Malte Ubben

Weißschwarz


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auch suchen, niemand wird ihn finden.“

      Der Mann zog eine Zeitung aus einer Jackentasche, auf deren Titelseite die Schlagzeile prangte „Jugendlicher enthauptet Vater“.

      „Die glauben im Ernst, dass der Kleine seinen Papa ermordet hat. Es ist schon erstaunlich, wie einfach Menschen denken.“

      Der Mann spuckte das Wort ‚Menschen’ heraus, als ob es ihn schon anekelte, auch nur einen Gedanken daran zu verlieren.

      Sclair lachte erneut.

      „Dann lass uns doch einmal den Jungen fragen, oder hast du was dagegen?“

      Ehe der blauäugige Mann etwas sagen konnte, öffnete Sclair seinen Mund. Ein lang gezogener, hoher Schrei drang aus seiner durchsichtigen Kehle.

      Gespannt wartete Sclair auf eine Gefühlsregung seines Gegenübers. Sie blieb aus.

      „Wann hast du seine Kraft aufgesogen?“, fragte der Mann interessiert.

      „Es wird noch höchstens zwei Tage dauern, bis er von meiner Dunkelheit verschluckt wird. Dann wird nichts mehr vom armen Holger Schmidt übrig sein“, erklärte Sclair mit einem breiten Grinsen.

      „Wir werden sehen. Aber jetzt solltest du deine Artgenossen aufsuchen. Ihr müsst beginnen. Ach, und Sclair, ich habe noch ein Geschenk für dich.“

      Der Mann flüsterte dem Schatten etwas zu.

      Sclair stieß ein letztes Lachen aus und entmaterialisierte sich in eine schwarze Nebelwolke, die plötzlich herangeweht kam.

      Der Blauäugige blieb einige Sekunden unter der wieder Laterne stehen und verschwand dann, ebenso rasch und leise wie Sclair, in der Dunkelheit.

      Der Nachtwandler

      Der Regen prasselte gegen das Fenster. Es hatte langsam angefangen. Zuerst waren es nur ein paar kleine Tröpfchen gewesen, losgelöst aus den Weiten des Himmels, in gewisser Weise Vorboten der Nacht, die allmählich die Sonne löschten. Der Wind hatte nicht stark geblasen, nur ein Hüsteln der Welt. Doch aus dem Hüsteln waren erst ein Keuchen und danach ein Stöhnen geworden. Auch der Regen hatte sich verstärkt und gewaltige Wolkenberge türmten sich auf, die immer wieder den Mond verdunkelten.

      Tom Becker hasste den Regen und hasste den Wind. Er verabscheute jeden einzelnen Tropfen, der sich den Weg zur Erde bahnte, verachtete jede Böe, die durch seine Straße und um sein Haus fegte.

      Er betrachtete sein Spiegelbild, das in der Fensterscheibe zu sehen war.

      Seine kurzen, blonden Haare und sein kantiges Kinn waren genau auszumachen, von seiner grünen Iris war aber nichts zu sehen. Er konnte auf seinem Pullover einen Fleck erkennen, wahrscheinlich noch Reste vom Mittagessen.

      Tom beobachtete den Mond, der langsam aufstieg. Die Blitze, die sich immer wieder über den dunklen Himmel zogen, erhellten immer wieder die Stadt. Dazu fiel auch manchmal fahles, kaltes Mondlicht auf die Erde, wenn es nicht von den dunklen, erstickenden Wolken daran gehindert wurde.

      Das Prasseln am Fenster ging Tom auf die Nerven. Er runzelte die Stirn und wandte sich dem Nachbarhaus zu, dessen Umrisse in der Finsternis wirkten, wie ein altes Ungetüm, das in der Nacht hockte und auf Beute wartete.

      Es war ein fast schon antikes Gebäude, doch trotzdem nicht heruntergekommen und keinesfalls verdreckt oder in einer anderen Weise ungepflegt, die Familie Peterson in Verruf hätte bringen können. Die Wände waren weiß und das Dach mit blutroten Ziegeln bedeckt. Efeu wucherte an einigen Stellen bis hinauf zum Dachfirst. Der Garten war gewaltig, mit einem Fischteich, der fast schon ein See war und einem kleinen, selbst angelegten Wald aus Fichten. Keine vier Meter von Toms Zimmer entfernt erhob sich die braune Ziegelsteinwand, die das Grundstück der Beckers vom Anwesen der Petersons trennte und nicht einmal fünf weitere Meter dahinter ragte das alte Haus auch schon empor.

      Von seinem Stuhl aus konnte Tom das Zimmer von Walter sehen, seinem Erzfeind. Er dachte daran, wie viele Gefechte und Streitereien sie sich schon geliefert hatten…

      Tom war zwar kein Außenseiter in der Schule, aber er war auch nicht sehr beliebt. Walter Peterson trug einen großen Teil dazu bei. Wenn er nicht wäre, hätte Tom wahrscheinlich auch ein paar echte Freunde, die bereit waren, ihn auch einmal nachmittags zu besuchen. Es gab den einen oder anderen, der sich neben Tom setzte, aber nur, weil seine Noten in Deutsch sehr gut waren.

