Kendran Brooks

Die neunschwänzige Katze


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war der Reiz des Spiels, das Risiko, die nicht nur latente Gefahr, die ihn ganz besonders erregten. Ein Spiel um Leben und Tod und dies während des Liebesaktes, der ihm die Sinne raubte und ihn die Unbarmherzigkeit der Welt für ein paar Minuten vergessen ließ. Ja, mit Manuela würde er es jederzeit ohne Kondom wagen. Denn die heiße Schnecke war das ganz einfach wert. Denn was wusste man schon von seiner Zufallsbekanntschaft aus einer der Bars mit der man im Bett landete? Die war bestimmt nicht so ehrlich, würde bloß ihren Spaß suchen und ihn ohne Bedenken dabei anstecken. Manuela dagegen gab sich Mühe, weder sich noch ihren Freier zu verletzten, so dass auch Aids keine Chance hatte. Ganz zärtlich würde sie vorgehen und mit Massageöl auch für ausreichend Feuchtigkeit sorgen.

      Endlich stand er vor ihrer Tür, die geschlossen war. Er zögerte. Sollte er anklopfen? Hatte Manuela gerade einen Kunden auf ihrer schmalen Schlafstelle liegen, die das Wort Bett nicht verdiente? Oder war sie allein, saß drinnen im Halbdunkel, machte Pause?

      Zaghaft klopfte er mit den Knöcheln an. Sie war grasgrün gestrichen, diese Türe, die ins Paradies führte. Doch dahinter regte sich nichts. Er klopfte erneut und stärker. War sie gar nicht da? Zögernd griff er nach dem Knopf und drehte ihn. Die Türe sprang auf und Licht fiel vom Treppenaufgang ins Zimmer hinein, strahlte direkt auf das blutig geschlagene Gesicht von Manuela, die mit weit aufgerissenen Augen tot auf ihrer Pritsche lag. Sie war splitternackt und ihr Körper übersät mit Stichwunden und Schnitten. Ein Wahnsinniger hatte hier gehaust. Oder ein Rächer.

      Carlos spürte das Würgen in seiner Kehle, konnte es nicht länger unterdrücken, wandte sich rasch aus dem Zimmer und übergab sich draußen in eine der beiden Ecken des Treppenabsatzes. Dann kehrte er zurück, schaute genauer hin, erkannte die große Verzweiflung im Gesicht seiner Manuela, die Angst und den Schmerz. Er schluckte mühsam. Dann griff er wie in Trance nach dem Türknopf, zog das Blatt ins Schloss, dachte angestrengt nach, was nun zu tun war.

      Er klemmte die Manschette seines rechten Hemdärmels mit den Fingern am Handballen fest und wischte mit dem Handgelenk über den Knopf, tilgte so seine Fingerabdrücke. Dann erst blickte er sich um, schaute die Treppe hinunter, spähte die Stufen hinauf. Er war allein und unbeobachtet, wohl wie der Mörder vor ihm. Wie lange mochte die Tat her sein? Carlos begriff, dass die Wunden noch ganz frisch ausgesehen hatten und das Blut noch nicht vollständig getrocknet war. Furcht kroch ihm in den Nacken und er wirbelte noch einmal herum, schaute angestrengt nach unten ins Halbdunkel der Treppe, hatte auf einmal das Gefühl, von gefährlichen Augen beobachtet zu werden. Er sprintete los, die Stufen weiter hoch, suchte rasch Abstand vor der Gefahr, die dort unten auf ihn lauern mochte.

      Er kam an anderen Türen vorbei, die meisten von ihnen geschlossen, nur wenige besetzt. Alle Frauen kannten ihn vom Sehen her, wussten, wo er wohnte, sprachen ihn darum nicht oder nur fröhlich an, erwarteten nichts von ihm, kannten längst seine Vorliebe für die Dürre von weiter unten. Nur Rita rief ihm ein »Warum so eilig, Carlos?« nach, doch er hielt nicht an, erwiderte nichts, hetzte einfach immer weiter, bis er endlich oben an der Seilbahnstation stand und heftig schnaufend stehenblieb. Erst als sich sein Atem beruhigt hatte, ging er langsam weiter, versuchte die Bilder des Grauens aus seinem Kopf zu bekommen, dachte an seine Mutter und seine Geschwister. Denen musste er in wenigen Minuten gegenübertreten, durfte sich nicht verraten.

