Gerald Roman Radler

DIE LSD-KRIEGE


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angetan hatte es mir der Bruder des Großvaters. Er war Schriftsteller gewesen, Theaterdirektor des Badener Stadttheaters und Herausgeber einiger Lexika, die ihren Weg in die Nationalbibliothek fanden. Ihn erkor ich zu meinem Vorbild. Sein Bildnis galt mir als Mahnmal der heiligen Verpflichtung, einen steinigen Weg anzutreten.

      Und mein Vater? Wo war er geblieben? Er musste sich doch wie ein Hanswurst unter all den geachteten Persönlichkeiten gefühlt haben.

      Als unangekündigt und unvorbereitet die ersten Schwierigkeiten mit Autoritäten auftauchten, verbreitete er eigentlich nur mehr die Normalität und den Durchschnitt als erstrebenswertes Ideal. Vergessen waren all die propagierten, verschrobenen Individualisten unserer Verwandtschaft. Er lehrte mich die eigenen Meinungen, wie Fahnen in den Wind zu hängen. Denn ausschließlich eine elastische Richtschnur, so deklamierte er, hätte ihm den Kopf im Krieg gerettet. Das Schlimme war, er bezog alle Ereignisse der Gegenwart auf einen einstigen Ausnahmezustand, in dem er mit dem Überleben kämpfte. Angesprochen auf diese schreckliche Zeit, gab er dennoch immer eine Darstellung eines gemütlichen Spaziergangs zum Besten.

      Nichtsdestotrotz hatte ich eine starke Bindung an meinen Vater. Sie lag wahrscheinlich im Verlauf einer bestimmten Erkrankung begründet.

      Ich steckte mich mit allen erdenklichen Kinderkrankheiten an. Ich war oft stark verkühlt und neigte zu hartnäckiger Bronchitis. Im Alter von sechs Jahren wurde mehr daraus. Ich kam mit Schüttelfrost und Grippesymptomen nach Hause. Ich legte mich zu Bett und am Abend, als mein Vater von der Arbeit kam, war mein Fieber schon auf neununddreißig Grad angestiegen. Ich fühlte mich völlig außer Gefecht gesetzt und nahm kaum mehr Anteil an meiner Umgebung. Der Hausarzt wurde zurate gezogen. Er kam prompt und erschreckte mich mit seiner tiefen, herrischen Stimme. Ich konnte den Sinn der Unterhaltung, die er mit meinen Eltern führte, nicht begreifen. Sie machten besorgte Gesichter, schüttelten den Kopf und ich musste mich aufsetzen. Dr. Ladengrau hielt meinen Kopf und gab mir eine Tablette, die ich kaum schlucken konnte. Dann sank ich erschöpft in die Polster. Diese Anstrengung hatte mich völlig überfordert. Ich wusste nicht, was mit mir los war. Ich war eingehüllt in Watte und unzusammenhängende, törichte Worte kämpften sich einen Weg durch meine Ohren.

      Inzwischen war mein Fieber auf vierzig Grad angestiegen. Gerade fühlte ich noch fremde, murmelnde Personen im Raum anwesend, dann lastete unerwartete Stille wie eine Drohung im Raum. Ich hörte jemanden stöhnen und unvollständige Sätze sprechen, auf die eine Stimme antwortete. Ich belauschte die Person, die von winzigen Kugeln erzählte, die dicht gedrängt aus der linken Zimmerecke in meine Richtung strömten und auf ihrem Weg größer wurden. Da ich diese geometrischen Gebilde anstarrte, wurde mir augenblicklich klar, dass ich selbst es war, der hier im Fieberwahn redete. Ich drehte meinen Kopf schwerfällig in die Richtung, aus der die andere Stimme monoton hallte. Auf einem Sesselchen saß ganz klein mein Vater umgeben von schalen, wirbelnden Farben, die ihn einrahmten wie ein Gemälde. Dann wieder schien zwar sein Körper winzig, seine Hände und sein Kopf mutierten ins Riesenhafte. Diese optische Täuschung war mit außerordentlich unangenehmen Körpersensationen verbunden. Ich spürte seinen Anblick als dumpfes, wattiges Ausfüllen meines Gesichtskreises. Ich sah seine Züge überdeutlich nah, als würde ich durch ein Fernglas schauen. Ich kannte die Grenze meines Körpers, die jene sichtbare Außenwelt von meiner eigenen Person teilte, nicht mehr. Ich starrte mit aufgerissenen Augen auf seine, in verzerrten Proportionen wiedergegebenen, unzusammenhängenden Sinnesorgane. Einmal sah ich ausschließlich seine Nase, ohne zu wissen, was für eine Funktion sie beim Menschen bekleidete. Dann wieder verlor ich mich im Anblick eines seiner sinnlosen Ohren. Nach einer Weile versunkener Betrachtung rutscht er wie auf einer quietschenden Schiene weit nach hinten, als wäre mein Zimmer ein Loft und er wurde winzig klein. Immer wenn ich ihn als Wichtel sah, zuckten seine Augen und die Mundwinkel nervös und seine Bewegungen nahmen clowneske Formen an. Dennoch holte mich sein Anblick für Sekunden in die Wirklichkeit zurück, dann sank ich in das Kissen zurück und starrte in eine Zimmerecke. Ich berichtete ihm mit hohlen, fremden Worten von meinen erdrückenden Fieberfantasien.

