Malte Ubben

Weißschwarz


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von Tom. Er war zum Glück noch nie persönlich darin gewesen, aber schon der Anblick ließ ihn beinahe erbrechen.

      So viele teure Sachen für so ein Ekel: Ein großer Plasmafernseher stand auf einer modernen Kommode, die aus Eisen gemacht war, an einer anderen Wand thronte ein Computer auf einem verchromten Schreibtisch. Walter bekam nahezu jeden Monat einen neuen („der Fortschritt ist nicht aufzuhalten“, wie der Mistkerl immer zu sagen pflegte). Darüber war ein Regal angebracht, auf dem nahezu zweihundert CDs standen.

      Es war ein Glück, dass der Kleiderschrank nicht zu sehen war, denn jeden Tag auf gut tausend Kleidungsstücke zu sehen würde Toms allgemeine Laune nicht sonderlich heben. Wohl aber zu sehen war das Holzbett, in dem sein Erzfeind schlief.

      Toms eigenes Zimmer war viel einfacher eingerichtet: Hier drin stand ein kleines Bett, ein großes Bücherregal, ein Schreibtisch mit einem alten Computer und ein Kleiderschrank in der einen, Schränke für Krimskrams in der anderen Ecke. An seinen Schreibtisch gelehnt war ein Baseballschläger, signiert von Billy Williams.

      Tom hatte einmal Baseball gespielt, aber er war vor drei Jahren ausgestiegen. Einen eigenen Fernseher hatte er nicht, wohl aber einen großen Lesesessel, in dem er nun saß und das gegenüberliegende Haus beobachtete.

      Normalerweise sollte er fröhlich sein, denn es war Freitag und außerdem noch Ferienbeginn. Er wollte sich entspannen und die stressige Schule hinter sich lassen, vielleicht ein paar Gedichte schreiben und faulenzen.

      Doch Tom musste immer wieder an den Zeitungsausschnitt denken, der auf seinen Knien lag. Es ging um Holger. Er kannte Holger nicht besonders gut, aber er wusste aus der Schule, dass dieser ein sympathischer, unscheinbarer Junge war. Das stand im krassen Gegensatz zu dem, was die Polizei sich rekonstruiert hatte.

      Der Zeitungsausschnitt war die Titelseite des „Ludwigsheimer Anzeigers“. Ein unscharfes Bild von einem Teppich mit undefinierbaren Objekten darauf war als Aufmacher verwendet worden. Vermutlich waren die seltsamen Gegenstände Überbleibsel von einem Menschen.

      Tom las den Artikel noch einmal durch und obwohl es schon das vierte Mal war, wurde er von einem seltsamen Grauen übermannt:

       Jugendlicher enthauptet Vater

       In der Nacht von Donnerstag auf Freitag hat ein Gewaltverbrechen die Kleinstadt Königsdorf in tiefes Grauen versetzt. Der 43-jährige Brian Schmidt wurde auf unglaublich bestialische Art und Weise ermordet. Nach polizeilichen Angaben wurde ihm einem ungewöhnlich sauberen Schnitt der Kopf mit abgetrennt, der noch immer nicht wieder aufgetaucht ist. Rätselhafterweise fehlt von Brians 14-jährigem Sohn Holger jede Spur. Die zuständigen Behörden nehmen daher an, dass es sich um einen Amoklauf des Jungen handelt. Berichten zufolge hatte das Kind ein selbst programmiertes Killerspiel auf dem Computer installiert, in dem es das Ziel ist, auf möglichst brutale Art und Weise Figuren zu ermorden, die seinem Vater verblüffend ähnlich sehen. Es war bekannt, dass das Verhältnis zwischen Vater und Sohn nicht das Beste war und da eines der Küchenmesser verschwunden ist, wird angenommen, dass die Tat mit diesem verübt wurde. Es ist jedoch ungeklärt, wie der Junge so viel Kraft aufbrachte, einen erwachsenen Mann mit einem normalen Haushaltsmesser zu köpfen. Ob die anderen beiden Vermisstenmeldungen oder der schwarze Nebel, der in letzter Zeit mehrfach beobachtet wurde, etwas mit dem Fall zu tun haben, ist noch unklar. Zeugen zu Folge waren laute Schreie und eine undefinierbare Schattengestalt durch das Fenster, das sich im ersten Stock vom Haus der Schmidts befindet, zu sehen, dies wurde jedoch nicht von den Behörden bestätigt. Die Polizei ruft alle auf, die Näheres zu der Bluttat wissen, ihre Informationen weiter zu geben.

      Tom stutzte. Irgendetwas an dem Artikel kam ihm merkwürdig vor und es war nicht die Sache mit dem Küchenmesser. Irgendetwas war so faul wie die Äpfel in seinem Garten. Widerwillig legte er den Artikel wieder weg.

      Schattengestalt? Tom glaubte nicht an Monster oder andere verrückte Wesen. Er bekam es zwar leicht mit der Angst zu tun, aber eher, wenn er greifbareren Bedrohungen gegenüberstand.

