Gerald Roman Radler

DIE LSD-KRIEGE


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dem Träumer wohlwollend und freundlich zu.

      AUFERSTEHUNG

      Das nächste, woran ich mich erinnere, sind fremde Stimmen, auf die eine bekannte Stimme in mein wiedererlangtes Bewusstsein schneidet. Es ist die Stimme meiner Mutter, die schrill und unnatürlich mein Traumgespinst zerreißt. Sie stellt tausend Fragen. Es fällt mir schwer, ihrem Ansturm gerecht zu werden. Um sie herum stehen mir völlig unbekannte Personen. Eine davon ist eine Bäuerin mit einem Kopftuch. Sie ist die einzige, die lacht und mir einen kräftigen Arm reicht und mich unter der Kuh hervorzieht, was meine Ordnung zerstört. Meine bleiche Freundin dürfte das wissen. Meine Mutter kreischt Worte wie »tottrampeln« und Sätze wie »mit dem Schweif die Augen auspeitschen«, die mich beängstigen und amüsieren zugleich. Aber ich habe noch lange nicht mein normales Bewusstsein erlangt.

      Meine Mutter regt sich über irgendetwas fürchterlich auf. Ich bin verwirrt, bis ich begreife, dass der Grund ihres Ärgers ich selbst sein soll. Mein Vater verhält sich ruhig, daher erkenne ich ihn erst jetzt. Er sieht mich eigenartig an.

      Die Mutter legt eine Hand auf meine Stirn.

      »Er hat Fieber«, sagt sie.

      »Das Stroh wärmt«, sagt die Bäuerin. Sie steht mir näher, als alle anderen.

      »Er muss ins Spital, er ist krank«, sagt meine Mutter.

      »Er ist noch ganz verdattert, er hat tief geschlafen«, sagt die Bäuerin.

      »Wo hast du dich versteckt? Wie kommst du her?« fragt meine Mutter vorwurfsvoll und unpassend.

      Ich kann mich nicht erinnern, aber ich sehe in meinem Geist die Füße mit den Turnschuhen laufen und schüttle den Kopf. Ich kann denken, aber nicht sprechen.

      »Er wird hier gespielt haben, müde geworden sein und sich unter die Kuh zum Schlafen gelegt haben«, sagt die Bäuerin.

      Sie weiß etwas. Ihre Augen sind schwarz, wie Beeren und können lachen, während ihr Gesicht unbewegt bleibt.

      »Wir haben ihn in Judenstein verloren und sind nach Stunden ergebnisloser Suche hierher zurückgefahren, um den Verlust bei der Gendarmerie zu melden«, erklärt mein Vater die Situation.

      »Wahrscheinlich nahm ihn jemand mit dem Auto mit, nachdem er sich verlaufen hat.

      »Das war sehr klug von dir. Sie haben einen gescheiten Buben«, lobt mich die Bäuerin und ihr Mann, der tatenlos neben ihr, auf eine Mistgabel gestützt, steht, nickt eifrig.

      Meine Mutter ist an der richtigen Stelle getroffen. Sie wird arglos und der Stolz lässt sie größer erscheinen. Ihre Stimme wird versöhnlich.

      »Was ist dir da durch den Kopf gegangen?« fragt sie und stemmt die Hände in die Hüften.

      »Der Kopf gehört nur ihm«, sagt die Bäuerin lachend, »und wer oder was durch den Kopf gegangen ist, das weiß niemand, außer der Bub!« Obwohl ich nicht fassen kann, was hier vor sich geht, spricht die Bäuerin die einzige Sprache, die ich momentan verstehe …

      Als die Bauern mich spät abends in ihrem Stall gefunden hatten, waren sie sofort zur Pension, in der wir wohnten, gegangen, zumal sie höchstens fünfzehn Gehminuten entfernt war.

      Touristen waren gering vertreten in Axams und eine Familie, die in der Nähe einquartiert war, entging den Augen der Einheimischen nicht. Nachdem die Familie wieder vereint war und den Bauern gebührlich gedankt wurde, gingen wir nach Hause zur Vermieterin. Ich war angeschlagen und taumelte, was mein Vater aber auf Schlaftrunkenheit zurückführte. Mir war zu diesem Zeitpunkt der Hergang der Ereignisse, bis auf den Höhepunkt der Vergiftung völlig klar. Dieser Umstand milderte meine Furcht und meine Verwirrung. Eigentlich fühlte ich mich rundum wohl. An diesem Abend fiel ich, trotz einer inneren Erregung, bald wie ein Stein in mein weiches, weißes, fremdes Bett und schlief bis in den nächsten Vormittag hinein. Ich wurde anderntags ausgiebig interviewt, wie es mir gelungen war, mich vor den Eltern zu verstecken und wen ich angesprochen hatte, der mich mit dem Auto zurückgebracht hatte. Doch auch nach vielen weiteren Fragen, sollte mein Verbleib ungeklärt bleiben. Die von der Bäuerin vorgesetzte Version wurde insgeheim akzeptiert.

