Gerald Roman Radler

DIE LSD-KRIEGE


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selten ausmerzen und so kam es, dass ich noch lange nach diesen Tagen das innere Bedürfnis hatte, um jeden Preis zu gefallen, auch wenn ich innerlich längst anderer Ansicht war. Ich spielte praktisch den angepassten Jungen, obwohl ich schon in der Volksschule eine symptomatische Idee vom Leben hatte. Sie war noch ungeformt und stark von meinem Vater beeinflusst, aber hinter dieser Schablone zeichnete sich eine klare Struktur ab. Leider war mein Lebensmittelpunkt auf die Wohnung fixiert, so wusste ich gar nichts von der grausamen Welt der Straße. Erst bei meinen zahlreichen Kinobesuchen nahm ich an Geschehnissen teil, von denen ich nichts geahnt hatte. Geschichten voll von Intrige, Niedertracht, Missverständnis und Betrug flimmerten über die Leinwand, während ich mich sonst auf das Fachwissen konzentrierte, womit ich das kommende Leben zu meistern beabsichtigte. Nach solchen Streifen schlenderte ich betrübt nach Hause und ahnte, was auf mich zukam und in welch aussichtsloser Lage ich mich jetzt schon befand. Ich hatte keinen blassen Schimmer von den verzwickten Gefühlen der Menschen. Ich wurde geliebt, weil ich fleißig und brav war, während andere Kinder bereits im Park spielten, Fehler machten und durch ihr Leid lernten. Meine Mutter bekam für fast jede Premiere und die darauf folgende Laufzeit des Spielfilmes Karten. Ich stellte mich nach telefonischer Voranmeldung meiner Mutter einfach zur Kassa, wurde herzlich begrüßt und zu meiner Ehrenloge am Balkon geführt.

      An meinem siebten Geburtstag sah ich den Streifen »mit Sieben ist die Welt noch in Ordnung«. Die Handlung kreiste um einen Jungen, der mir nicht nur äußerlich verblüffend ähnelte. Er lebte in gutbürgerlichen Verhältnissen und wurde von einer Jugendbande drangsaliert, durfte aber unter Androhung von Gewalt nichts seinen Eltern erzählen. Die Bande führte ihm im Falle der Auslieferung an die Erwachsenen die Konsequenzen in grausamer Weise vor Augen. Letztlich überwand er seine Furcht und die Gerechtigkeit nahm ihren Lauf. Die Eltern in diesem alten, romantischen Film waren stärker als mein Vater und meine Mutter. Die verloren geglaubte Harmonie wurde wieder hergestellt und das Kind hatte keine Angst mehr. Die Welt war wieder übersichtlich und berechenbar geworden. In einer gleichwertigen Situation der wahren Welt wäre der Junge und die Eltern obendrein wahrscheinlich ermordet und ausgeraubt worden.

      Ich war wie betäubt, als ich aus dem Kino ging, denn ich hatte die Grundstruktur von Quälereien begriffen, ohne eine persönliche Lösung zu finden. Ich selbst war das ideale Opfer und ich fürchtete mich vor den Gassenjungen in den anderen Klassen, die mich mit hohntriefendem Ausdruck beobachteten und mich anrempelten. Ich wurde unheimlich wütend. Diese Burschen passten nicht in meine wohlgeordnete, musterhafte Fantasiewelt. Dem guten, strebsamen Kind räumte in meinen Gedanken ein gütiger Gott den Weg von Steinen und Dornen frei, um ihm einen sicheren Platz in schwindelnden Höhen zu gewähren. Mein ganzes Leben setzte sich bereits aus aufgepfropften Vorstellungen und Menschen zusammen, die mich auf die eine oder andere Weise für ihre individuellen Ziele missbrauchten.

      Die Thematik des Streifens berührte mich in erster Linie, weil ich längst von Schülern höherer Klassen tyrannisiert wurde. Im gleichen Gebäude der öffentlichen Volksschule war die Hauptschule untergebracht und es verging kein Tag ohne Schikanen nach Schulschluss. Verhältnismäßig harmlos verlief das wiederholte Stellen eines Beines. Ich fiel hin und während mir die Tränen des Schmerzes über die Wangen liefen, erinnerte ich mich an den Vorfall bei den Piaristen. Ich wurde ausgelacht. Einige ältere Burschen passten mich an einer unübersichtlichen Stelle ab, rissen mir die Kappe vom Kopf und trampelten vergnügt quietschend darauf herum. Ich wusste mir nicht zu helfen. Während der Hausaufgaben kreisten meine düsteren Gedanken um eine Lösung dieser permanenten Bedrohung.

