Sascha Arntsen

Midgards Erben


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      Er schlendert am Bürgerhaus vorbei, von wo aus er schon die Bücherei sehen kann.

      Dort angekommen geht er die drei steinernen, abgetretenen Stufen hinauf, die zum Eingang des alten Gebäudes führen. Es ist eines der wenigen Häuser der Stadt, die den zweiten Weltkrieg fast unbeschadet überdauert haben. Somit sticht es auch deutlich aus der Nachkriegsarchitektur des übrigen Marktplatzes hervor. In der ersten Etage angekommen, wendet er sich den Sachbüchern zu.

      „Heiden, Heiden, worunter fällt denn das?“, flüstert er leise.

      Jemanden zu fragen traut er sich aber irgendwie auch nicht. Nicht nachdem er zu Hause solche Antworten bekam, die schon fast faschistischen Charakter hatten.

      „Unter Geschichte vielleicht? Religion?“

      Jan durchstöbert ratlos die Regale.

      „Nein, hier auch nicht. Ich frage besser doch mal nach“, murmelt er vor sich hin.

      Er wendet sich an eine Angestellte, die in einem anderen Bereich der Etage wiedergebrachte Bücher einsortiert.

      „Hallo. Wir müssen für die Schule ein Referat ausarbeiten und nun suche ich Bücher über Heiden und deren nordischen Götter.“

      Ihm steckt die Frage wie ein Kloß im Hals.

      „Bücher über Heiden allgemein, oder hauptsächlich über die alten nordischen Völker?“

      „Eher die Nordischen“, antwortet er.

      „Also, direkt über Heiden haben wir momentan nichts da. Aber warte mal!“ Sie überlegt kurz. „Komm mal mit zu den Erzählungen!“

      „Zu den Erzählungen?“, denkt sich Jan. „Ich wollte doch Tatsachen und keine Erzählungen.“

      „So, hier habe ich was. In diesem Buch stehen Heldensagen und Göttergeschichten der nordischen Mythologie drin. Was anderes haben wir im Moment wie gesagt leider nicht da. Ich könnte mal in der Datenbank nachschauen, ob wir was aus den anderen Büchereien bekommen können. Es gibt Bücher über die Germanen und Kelten, da müsste was bei sein. Könnte ich bestellen. Die wären dann Anfang nächster Woche hier.“

      „OK, danke. Das reicht aber erst einmal. Würde mich dann nächste Woche noch mal melden“, erwidert Jan. Er schaut: „Die Edda, aha. Kenn ich nicht.“

      Aber trotzdem blättert er mal kurz rein.

      „Völus..pa, was? Was bedeutet denn das?“, Jan tut sich bereits mit der Überschrift schwer.

      Es ist ein Buch, dass die darin befindlichen Geschichten in Fersen und Stabreimen widergibt. Es ist relativ schwer zu lesen. Zumal für einen unbelesenen Jugendlichen.

      „Ich leih es mir mal aus und lese es durch. Hab ja auf der Klassenfahrt bestimmt viel Zeit dafür.“

      So soll es sein. Er lässt den Barcode des Buches scannen und packt es ein. Lesen möchte er es bei dem heutigen schönen Wetter allerdings noch nicht. Lieber will er noch mal raus, an die frische Luft. Dabei geht er wieder die Rheinpromenade entlang und denkt noch einmal über einige Worte nach, die Simone gestern sagte.

      „Asatru, ich weiß nicht. Was heißt denn das genau? Wieso sind Heiden bei manchen so verhasst? Hat es wirklich damit zu tun, dass Heiden Nazis, oder Nazis Heiden sind? Habe eigentlich noch nie was davon gehört. Aber wenn es so wäre, dann hätte sich Simone doch bestimmt anders verhalten, oder? Ist bestimmt wieder so ´ne bekloppte Pauschalisierung.“

      Fragen, worauf er wieder keine Antworten hat. Sollte er doch noch mal zu Hause nachfragen?