      An die laufenden Schuhe und an das Erwachen unter der Kuh konnte ich mich später deutlich erinnern, obwohl ich zum Zeitpunkt des tatsächlichen Ereignisses, nur eine partielle Bewusstheit besessen hatte. Ich verschwieg den halben Fliegenpilz und war im Unklaren über meine Abenteuer, die nach dem Betrachten des letzten Steinmarterls begonnen hatten. Ich musste bizarre Eindrücke gehabt haben, denn manchmal tauchte ein seltsames Gefühl auf, dass ich mit dem Wald in Judenstein in Verbindung brachte. Völlig unklar blieb meinen Eltern das Bewältigen der Distanz von über zwanzig Kilometern. Wie konnte ein schüchternes Stadtkind so energisch auftreten, sich verlaufen, eine Entscheidung fällen, ein Auto aufhalten und den Ort, wohin es wollte, nennen.

      Ich allein wusste, dass ich gelaufen war. Doch ich sagte nichts, denn meine Erinnerung wies Lücken auf. Schon in den folgenden Nächten beschäftigte ich mich im Schlaf mit der Zeit der Halbbewusstheit.

      Im Traum beschloss ich, von einer Asphaltstraße weg, in den Wald zu gehen. An der Stelle, wo ich den Wald betreten wollte, standen ein paar bunte Turnschuhe, die ich sofort als »meine Schuhe« identifizieren konnte. Ich freute mich dann durch einen so ungewöhnlichen Zufall, meine Schuhe zu finden. Manchmal zog ich sie an, bevor ich mich in den Wald aufmachte. Oft träumte ich nur von den »Tappenden Füßen«, die am Rand einer Landstraße liefen. Ich sah den Rest meines Körpers nicht, doch ich wusste, dass hier vertraute, kleine Füße in bunten Turnschuhen entlang der Landstraße liefen.

      Ich vermutete, dass ich während meiner Bewusstseinsstörung instinktiv zur Straße fand und die lang gezogenen Serpentinen dann hinunterlief, da wir sie mit dem Auto hinaufgefahren sind. Möglich ist, reimte ich mir aus der Erinnerung und den Träumen zusammen, dass ich die ganze Strecke bis nach Axams, gelaufen bin. Ich war trotz oftmaliger Bronchitis und allergischem Asthma ein schneller Läufer, der im Sprint auch den Besten seines Alters leicht davonlief. Fraglich ist aber, wieso die Eltern mich überhaupt aus den Augen verloren.

      Merkwürdig ist, dass sie zum Gasthof gingen, ihre bestellte Mahlzeit zu sich nahmen und offensichtlich auf mein Nachkommen warteten. Noch Verwunderlicher ist, dass sie nicht im Wald weitergesucht haben, sondern zur Pension zurückgefahren sind, obwohl sie wussten, dass bald die Nacht hereinbrechen würde und von diesem Zeitpunkt an die Chancen, mich zu finden, schlecht stünden. Ich bekam auch weder von meinem Vater, noch von meiner Mutter eine klare Antwort über die tatsächlichen Ereignisse. Ich wartete vergeblich auf ihre Interpretation der chronologischen Abläufe bis zu meiner Aufspürung im Kuhstall. Vorwürfe und Angriffe waren die Resonanz auf meine Anfragen. Mein Bruder behauptete, sich nicht dieses Vorfalles in Judenstein entsinnen zu können. Ich versuchte ihm später mit einer genauen Schilderung, seinem Gedächtnis auf die Sprünge zu helfen. Doch entweder hatte er das Erlebnis wirklich vergessen, weil es für ihn kaum eine Bedeutung hatte, oder er wollte mir keine Auskunft geben. Ich hatte den Eindruck, meine Eltern und mein Bruder schwiegen das Erlebnis in Judenstein absichtlich tot, obwohl ich den Grund für ihr Verhalten nie verstanden habe.

      Es folgten in den Tiroler Urlaubstagen noch viele Ausflüge, bei denen die Eltern das schöne Wetter ausnutzen wollten und Johnny und ich um unser Gartenidyll bangten. Schon vor dem Frühstück drehten wir eine Runde im taufeuchten Gras und schielten nach den Schaukeln. Doch wir durften uns vor dem Essen nicht auf die gekerbten Bretter setzen, um in immer höheren Schwüngen zu schwelgen. Ich erwähnte die Fahrt nach Judenstein nicht mehr und widmete mich kurzweiligen Betätigungen, auch wenn ich besonders in der Dämmerung ins Grübeln kam.

      Es gab nämlich noch ein Vergnügen, das wir bis zur Neige auskosteten. Wir benutzten ein blaues Kinderrad mit kleinen Ballonreifen, sobald es verlassen am bemoosten Holzzaun lehnte, der den Beginn des nächsten Anwesens anzeigte. Mehrmals am Tag spähten wir zum Gatter, ob die Nachbarskinder das Rad bereits achtlos weggelegt hatten, dann gehörte es uns. Wir lenkten den Trittroller vom Ende der langen Wiese hinter dem Haus die Böschung hinab zur Straße, um uns dann mit rauchenden Reifen einzuschleifen. Mit dem Fuß drückte man eine Gummirolle