      Der Streit mit Walter war beinahe historisch. Schon im Kindergarten hatte es angefangen: Hatte Tom eine Sandburg gebaut, die größer war als die von Walter, war sie am nächsten Tag einem Attentat zum Opfer gefallen.

      Hatte Tom einen besseren Test geschrieben als Walter, wurde ihm rätselhafter Weise am nächsten Tag vorgeworfen, dass er abgeschrieben hatte. Toms Lehrer behauptete damals steif und fest, aus zuverlässiger Quelle erfahren zu haben, dass Tom von seinem Sitznachbarn „inspiriert“ worden war.

      Hier lag das erste Problem: Walter war ein Meister der Schauspielkunst. Sogar dann hätte er einen Finanzbeamten davon überzeugen können, dass bei ihm nichts zu holen sei, wenn er einen Goldbarren um den Hals getragen hätte.

      All das war noch gar nicht so dramatisch gewesen, im Gegensatz zu dem, was voriges Jahr vorgefallen war. Die Sache mit Juliet.

      Juliet war Toms erste (und einzige) große Liebe gewesen. Er lud sie ins Kino ein, führte sie zum Italiener aus und kaufte ihr sogar eine goldene Halskette. So viel Geld mit sechzehn Jahren aufzutreiben war ziemlich schwierig gewesen. Dafür hatte er einen ganzen Monat bei „Samuels Fisch- und Flunderfachgeschäft“ die dreckigen, schuppigen und fettigen Fischregale geputzt. Zu seinem Ekel hätte er das ein oder andere Mal schwören können, dass die Reste, die er manchmal fand, noch lebten. Außerdem hasste er Tintenfische, ob sie nun mausetot oder lebendig waren. Aber er hatte seinen Ekel überwunden und lange in dem kleinen Laden geschuftet.

      Und dann kam es vor vier Wochen, wie es kommen musste, und zwar in Gestalt von Walter Peterson. Dieser miese Hund hatte es irgendwie geschafft, ein Foto zusammenzubasteln, das ihn und Kerstin beim Knutschen zeigte. Kerstin hatte die Figur eines Orcas und ihr Gesicht war so speckig, dass man es mit einem Haufen Walfett verwechseln konnte. Ein Glück war, dass man ihre fettigen Haare rechtzeitig riechen konnte, so war eine schnelle Flucht nicht unmöglich. Juliet fand die ganze Sache natürlich nicht sehr toll, ihre Ohrfeige tat Tom jetzt noch weh.

      Die Tatsache, dass danach Walter mit ihr ausgegangen war und schon nach zwei Tagen wieder mit ihr Schluss gemacht hatte, zog unwirklich an Tom vorbei.

      Hier lag das zweite Problem mit Walter: Seine Eltern hatten mehr Geld als das Unwetter Regentropfen. Und das gaben sie ziemlich schnell für ihren „lieben kleinen Schatz“ aus. Eine einfache Fotomontage machen zu lassen war somit kein Problem.

      Seit diesem Tag hatte sich die Rivalität zwischen den Beiden verändert. Sie war in Krieg umgeschlagen. Und wie sich gezeigt hatte, war Tom darin nicht schlecht.

      Ganz besonders stolz war er auf den Einfall vom letzten Montag. Mit Zeitungspapier bewaffnet hatte Tom den Nachbarshund Percy abgeholt und war ein Stück mit ihm spazieren gegangen. Als das Tier sich auf dem Gehweg erleichtert hatte, sammelte Tom die Überbleibsel ein und lieferte Percy wieder bei seinem Frauchen ab.

      Nachdem Tom über die Mauer der Petersons geklettert war, schlich er langsam zu Walters Haustür. Mit seinem Feuerzeug entzündete er die Zeitungsfetzen, die Percys Schätze enthielten und klingelte. Da Walters Eltern gerade zu einer Konferenz aufgebrochen waren, wusste Tom, dass sein Feind alleine war.

      Rasch rannte er den Weg hinauf zum Tor, doch er hörte schon die Tür knarren und warf sich im Halbdunkel in das nächste Buschwerk, das sich zu Toms Pech als ein Brennnesselgestrüpp entpuppte.

      Von hier aus konnte er halb zerstochen, halb erfreut erkennen, wie Walter versuchte, mit seinen neuen Designerschuhen das Feuer auszutreten. Durch das unerfreuliche Ergebnis angeheizt, rannte der Junge noch nach drei Stunden mit einer Taschenlampe durch seinen Garten und suchte nach ihm.

      Doch heute saß Tom nur da, und schaute