Gerald Roman Radler

DIE LSD-KRIEGE


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unseren kargen Imbiss eingenommen, räumte er den Tisch ab und wir waren entlassen.

      Mein Vater war in einer Art Trauerstimmung. Er schlich abwesend durch die Räume und vermied jegliche Beschäftigung, außer der, mit sich selbst. Er saß also steif in einem Sessel, oder lag angezogen am Bett und dachte nach. Wir mussten uns geräuschlos verhalten. Jeder noch so geringfügige Ton schreckte ihn aus seinen Fantasien. Dann kam er auf Zehenspitzen in unser Zimmer und wir mussten Rechenschaft für den vorgefallenen Lärm ablegen. Da wir Szenen dieser Art künftig vermeiden wollten, verharrten auch wir in Grabesruhe. Nur mein Bruder erkundigte sich alle Stunden nach Mutters Verbleib. Darauf studierte mein Vater mit gequältem Gesichtsausdruck die Uhr und errechnete eine mögliche Rückkehr seiner vermissten Gemahlin.

      Diesmal nutzte die Mathematik kaum. Erst um dreiundzwanzig Uhr wurden wir aufgefordert, uns auf die Nachtruhe einzustellen. Damit lagen wir weit über dem Schnitt des üblichen Zubettgehens. Wir dachten, es sei etwas Schreckliches passiert, denn von meinem Vater ging keine messbare Ausstrahlung mehr aus. Jegliche Farbe war aus seinem Gesicht gewichen. Er konnte keine Fragen mehr beantworten und die Stille lastete unerträglich auf uns. Die Uhren tickten unbarmherzig und zogen seine Augen ständig in ihren Bann. Mein Bruder glaubte sogar, die Mutter sei gestorben und kämpfte mit den Tränen.

      Wir schliefen dennoch ein. Ich erwachte durch ein unharmonisches Lachen und die leise Stimme meines Vaters. Im Vorzimmer war Licht. Ich verstand nicht, was vor sich ging und der Schlaf in meinen Augen zog den kommenden Vorfall ins Unreale. Ich sah auf die Uhr. Es war kurz nach drei Uhr Morgen.

      Plötzlich johlte meine Mutter laut und ihr Lachen wirkte fremdartig gemein. Sie sagte: »Nicht einmal denken!«

      Dann: »Das sind meine Kinder, zu denen gehe ich, wann ich will, nicht wenn du mir es erlaubst!« Dazwischen vernahm ich die mahnende und beschwörende Stimme meines Vaters. Er klang, wie ein Priester, der in einem unbekannten Singsang eine Litanei vortrug, die meine Mutter dermaßen zu Heiterkeitsstürmen hinreißen ließ, dass sie zu krächzen und zu husten begann. Offensichtlich wollte sie mein Vater festhalten, denn er sagte etwas lauter und in bestimmten Tonfall: »Die Kinder schlafen und für dich wäre das Bett auch das Beste!«

      Meine Mutter fluchte, riss sich los und stürmte durch die Küche in unser Zimmer, wobei sein mehrmals meinen Namen rief.

      »Wach auf, wach auf!« krähte sie kichernd.

      »Ich bin wach«, sagte ich und richtete mich auf.

      Sie roch nach Rauch und Alkohol und atmete schwer. Sie umarmte mich und hängte mir ein Lebkuchenherz um. Sie beteuerte mir ihre Zuneigung und es war das letzte Mal in meinem Leben, dass ich sie so menschlich erlebte. An diesem Abend benutzte sie nicht meine Abhängigkeit, um irgendetwas von zweifelhafter Sinnhaftigkeit zu erreichen. Sie getraute sich Gefühle zu zeigen, wobei sie sich nicht selbst im Wege stand. Als sie das Zimmer wieder verließ und ich sie leise mit meinem Vater diskutieren hörte, war ich sehr traurig. Ich lag allein mit meinem Lebkuchenherz, auf dem mit Zuckermasse »I love you« gespritzt stand. Ich hatte keine andere Regung als Mitleid mit meiner Mutter. Ich konnte mir meine Anwandlung auch nicht erklären, aber sie war so stark, dass ich mir letzten Endes selbst leid tat. Dann bedauerte ich meinen Vater, ob seiner Ungeschicklichkeit und Johnny, weil er so arm war und ich ihn verspottete, anstatt ihn so wie meinen Teddybären, der seit meiner Geburt neben mir lag, zu behandeln. Ich betete zu einem Gott, den ich gerade erfunden hatte. Ich sprach mit ihm in meinen Gedanken, als würde er tatsächlich durch die Dunkelheit verborgen, in meinem Zimmer sitzen und meine Bitte verstehen. Ich bat ihn eindringlich, meine Familie vor Krankheit und Tod zu schützen. Falls er meinem Wunsch Folge leisten würde, versprach ich ehrlich, an ihn zu glauben. Ich sagte ihm, dass er seine Forderungen an mich richten solle. Ich fühlte mich verantwortlich für meine Mutter, meinen Vater und Johnny.

      Der stereotype Verlauf des Lebens nahm aber keine Rücksicht auf Wünsche und Gebete. Durch meine unbegreifliche Verzweiflung, die sich in dieser Nacht so schmerzlich einstellte, spürte ich bereits, dass ich nichts verändern konnte.