      Er stand auf und schlurfte durch sein Zimmer, stieß unsanft die Tür auf und ging den langen Flur hinunter.

      Seine Eltern hatten sich gerade ihre Mäntel angezogen, denn sie wollten an diesem Abend noch ins Kino gehen und „Romeo und Julia II“ genießen. Wobei man bei Toms Vater Albert nicht ganz von „genießen“ reden konnte, er tat das nur zur Freude von Toms Mutter. Alberts Glatze spiegelte die Flurlampe wider, während er Tom noch ein paar Abschiedsworte zukommen ließ:

      „Also, mein Junge, brenne uns nicht das Haus ab und feiere keine allzu wilden Partys. Ich möchte mein wunderschönes Heim noch einmal in ganzen Stücken wiedersehen!“

      „Ich kann dir das nicht versprechen“, lachte Tom.

      Kurz darauf waren seine Eltern eng umschlungen in die Nacht gebraust. Tom sah erneut in den Regen.

      Nach kurzer Zeit wurde dessen Anblick jedoch zu erdrückend, um länger vor der Tür zu verweilen und Tom zog es wieder ins Haus zurück, fort von der Dunkelheit.

      Er ging wieder zurück in sein Zimmer und zog sein Lieblingsbuch aus dem Regal: „Dunkle Märchen“ von Rosetta Becker. Seine Großmutter hatte dieses Buch kurz vor ihrem Tod zu Ende geschrieben und seitdem las Tom die Geschichten. Er schlug Kapitel fünf auf, eine seiner Lieblingserzählungen.

      Nachdem er sich mit dem „mutigen Mr. Montgomery“ vertraut gemacht hatte, wandte Tom sich wieder dem Unwetter zu und sah zufällig auf die Straße. Dort blieb sein Blick an der Laterne hängen. Das Licht begann zu flackern. Seltsam, wo doch das Kraftwerk keine zwei Straßen weiter entfernt stand.

      Dann normalisierte sich der Laternenschein wieder, es war, als ob ihm seine Augen nur einen Streich gespielt hatten. Und doch…

      Tom starrte zurück in die Nacht und sah den Vollmond an, der jetzt schon ziemlich hoch stand. Auf der Straße wurde es jetzt nebelig… normalerweise nichts Ungewöhnliches, aber seit wann hatte Nebel so eine pechschwarze Farbe?

      Von überall her wehte schattiger Dunst heran und legte sich auf den Boden wie ein Teppich.

      Tom blickte zurück in Walters Zimmer. Der hatte gerade seine Zähne fertig geputzt, sich geduscht und danach vergeblich versucht seine langen, schwarzen Haare trocken zu fönen.

      Er schien ausnahmsweise nicht den ganzen Abend lang Computer spielen zu wollen. Walter stolzierte geradewegs auf sein Bett zu, drehte sich abrupt zu Tom um, zeigte ihm den Mittelfinger und knipste das Licht aus. Nun strahlte nur noch der Mond in das Zimmer. Tom bewegte sich nicht. Er hielt den Atem an, als er bemerkte, dass der schwarze Nebel zwischen den beiden Häusern aufstieg. Dann durchfuhr ihn ein Schreck.

      Langsam zog die Suppe zu Walters Fenster empor, wobei sie immer neue Formen annahm, als würde sie leben. Suchend tastete eine Nebelschwade, die beinahe schon ein Tentakel war, nach dem Glas und durchglitt das feste Material dann einfach. Erschrocken hielt Tom den Atem an. Sein Deckenlicht flackerte erbärmlich auf und verlosch dann, ebenso wie die gesamte Straßenbeleuchtung.

      Einzig allein die vielen Lichterketten und Flutlichter von den alten Radners hielten dem unheimlichen, Licht fressenden Nebel stand. Das Ehepaar war in der ganzen Gegend bekannt dafür, Weihnachtsbeleuchtung schon im September aufzuhängen, wusste der Himmel wieso.

      Walter schien nichts zu bemerken. Durch das helle Mondlicht konnte Tom erkennen, dass er sich nicht sichtbar regte. Der dunkle Nebel umwaberte jetzt den Kopf von Walter und schien auf unheimliche Art und Weise fester zu werden. Mit einem Mal zogen sich die Schleier zurück. Tom konnte erkennen, dass der Dunst sich zu verdichten begann. Aus den Schlieren wurde zuerst eine Kugel, die selbst vom Licht des Mondes nicht erfasst werden konnte, sodass es aussah, als wäre ein Stück aus dieser Welt verschwunden in der Dunkelheit. Tom musste bei diesem Anblick daran denken, was einmal in einem Film als Schwarzes Loch gezeigt wurde.

      Doch so blieb es nicht. Langsam wuchsen aus dem Inneren Arme, Beine und ein Kopf hervor, grob umrissen zwar, aber eindeutig zu erkennen. Schnell wurde die Gestalt feiner, die Schultern wurden mit glänzenden Teilen einer dunklen Rüstung bedeckt, dann formte sich der Rest des Körpers. Mitten in Walters Zimmer stand ein Wesen, zwei Meter groß