Malte Ubben

Weißschwarz


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das Monstrum bemerkt. Schreiend sprang er aus seinem Bett und entkam gerade noch dem Hieb, der seinen Schlafplatz entzweispaltete und eine Wolke aus Daunen aufwirbelte. Walter rannte zur Tür und hämmerte panisch dagegen. Doch die Tür war verschlossen und Walter konnte sich gerade noch mit einem Sprung vor dem nächsten Schlag in Sicherheit bringen. Das Geschöpf stieß ein so ohrenbetäubendes Lachen aus, dass es durch beide Fenstergläser und in Toms Zimmer drang und schlug dann erneut zu. Sein Opfer wich wieder aus, sodass das Schwert aus dem teuren Computer einen Haufen Schrott machte.

      Plötzlich stand Walter vor dem Fenster, klopfte verzweifelt dagegen und schrie aus Leibeskräften. Der Anblick, wie er sich an das kalte Glas presste, sollte sich Tom für immer ins Gedächtnis brennen. Dann drang das Schwert durch Walters Brustkorb und Blut quoll aus der Wunde.

      Nun stieß auch Tom einen Schrei aus und die Kreatur blickte auf und sah ihm genau in die Augen.

      Obwohl es stockdunkel in Toms Zimmer war, spürte der Junge den stechenden Blick des Ungetüms. Er tastete nach seinem Lesesessel und versteckte sich wie ein kleines Kind hinter der Rückenlehne. Dann ergriff ihn ein Gefühl, das erdrückender war als alles, was er je gespürt hatte. Seine Gedärme krampften sich zusammen und Tom musste sich nahezu übergeben. Er blickte nach oben. Am Kopfende seines Sessels waren dunkle Qualmwolken aufgetaucht, genau wie noch ein paar Sekunden zuvor in Walters Zimmer und schon begann sich der Nebel zu einer erneuten schwarzen Kugel zusammenzuziehen. Tom machte sich bereit, einem tobenden Ritter mit Schwert die Stirn zu bieten. Doch die Kugel wurde kleiner, sank zum Boden herab und für einen kurzen Moment dachte Tom, dass er in Sicherheit wäre.

      Plötzlich jedoch bekam er wahnsinnige Angst.

      Die Kugel wurde langsam klarer und dann wuchsen dünne Arme mit langen Fingern, ebenso hässliche Beine und ein Kopf mit lederartigen Ohren und pulsierend roten Augen aus der Dunkelheit und verfestigten sich. Am Ende stand ein hässliches Geschöpf auf Toms Teppich und schaute ihn mit durchbohrendem Blick an.

      Er starrte zurück.

      Es war ein Graukobold. Als er noch in den Bergen wohnte, hatte Toms Großmutter ihm Gruselgeschichten über diese Monster erzählt. Angeblich krochen sie nachts aus den Felsspalten, schlichen sich in die Träume von Schlafenden und löschten dann deren Lebenslicht. Aber das war nicht möglich, so etwas existierte nicht! Es konnte einfach nicht existieren! Doch dort stand das Ding, direkt vor ihm. Der Kobold sah genau so aus, wie Tom es sich vorgestellt hatte.

      Er stutzte. Bei genauer Betrachtung gab es nicht den geringsten Unterschied. Fast, als wäre das Ding seinen Gedanken entkrochen.

      Dann sprang es mit einer enormen Geschwindigkeit auf ihn zu. Reflexartig warf Tom sich auf den Boden und das Ungetüm brach mit seinem kleinen Körper durch die Zimmertür; Holzsplitter wurden in alle Richtungen weggeschleudert und bohrten sich mit hässlichem Knallen in die Wand. Tom sah auf das Loch, das ihm einen Ausblick auf den dunklen Flur gewährte.

      Ein Fluchtweg.

      Der Graukobold rappelte sich mit einem schrillen Quieken

      auf und ließ die glühenden Augen rollen, während er sich mit einer schlangenartigen Zunge über seine Lider fuhr.

      Hektisch sah Tom sich in seinem Zimmer um und fand, was er suchte. Als das Monster sich umdrehte und erneut zum Sprung ansetzte, griff er nach dem Baseballschläger. Während der Kobold wieder auf ihn zuflog, holte Tom aus und hieb ihm mit aller Kraft ins Gesicht, sodass das Wesen an ihm vorbei in sein Bücherregal geschleudert wurde. Tom wusste aus den Geschichten seiner Großmutter, dass das Gesicht der verwundbarste Teil des Geschöpfes war. Gleichzeitig kam es ihm lächerlich vor, sich an die Angaben eines alten Gruselmärchens zu halten.