      Wenn die Tyrannei der Halbwüchsigen nur mein einziger Kummer gewesen wäre. Ich fühlte mich von den zwanghaften Ideen meines Vaters terrorisiert. Die jähen Zornesausbrüche meiner komplett überlasteten Mutter knechteten mich. Zu allem Überdruss war ich auf meinen kleinen, schwachen Bruder eifersüchtig, obwohl ich ihn irgendwie gern hatte. Als jüngeres Geschwister zerstörte er mein ganz persönliches Empfinden für eine perfekte Familienidylle. Ich war bisher der absolute Mittelpunkt des Interesses der Eltern. Sicher gab es Stunden und Tage, an denen ich glücklich war, einen Gefährten zu haben, der wie ein Teddybär zu mir stand. Ich konnte mit ihm spielen, ihm alles erzählen, ihn an die Wand werfen und zwicken. Allerdings gab es einen kleinen Unterschied zwischen einem Teddybären und Johnny: Er riss mich heftig an den Haaren, lädierte meine Unterarme mit Zähnen und Fingernägel, oder lief laut weinend und schreiend zu Mutter. Für ihn galt immer die Unschuldsvermutung, weil er der kleine Johnny war und ich der schlaue, böse, große Bruder. Mit der Gewöhnung an seine Anwesenheit, veränderte sich zunehmend meine Rolle in der Familie. Ich war bis zu seiner Geburt die große Hoffnung des Vaters. Ich war auserkoren die Tradition, mit der er durch die Kriegswirren brach, wieder fortzusetzen. Meine Aufgabe bestand darin, die entstandene Fuge zu kitten, dass auch er am Ende gut aussteigen konnte. Mein Bruder war der Liebling meiner Mutter, weil er zart und durchscheinend, sensibel und anscheinend schutzbedürftiger war als ich.

      Mit der Existenz eines zweiten Kindes war meine Einzigartigkeit in Frage gestellt. Ich wurde zunehmend verstimmter. Ich begann meinen Bruder bei jeder Gelegenheit, in die Finger zu beißen. Wenn ich seine kleinen, transparenten, dünnen Fingerchen sah, nahm ich sie in die Hand und biss herzhaft hinein. Die Eltern begriffen nicht, wie ich etwas derart Entsetzliches tun konnte, wo ich doch endlich ein liebes Geschwisterchen hatte. Ich verstand mich selbst nicht so recht. So befanden wir uns in der denkbar ungünstigsten Situation, die sich ein Familienpsychologe nur vorstellen kann. Ein paar Jahre später, als ich schon lesen konnte, wirkte sich meine Eifersucht bereits folgenschwer aus. Meine Position in der Familie hatte sich geändert. Ich war nicht nur gescheit und fleißig – es schlich sich das Gespenst der Malignität ein, dem ich erst Jahre später durch die damals noch amorph ausgesandten Botschaften gerecht werden musste. Wie jeder Erstgeborene war ich enttäuscht, als meine Mutter meinen Bruder präsentierte und ich begriff, dass dieser Säugling nicht geborgt, sondern von nun an das Zimmer und die Zuwendung der Eltern mit mir teilen würde. Später erkannte ich die Vorteile, einen Bruder zu haben. Mit ihm konnte ich all die Spiele erproben, welche uns auf ein Verständnis für die Hierarchie in der Welt vorbereiten sollten. Wir teilten uns so manche kindliche Seligkeit, während die Tage wie Minuten verdampften. Jahrelang waren wir von den Baukastensystemen Lego und Constri begeistert. Spielsachen hatten wir im Überfluss, wenn wir auch nicht immer das bekamen, was wir erträumten. Mein größter unerfüllter Wunsch war eine Carrera-Autobahn und eine Märklin-Eisenbahn. Viele Weihnachtsfeste lang hoffte ich unter dem Baum ein Paket zu finden, das die ersehnte Rennbahn enthielt. Jedes Jahr hielt ich am Weihnachtsabend Ausschau nach der riesigen Schachtel, die für mich oberste Priorität auf meiner Wunschliste hatte.

      Ich bekam eine schmale, lange Schachtel, die eine Loopingbahn beinhaltete. Aus zusammensteckbaren, gelben Plastikschienen wurde ein Looping mit Auslaufstrecke gebaut. Dann setzte man am Anfang der Bahn ein Matchboxauto an und ließ es aus. Die erste Schiene konnte an geklemmt werden. Ich wählte den höchsten Schrank, damit ein tüchtiger Schwung garantiert war. Die teuren, gefederten Sportwägen schafften die Todesschleife, alle anderen Autos fielen am höchsten Punkt, an genau der Stelle, wo ihre Unterseite nach oben zeigte, aus der Bahn. Ich verlor bald das Interesse an diesem einfallslosen Spielzeug.

      Zu meinem schönsten Besitz zählten zahlreiche Tiere mit Herz. Vom Hersteller wurden alle möglichen Arten von Tieren in sorgfältigster Verarbeitung nachgebildet. Diese lebensechten Stofftiere bekamen wir für gute Zeugnisse. Ich hatte bald ein Arsenal der Tiere mit Herz, aufgrund meiner guten Noten. So lebte ich in einem kleinen Puppenhaus mit meinem Raben Hugo, dem Dachs Diggy, dem Krokodil Gaty, meinem Hasen und meinem Fisch und anderen Tieren, die mich traurig, oder erwartungsvoll ansahen.

      Die Welt im Zentrum der Familie war für mich konvergent mit der externen Welt, in der die Menschen um ihre Existenz kämpften. Manchmal überrollte mich ein Gefühl der Bedrückung, aber ich hatte keine Bewusstheit über die Zusammenhänge und Vorgänge, die mir den höchst unangenehmen Status bescherten. Ich wähnte mich definitiven Sachzwängen ausgeliefert und war ahnungslos, dass meine Eltern die Bedingungen diktierten und meine Unbehaglichkeit und Enge verursachten. Für mich stand fest, dass allerorten die gleichen Verhältnisse vorherrschten und alle Menschen mit ähnlichen Übereinkünften konfrontiert waren.

      Ich glaubte, die Welt im Kindergarten, in der Schule, auf der Straße und in der