      Gegen den Strudel des Lebens, der mich und meine Familie erfasst hatte, war ich machtlos. Ich war überzeugt davon, die traurigste Nacht meiner Kindheit zu erleben.

      Mitleid und nagende Schuld wurden meine ständigen, unsichtbaren Begleiter, die ich nicht zu entlarven imstande war. Obwohl man mir keine christliche Erziehung angedeihen ließ, nahm die Auswirkung dieser seltsamen Aufwallungen von undefinierbarem Pflichtbewusstsein allmählich Gestalt an. Es war so, als könnte ich die Dämonen der Schuld und des Mitleids nicht erkennen, weil ich nicht an sie glaubte, oder weil ich sie aus meiner eigenen Welt verbannt hatte. So wie alle christlichen Inhalte, die mir falsch erschienen und nur als Kontrollfunktion über die desorientierten, ängstlichen Gläubigen fungierten.

      Die Familie meines Vaters, deren Mitglieder schon verstorben waren, bestand sehr wohl aus Christen. Seine Mutter war eine leidenschaftliche Marienanbeterin, die fast täglich in die Antonikapelle am Alsergrund pilgerte, um ein Kerzchen anzuzünden. Meine Mutter folgte ihrem Beispiel. Sie fühlte sich vom Wesen dieser feinen Dame angezogen und hoffte vielleicht auf ein heilsames Wirken der Jungfrau Maria, wenn sie sich einmal jährlich in der Antonikapelle zeigte.

      Meine erste Volksschulklasse erlebte ich bei den Piaristen, einem Orden in Wien Josefstadt. Dort sollte ich eine ordentliche Erziehung genießen. Doch aus dem dringenden Wunsch meines Vaters, mich für zwölf lange Jahre unterzubringen, wurden dank einer psychosomatischen Erkrankung, nur sieben Monate. Mein Vater holte mich jeden Abend nach dem Büro ab.

      Der Aufenthalt bei den Piaristen entwickelte sich zum Höllentrip. Die geistlichen Lehrer in Kutten waren zu Schlägen und Strafen aufgelegt. Kein Anlass war ihnen zu gering, mich an einem Ohr durch den Klassenraum zu schleifen, bis mir fast die Sinne schwanden. Schläge mit dem Lineal auf die Handrücken standen für alle Adepten an der Tagesordnung. Pater Quadrian, der Klassenvorstand ließ gar den Schlüsselbund auf die Köpfe der verängstigten Buben niedersausen. Er teilte Kopfnüsse aus, die ein Brausen in den Ohren anstimmen ließen. Er ließ Uneinsichtige stundenlang mit dem Gesicht zur Wand stehen und halblaut ununterbrochen das »Vaterunser« aufsagen. Beten stand überhaupt alle Stunden an der Tagesordnung. Weder begriff ich den Inhalt, noch die Bedeutung des sinnlosen Herableierns eines liturgischen Textes.

      Zu Mittag gingen wir in ein gegenüberliegendes Gasthaus, in dem eine fixe Tischordnung eingehalten wurde. Die Schüler bekamen jeden Tag Reissuppe vorgesetzt, während den Geistlichen die feinsten Braten serviert wurden. Einige von ihnen speisten doppelte Portionen und tranken riesige Gläser Bier dazu. Der Reis, der in der ekeligen, stinkenden Brühe, eingeweicht war, fühlte sich im Mund leblos und glitschig an. Jeder Bissen wurde während des Kauens wattig und schien aufzugehen wie Hefe. Mir grauste unendlich vor dem Brei, der meine Mundhöhle ausfüllte. Man konnte ihn nur rasch hinunterschlucken, oder sofort ausspucken. Es gab nur diesen einen Teller Reissuppe, mehr nicht. Die Hungrigen bekamen aber auf Wunsch einen Nachschlag. Die Kellnerin ging mit einem Topf durch die Tischreihen und hielt den Schopflöffel drohend hoch. Es kam schon vor, dass manche Buben einen zweiten Teller aßen, doch die standen an Leibesfülle den Geistlichen vergleichsweise am Nächsten.

      Meine Eltern wollten mir anfänglich nicht glauben, als ich die vorherrschenden Zustände schilderte, da sie ein anständiges Sümmchen für die Versorgung zu Mittag hinblätterten. Dann aber erfuhren sie von der Schulleitung, dass die Buben zu beherrschten, willensstarken Männern herangezogen werden sollten, nach dem Moto: »Ein voller Bauch studiert nicht gerne!«

      Von da an steckte meine Mutter mir Salamisemmeln und Schinkenbrötchen zu, die ich unter dem Tisch im Lokal verzehrte. Beim Essen verstand meine Mutter keinen Spaß. Sie war der Meinung, die wohl durch die Entbehrungen des Krieges geprägt wurde, dass ein Mensch genug zu essen haben sollte, um sich wohl zu fühlen. Leider wurde ich eines Tages erwischt, als ich wieder langsam den Sessel hinunterglitt, um am Boden mein privates Mahl einzunehmen.

      Meine Tischnachbarn ließen mich gewähren. Ich saß an dem, den Geistlichen am weitesten entfernten Tisch und ein Mitschüler tat es mir bald gleich. Wir speisten beide unter dem Tisch und somit fehlten zwei Schüler, die das Lokal nicht verlassen hatten. Das dürfte Pater Quadrian bemerkt haben, denn er schleifte mich an den Haaren durch die Gaststätte zum Tisch der anderen Gottesmänner.