      Der Kobold schien das auch so zu sehen, denn er rappelte sich erneut auf, als sei nichts gewesen, und wollte schon wieder auf ihn zuhechten. Tom rannte in den Flur und auf die Treppe zu, den Schläger krampfhaft umklammert. Er hörte das Geschöpf kreischen und erhöhte sein Tempo, schlug einen Haken und sah den Kobold an sich vorbeizischen und in eine Kommode krachen.

      Schnell spurtete Tom die Treppe hinunter, drei Stufen auf einmal nehmend, und stieß schließlich die Haustür auf. Das Wesen schoss erneut knapp an ihm vorbei, diesmal nur, weil er sich mit einem Sprung durch die Haustür in den Garten rettete. Tom dankte seinem Vater, der seit Jahren kein Unkraut mehr vor der Tür gejätet hatte. Es war ein schleimiges, matschiges Geräusch zu hören und Tom hoffte, dass es nur die nassen, mit Wasser vollgesogenen Pflanzen waren und nichts ekelig Lebendiges, das er gerade zerquetscht hatte. Dann rappelte er sich schnell wieder auf und stürmte instinktiv auf den Garten der Radners zu. Um das Haus seiner Nachbarn war kein schwarzer Nebel zu erkennen, aber um das Grundstück herum war alles von dem dunklen Qualm bedeckt, der nun mehr wie ein tieffinsteres Meer aussah. Es schien, als mochte der Nebel keine Helligkeit. Tom rannte mitten in das einzige Licht, dass noch nicht vom Nebel gelöscht worden war und sah sich nach dem Kobold um. Der Graukobold wuchs aus den dunklen Schwaden hervor und rannte dann auf ihn zu. Doch plötzlich stoppte er vor den Lichtkegeln der Flutlichter und fletschte wild seine Zähne.

      „Du hast also Schiss vor ein wenig Licht? Muss ich etwa in die Dunkelheit, damit du mich aufschlitzen kannst?“, rief Tom, der sich von der Helligkeit gestärkt fühlte.

      „Komm doch, wenn du dich traust“, zischte das Geschöpf mit einer wässerigen Stimme.

      Seltsam, dachte Tom, normalerweise können die Dinger doch nicht sprechen.

      „Wir können viel mehr als sprechen“, gab der Graukobold zurück.

      „Zum Beispiel Gedanken lesen.“

      Tom erschrak. Dann antwortete er:

      „Du bist kein Graukobold, oder?“

      „Natürlich nicht.“

      „Was bist du dann?“

      „Das willst du nicht wissen. Ich weiß, dass du feige bist. Das kann ich auch in deinem Köpfchen lesen“, lachte der Kobold. „Du wirst mir nichts anhaben können, du kannst nur einfach dort stehen und warten. Ich kann deine Angst riechen. So süß. So saftig…“

      Tom zitterte am ganzen Leib. Seine Hand krampfte sich um den Griff des Schlägers.

      „Was willst du von mir? Was haben Walter und ich dir getan? Gar nichts! Was soll das?“, fragte er mit brüchiger, verzweifelter Stimme.

      „Ihr habt mir nichts getan, das stimmt. Es ist meine Natur, Menschen zu töten. Daran kannst du nichts ändern.“

      „Aber es gibt keine Graukobolde. Ich habe keine Angst vor Sachen, die es nicht gibt“, versuchte Tom sich selbst Mut zu machen.

      „Mich gibt es. Das sollte dir eigentlich reichen. Früher oder später werde ich dich kriegen. Dann zerreiße ich dich und esse dich auf. Dein Lebenslicht wird so wunderbar schmecken, ich kann es fast schon auf der Zunge spüren. So oder so, du bist verloren!“

      „I-ich kann hier die ganze Nacht herumstehen“, stotterte Tom.

      „Wirklich?“

      Die Flutlichtanlagen der Radners leuchteten gefährlich auf.

      Er versucht das Licht zu löschen, schoss es Tom durch den Kopf.

      „Exakt“, grinste das Ungeheuer.

      Dann fasste Tom einen Entschluss. Es war kein Gedanke, den das Wesen erfassen konnte, sondern nur ein unbeschreibliches Gefühl. Mit einem Mal fing Toms Schläfe an zu brennen und für einen kurzen Moment leuchteten grün-gräuliche Lichter vor seinen Augen auf.

      Tom stürmte mit dem Baseballschläger in die Richtung des Kobolds. Sobald er aus dem Licht getreten war, flog sein Gegner schon auf ihn zu, gierig und unbedarft.

      Wenn du Gedanken lesen kannst, dachte Tom, hörst du sicher Folgendes: Ich war mal ein ziemlich guter Baseballer.

      Und dann rief er:

      „Viel Spaß in der Hölle, falls es so etwas gibt, du Mistvieh!“

      Er schlug das Monster mit aller Kraft in Richtung des nächsten Flutlichts. Als der Kobold