Gerald Roman Radler

DIE LSD-KRIEGE


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konnte nicht fassen, dass dieser Pater mich wirklich an den Haaren über das schwarze, gewachste Parkett gezerrt hatte. Den anderen Jungen zwirbelte er an einem Ohr hoch und rannte im Laufschritt zu seinem Tisch. Ich musste eine Erklärung über mein gotteslästerliches Verhalten abgeben, die mir in geeigneter Form nicht über die Lippen kommen wollte.

      »Das ist alter Reis und wird einfach in warmes Abwaschwasser geschüttet«, sagte ich mit erstorbener Stimme.

      »Reis ist ein Grundnahrungsmittel für gottesfürchtige Menschen und Suppe ist gesund« entgegnete ein anderer Pater, der mit listigen Schweinsäuglein lachte.

      »Der Reis ist verdorben und die Suppe stinkt. Deswegen essen sie auch keine Reissuppe!« sagte ich ein wenig mutiger. Der Schmerz unter meiner Kopfhaut ließ verbale Rache gedeihen.

      Für dieses frevlerische Betragen wurde ich in ein christliches Fegefeuer geschickt, in dem ich die Macht der Kirche zu spüren bekam. Das Fußvolk sollte den Priestern stets gehorchen. Und ich hatte in meiner kindlichen Unvernunft die Aufmerksamkeit der Inquisition auf mich gezogen.

      Die Strafen des Paters schufen ein aggressives, negatives Klima unter den Mitschülern. Gewaltausbrüche waren keine Seltenheit. Ein Junge, der von Pater Quadrian gepeinigt wurde, ließ sich im Hofturnen an seinen Mitschülern mit den Fäusten aus. Als ich an ihm vorbeilief, stellte er mir so geschickt ein Bein, dass ich in hohem Bogen mit dem Gesicht auf den Asphalt fiel. Ich stand auf und konnte nichts sehen. Über mein Gesicht lief Blut und ich war benommen. Ich war zu keiner Gegenwehr fähig.

      »Ich kann nichts mehr sehen«, flüsterte ich und hoffte auf Hilfe.

      Ich hörte Pater Quadrians erzürntes Schnaufen, als er mit langen Schritten auf mich zukam. Er zog mich am Ohr zu einem der Reihenwaschbecken und wies mich an, mein Gesicht zu reinigen, dann würde ich mein Augenlicht wieder erlangen. Seine Stimme troff vor Hohn. Er hatte recht. Das Wasser schmerzte auf der Haut, doch als das Blut den Abfluss hinab geronnen war, konnte ich wieder sehen. Als mir Tränen des Schmerzes und der Verwirrung in den Schürfunden brannten, wurde Pater Quadrian zornig und herrschte mich an.

      »Danke Gott auf Knien, dass du gesund bist. Jetzt zu weinen ist eine Sünde wider Gott den Herrn. Er hat dir einen Engel geschickt, der dir die Augen öffnen sollte!«

      Ich starrte den riesigen Moloch vor mir an und wusste, dass dieser Mann irrte und sehr gefährlich war. Ich spürte das Herannahen einer Strafe, da meine Reaktion nicht konform ging, mit den totalitären Vorstellungen des Lehrers. Meine Eltern hätten mich sofort in das nächste Spital gebracht, um den Grad der Verletzung abzuklären. Die Wunden brannten höllisch. Doch am misshandelten Ohr und an der Ungerechtigkeit, die mir widerfuhr, laborierte ich mehr. Ich wurde in das Klassenzimmer geschickt, um in mein Übungsheft fünfzig »Vaterunser« säuberlich einzutragen, während der Rowdy, der mir das Bein gestellt hatte, toleriert wurde. War er der Engel, der mir die Augen öffnen sollte?

      Immer am Abend, wenn mich mein Vater von den Piaristen abholte, begann ich ein Bein steif nachzuziehen. Zu Hause angekommen, kroch ich sofort unter den Tisch. Selbst gutes Zureden, mich wieder zur Familie zu gesellen, ließ ich unerhört. Meine Mutter nahm sich viel Zeit, mich nach der Stelle, von wo die Schmerzen ihren Ursprung nahmen, zu fragen. Sie drang in mich, ihr genau zu berichten, bei welcher Gelegenheit ich mein Bein verletzt hatte. Ein herbeigerufener Arzt konnte keinen ersichtlichen Grund für mein Leiden finden und empfahl eine ambulante Untersuchung. Doch niemand im Spital konnte sich meine rätselhafte Erkrankung erklären. Der Hausarzt Dr. Ladengrau erklärte sich sofort zu einem Hausbesuch bereit, als meine Mutter die Not am Telefon schilderte. Irgendwann erwähnte dann Dr. Ladengrau einen möglichen Zusammenhang zwischen dem Ende meines Schultages um siebzehn Uhr und dem anschließenden Nachziehen des Beines. Er diskutierte mit meinen Eltern in meiner Gegenwart, während ich unter dem Tisch saß, als wäre ich nicht anwesend. Er hatte mich sofort durchschaut. Ich zog mein Bein, einem inneren Impuls folgend, nach. Es war ganz so, als hätte mein verhülltes, seelisches Elend einen kreativen Ausdruck gefunden. Ich fühlte mich besser, wenn ich hinkte und mich hinterher unverstanden unter dem Tisch zusammen kauerte.

