht getäuscht haben. Seine Angst bestätigte sich schon bald. Er wäre nach der Volksschule liebend gern in die Hauptschule gegangen, die in der Pfeilgasse, im selben Gebäude, an das er sich endlich gewöhnt hatte, untergebracht war. Durch den Abriss der alten Volksschule in der Lerchengasse und die vorübergehende Unterbringung im Ersatzlokal in der Zeltgasse, fühlte sich Johnny entwurzelt. Er hatte es schwer, sich an eine neue Umgebung anzupassen. Er konnte keinen erschöpfenden Kontakt mit Lehrern und Schülern knüpfen.

      Als er nach der Volksschule gebeten hatte, in die Hauptschule gehen zu dürfen, bekam der Vater einen kalkulierten Zusammenbruch. Er würde nie solch ein selbst zerstörerisches Verhalten billigen. Da könne er ihn ja gleich ins Behindertenheim geben, meinte er erbost. Dabei dachte er mehr an sein Ansehen als an das Bedürfnis seines Sohnes. Er wollte im Büro stolze Berichte über die Fortschritte seines Nachwuchses abgeben. Damals war das erste Jahr, in dem eine Aufnahmeprüfung nicht mehr für notwendig erachtet wurde, der ich noch ausgesetzt gewesen war. So sah Vater überhaupt keinen Grund, warum mein Bruder in eine Deppperlschule umschwenken sollte, zumal er ja meine teuer erstandenen Bücher wieder verwenden konnte. Ich achtete akribisch auf meine gebundenen Schätze, die mein Bruder bereits im Zeitraum von einigen Wochen beschmierte und zerfledderte. Bücher waren für mich ein wertvolles Gut. Ich betrachtete die Schutzhüllen, nahm sie vorsichtig ab und strich liebevoll über die, mit Stoff überzogenen Buchdeckel. Ich vermied es, Speisen zu mir zu nehmen, während ich am Bauch liegend las. Der Tisch musste sauber sein, wenn ich ein neues Buch aufschlug. Für mich gab es keinen Unterschied zwischen einem Schulbuch und einer privaten Lektüre. Das Buch lüftete Geheimnisse, von denen ich nichts geahnt hatte. Die Freude meines Vaters über den Zustand meiner Bücher war grenzenlos. Ein Eselsohr war für ihn und auch für mich eine Katastrophe.

      Mein Vater hoffte, dass sich mein Bruder durch die Teilnahme am Unterricht im Gymnasium für die einzelnen Fächer begeistern würde. Die forcierte Förderung seiner Fähigkeiten, so dachte er, sollte sein Interesse am Lernen wecken. Die Rechnung ging niemals auf. Johnny hatte von der ersten Schularbeit an schlechte Noten und kämpfte ums Überleben. Er versuchte, lediglich durchzuhalten. Die gehobenen Anforderungen empfand er als nutzlose Quälerei. Die Einwürfe der Mutter, ihn doch