      „Zuhause reagieren die immer so komisch bei derartigen Themen. Wen könnte ich denn mal fragen? Meinen Onkel Hermann? Nein, besser nicht, der ist Mitorganisator bei der Christlichen-Arbeiter-Jugend. Unser Nachbar Thomas vielleicht? Mist, der ist, meine ich zumindest, Gruppenführer bei den Pfadfindern. Das gibt‘s doch nicht! Jeder in unserer Familie und Umgebung ist irgendwie kirchlich tätig. Eventuell doch meine Eltern? Die fragen sich dann bestimmt selber was Heiden sind und ziehen einen dann wieder auf, wie damals bei Katja vor sechs Jahren. Ach keine Ahnung!“

      Katja war seine erste bessere Freundin, mit der er auch mal Hand in Hand durch die Stadt ging. Bei diesem Thema wurden seine Eltern selber wieder pubertär.

      Langsam geht er die Promenade entlang, wieder vorbei an der Stadtmauer und dem alten Mühlenturm, zu der Stelle von gestern. Hingehen will er aber nicht. Dafür setzt er sich aber auf eine Bank, von wo aus er eine ausgezeichnete Sicht auf die kleine Halbinsel hat. Es ist warm, die Blätter rascheln leicht im Wind. Vom angrenzenden Spielplatz kommen wieder die Geräusche von Kindern, die dort toben. Jan schließt die Augen und entspannt sich.

      „Was sagte Simone, sie tankt so Energie? Dann versuch ich‘s doch auch mal.“

      Eine Zeit lang verweilt er da so, bis plötzlich sein Freund Alex auftaucht.

      „Na Jan, schläft du?“

      Jan erschrickt.

      „Alex, spinnst du? Musst du mich so erschrecken?“

      Jan ist sichtlich sauer und meint weiter mit leicht erhobener Stimme:

      „Nein, ich tanke Energie.“

      „Dann tank mal fertig und komm einfach mal mit. Mal ´ne Runde durch die Stadt“, fordert Alex.

      „OK, ich komme.“

      Jan will eigentlich noch ein wenig hier sitzenbleiben, aber drücken mag er sich nun auch nicht.

      „Was war denn nach der Schule mit dir los? Ist jemand gestorben?“

      „Ich will es nicht hoffen. Ich kann aber noch nicht darüber sprechen.“

      „Ist es wegen Simone?“, fragt Alex. „Das war doch nur ein Witz heute Morgen. Ich konnte ja nicht ahnen, dass du so ruppig reagierst.“

      „Wegen Simone? Jain, äh, ja auch. Aber ich erzähle es dir noch.“

      „Hey Alter, sie ist doch nur krank und nicht aus der Welt.“

      „Darum geht es ja nicht. Ich sag ja, ich erzähle es dir bei Gelegenheit.“

      „Wie du willst. Hast du schon alles vorbereitet für Montag? Bin mal gespannt, wie die Jugendherberge da so ist. Was ich noch nicht so ganz verstanden habe ist, warum wir uns eigentlich so komische Steine anschauen müssen.“

      „Wir schauen uns doch nicht nur die Steine an, wir fahren doch auch zum Hermannsdenkmal. Das finde ich persönlich uninteressanter. Steine sind Natur und irgendwie sind diese Steine auch etwas mystisch.“

      „Wie mystisch, geht’s noch? Sind doch nur Steine die im Wald herumstehen. Von wegen mystisch. Sind noch nicht mal Mineralien, da könntest du ja wenigstens dran rumlutschen“, albert Alex herum.

      „Ach, lass dich einfach mal überraschen, Alex.“

      „Du bist aber echt sehr komisch drauf im Moment.“

      „Lass mich auch mal. Komm, du wolltest doch in die Stadt, oder?“

      Sie gehen los und kommen an der Stelle von gestern vorbei. Doch Jan will sich gegenüber Alex nichts anmerken lassen.

      „Hast du das heute mit der Ableitregel in Mathe verstanden?“

      „Jan, es ist Wochenende und kein Matheunterricht!“

      „Ja, ich weiß. Wie spät haben wir?“

      „Haste keine Uhr?“

      „Würde ich sonst fragen, du Ei?“

      „Es ist gleich 16 Uhr. Sollen wir mal auf den Mühlenturm steigen?“

      „Na klar“, antwortet Jan.

      Am Rhein steht dieser alte Mühlenturm, wovon nur noch die Grundmauern erhalten sind. Er wurde so ausgebaut, dass man von innen über ein Treppengerüst aus Holz, bis oben hinaufsteigen kann. Auf der Spitze befindet sich eine Aussichtsplattform,