      Bis mich die Kugeln erreicht hatten, rollten sie an meinem Körper entlang, dann lösten sie sich zischend auf und an ihrer Stelle loderte kurz eine grelle rote Flamme auf.

      Mein Vater verlangte eine genaue Schilderung aller aktuellen Visionen. Das sprechen fiel mir unendlich schwer, dennoch brachte ich einheitliche Worte zustande. Er versicherte mir, dass meine Eindrücke normal seien und wieder meinem herkömmlichen Empfinden weichen würden. Wenn sich der Raum völlig mit den herab fallenden Kugeln gefüllt hatte und ich kaum mehr atmen konnte, war wieder ein schrecklicher Höhepunkt erreicht. Er trug mich weiter weg von allem Bekannten und allmählich wurde ich gleichgültig und erschöpft. Gerade dann bäumte ich mich vor Schmerz auf. Ich hatte Angst, erstickt zu werden, durch die nimmer enden wollende Fülle jener todbringenden, geschwollenen Kugeln, die bereits mein Innerstes einzunehmen schienen. Die Zimmerecke war ein winziger Punkt in unendliche Ferne, die stecknadelgroße Blasen gebar, welche bald in meine Brust eindringen sollten. Aber ich vergaß niemals, wo ich herkam. Denn ich hielt mich an der monotonen Stimme und diesem Bild von meinem Zwergenvater fest, der Jahrhunderte lang wie festgeschraubt immer an derselben Stelle auf seinem lächerlich verbogenen Stühlchen saß. Immer wieder fragte ich mit ersterbender Stimme, ob er die Kugeln und die Flammen auch sehen konnte, aber er beteuerte, nichts von alledem erkennen zu können. Gleichzeitig bezweifelte er meine Angaben nicht und riet mir, nicht aufzugeben.

      DIE FOLGEN DES FIEBERS

      Als der Morgen durch die Ritzen der Fenster schlich, sank das Fieber. Ich hatte mich schon so an die Überfülle dieses Zimmers gewöhnt, dass mir der Raum ohne Kugel, Flammen und dem Gefühl mit Watte ausgepolstert zu sein, leer vorkam. Ich drehte den Kopf. Dort saß mein Vater, bleich und übernächtig und sah aus wie immer. Er meinte ich hätte eine schwere Lungenentzündung. Meine Temperatur sei nach Mitternacht auf über einundvierzig Grad gestiegen und ich hätte fantasiert, aber jetzt ginge es mir offensichtlich besser. Es erstaunte ihn, dass ich mich an jede Einzelheit unserer Nacht des Schreckens erinnern konnte. Ich gab ihm trotz meiner Erschöpfung eine detaillierte Schilderung meiner Optik auf seine Gestalt. Er hatte mir als Strohhalm gedient, an dem ich mich am Höhepunkt meines Fiebers anklammern konnte. Ich war davon überzeugt, dass ich nicht mehr am Leben wäre, wenn nicht mein Vater die Nacht an meinem Bett verbracht hätte. Entweder hatte er sich verpflichtet gefühlt, sei es aus Sorge um meine Gesundheit, oder weil er den Auftrag von meiner Mutter erhalten hatte, an meinem Lager zu wachen. Er hatte intuitiv das Richtige getan und gesehen, dass ich einen roten Faden benötigte, falls ich ins Leben zurückkehren wollte, wofür ich ihm sehr dankbar war. Warum ich in dieser Nacht meine Mutter nicht zu Gesicht bekam, ist mir bis heute ein Rätsel. Eigentlich fiel die Krankenbetreuung in ihr Ressort. Dieses spontane, wohltätige Verhalten meines Vaters gehörte zu den gezählten positiven Erinnerungen meiner Kindheit, die ich mir vor Augen hielt, als seine Verbindung zu mir längst nur mehr abstrakter Natur war. Sicher stand er mir, gerade durch diese gemeinsamen Stunden geistig näher, als die Mutter, an der sich mein Bruder hauptsächlich orientierte.

      Insgesamt betrachtet fürchteten wir beide den Vater. Die Mutter war launisch und aufbrausend, erschien uns aber irgendwie menschlicher und zugänglicher, zumal wir mit ihr auch wesentlich mehr Zeit verbrachten.

      Die überstandene Lungenentzündung schnitt nicht nur durch das bewusste Erleben des Fiebers mein Leben in zwei Teile. Es sollte nach meiner Genesung noch ein unangenehmes Nachspiel geben. Ich neigte mit einem Mal zu Infektionen der oberen Atemwege. Ich bekam mehrmals im Jahr eine Bronchitis, die jedes Mal mit Antibiotika bekämpft wurde und in eine unkontrollierbare Allergie überging. Sobald die Bäume ausschlugen, schwollen meine Augen zu, ich wurde von hartnäckigen Niesanfällen gepeinigt und aus meiner Nase floss andauernd eine klare Flüssigkeit, die mit unzähligen Papiertaschentüchern aufgesaugt werden wollte. Nach der Niesorgie stellten sich Atembeschwerden ein, die später gepaart mit dem Schulstress zu einem quälenden Asthma heranreifen sollten. Warum dieser nahtlose Übergang vom akuten Infekt zu einer chronischen Krankheit stattfand, könnte daran liegen, dass mein Vater keine noch so harmlose Verkühlung tolerieren wollte. Seine Hypochondrie bedeutete für Johnny und mich ein Bombardement an Penicillin. Für ihn war ein Schnupfen eine gefürchtete Erkrankung, deren Symptomatik man schleunigst bekämpfen musste.