      Ich beobachtete Dr. Ladengrau, als er zu meinem Vater sagte, ich verstärke einfach den Ausdruck meines Leids und da mich niemand ernst nahm, intensivierte ich die Situation des Rückzuges, indem ich mich unter den Tisch hockte. Meine Eltern begriffen, dass ich dieser Art von niederträchtiger Formung im Orden nicht gewachsen war und bald zerbrechen würde. Sie handelten rasch, steckten mich in eine öffentliche Schule und ich war geheilt.

      Das letzte Indiz für eine häusliche Anwesenheit der Kirche Gottes war das Abendgebet. Bevor wir uns schlafen legten, setzte sich noch kurz ein Elternteil an den Bettrand und wir mussten unseren Spruch aufsagen, den mein Vater uns gelehrt hatte.

      »Mein Herz ist klein, darf niemand hinein, als du mein liebes Papilein – oder Mamilein«, je nachdem, wer unserer blasphemischen Deklamation beiwohnte. Da von meinem Vater das Wort »Jesulein« so klaglos ausgetauscht wurde, empfand ich jenes Gebet mehr als spaßige Verabschiedung bis zum nächsten Morgen. Oft hielt ich aus gegebenem Anlass Zwiesprache mit meinem neuen Gott, der es gewohnt war, nur mir zu lauschen. War ein anderer Familienangehöriger krank, fürchtete ich rasch dessen Tod. So unterhielt ich mich im Bett liegend mit Gott und setzte meine Überredungskunst ein, ihn von der Notwendigkeit, diese Person am Leben zu lassen, zu überzeugen. Nicht zuletzt, weil sie nicht leiden sollte, noch gebraucht wurde, oder so schlecht gar nicht war, sondern nur arm und verzweifelt.

      Warum wir Gebete aufsagen mussten, ließ sich mit einer konstanten Indoktrination durch Vaters Eltern erklären, die auf ihn unbemerkt nachwirkte.

      Sie waren schon einige Jahre begraben, als mein Vater meine Mutter heiratete. Er erreichte sein zweiundvierzigstes Jahr, unterdessen ich das grelle Licht der Julisonne erblickte. Für mich war es schwer den Einfluss ihrer Persönlichkeit aus Erzählungen nachzuvollziehen. Ich hatte den Eindruck des gestrengen Patriarchen, der seine Frau mit eleganter Gewalt am Boden festhielt und seinen enorm hohen Bildungsgrad ausnutzte, um ihre Bäume nicht in den Himmel wachsen zu lassen.

      Mein Vater eiferte ihm in allen Punkten nach. Die Abweichungen des bereitwillig angenommenen Weltbildes äußerten sich nur in seinen Lobgesängen für das Militär, das den Willen des Menschen zu seinem besten brach. Erst der Drill würde das Individuum zu einem brauchbaren Glied der Gesellschaft machen, das den Staat unterstützend funktionierte. Er erklärte mir oft den Sinn der gesellschaftlichen Ordnung und die Zweckdienlichkeit einer Regierung durch gewählte Politiker. Dabei schien mir, dass er mehr Verständnis für die Schildwachen der Paragrafen hatte, als für sich selbst, in der Rolle des Verwalteten.

      Gegen dieses starre Repetieren einer aufgezwungenen, menschenfeindlichen Ordnung, lernte ich nur allzu bald aufzubegehren. Ich lehnte schon frühzeitig jegliche Waffengewalt zur Schlichtung von Auseinandersetzungen ab. Genauso schloss ich die geistige Nivellierung zum Zweck der Hegemonie aus. Es leuchtete mir ein, dass ein Volk, das aus lauter ähnlich funktionierenden Menschen bestand, leichter zu regieren war. Doch ich sah mich nicht auf der Seite der Regenten und hatte Angst. Die Völkerverständigung konnte nicht durch Repressalien gewährleistet werden.

      Erschreckende Bilder des Fernostkrieges und die unklare Bedrohung durch eine versehentlich gezündete Atombombe verdüsterten die Atmosphäre, in die geraten war.

      Die Ideale meines Vaters schienen frühzeitig eingetrichterte Grundlagen. Sie waren für ihn längst nicht mehr überprüfbar.

      Er bemühte sich einen guten Vater abzugeben, der meinen Eifer anstachelte, indem er von seinen verstorbenen Verwandten erzählte. Sie lebten als Gelehrte und studierte Männer. Es wäre meine Pflicht in der Zukunft ihre Tradition fort zu setzten, ermahnte er mich stets. Monströse Bilder von Forschern, die nächtelang ihr Leben in Labors opferten, um in unbekannte Bereiche einzudringen, umringten mich. Ihre nachweislichen Ergebnisse spornten mich enorm an. Sie verscheuchten die heraufbeschworenen Bilder des Krieges, der nuklearen Todesgefahr und der Suppression.

      Der Onkel meines Vaters, ein grandioser Maler, lebte zurückgezogen in seinem Salzburger Turm und mied jeden menschlichen Kontakt. Die Aufzeichnungen des anderen Onkels, eines angesehenen Pathologen aus Innsbruck, fanden einen Platz unter meinen Büchern. Ich schlug oft die Seiten auf, ohne ihren Inhalt zu begreifen.