      Er schlenderte zuerst auf das Haus mit ihrer Wohnung zu, entschied sich dann doch anders, ging am Eingang vorbei und schräg hinüber zum Laden von Henrique Reis, legte dort das für Manuela vorgesehene Geld in ein paar Flaschen Cola und einige Beutel Pommes Chips an. Seine jüngeren Geschwister würden sich riesig freuen, seine Mutter ihn für die Geldverschwendung tadeln, alle zusammen jedoch nichts an ihm bemerken und ihn schon gar nicht verdächtigen.

      *

      Aílton Santoro saß in der von Rauch geschwängerten Luft des Hinterzimmers in der schmuddeligen Bar an der Dionísio Rocha, trug eine Mütze mit grün-durchsichtigem Kunststoffschirm, die seine Augen vor dem grellweißen Licht der Neonröhre an der Decke schützte, zeigte ein siegesgewisses, breites Lächeln und deckte genüsslich seine beiden Könige auf, die zusammen mit dem dritten, der offen auf dem Pokertisch lag, einen Dreier ergaben. Neben diesem König lagen im Flop nur noch eine Zehn und eine Zwei, auf dem Turn die Sieben und auf dem River eine Acht.

      Aílton griff blitzend lächelnd und mit beiden Händen über den Tisch, wollte die darauf liegenden Geldscheine zu sich hinüberziehen, wurde jedoch von der kühlen Stimme von Rupero Certane zurückgehalten.

      »Nicht so schnell, Senhor Santoro, nicht so schnell.«

      Danach drehte Certane seine erste Karte um, eine Sechs, lächelte sein Gegenüber spöttisch an, deckte die zweite auf, eine Neun. Die Augen von Aílton schienen aus seinem Kopf zu quellen und ohne dass es ihm bewusstwurde, gab er ein leises Ächzen von sich.

      Die Straße von der sechs bis hoch zur zehn schlug seinen Dreier selbstverständlich. Doch wie konnte dieser verdammte Bastard mit bloß einer Neun und einer Sechs nach dem Flop mit König, Zehn und Zwei auf dem Tisch seine eigenes, angemessen hohes Gebot sogar noch steigern? Die Chancen standen doch gleich Null oder zumindest bei weniger als zwei Prozent, nachdem er selbst bereits drei Könige besaß? Und nach dem Turn stieg er immer noch nicht aus, auch nicht, als er um Pot Size erhöht hatte? Und das mit einer Chance von kaum mehr als zehn Prozent? Nein, dieser Certane erhöhte seine Bet sogar noch, zwang ihn so zum All-in. Hatte er ihn nur aus dem Blatt bluffen wollen und dabei das Glück eines Idioten erfahren? Oder war nicht eher Betrug im Spiel gewesen? Wusste Certane, dass als letzte Karte auf dem River die Acht kommen musste?

      Aílton schaute sich betroffen um, sah in ein paar unbeteiligte, in viele schadenfrohe, aber auch in zwei verächtlich blickende Gesichter. Und auf einmal wurde ihm klar, dass man ihn über den Tisch gezogen hatte, ihn in eine geschickt gestellte Falle rennen ließ. Alles hatte er zuletzt auf sein sicheres Blatt setzen müssen, nachdem dieser verdammte Rupero Certane nach dem Turn noch einmal erhöht hatte.

      Aílton erschauderte, denn er dachte erst in diesem Augenblick an seine Schulden, an die mehr als zweihunderttausend Real, die er Martinez schuldig war, einem Geldverleiher in seiner Nachbarschaft. Zweihunderttausend, hämmerte es in seinem Kopf, zweihunderttausend. Der Major Domus der Lings leckte sich nervös über seine Unterlippe, denn dort auf dem Tisch vor ihm lagen mehr als einhundert tausend. Sie wären seine Rettung gewesen, ja, Rettung und auch Neubeginn. Sie hätten ihm zumindest Luft verschafft, ein paar zusätzliche Wochen an Zeit, in denen er mit etwas Glück…?

      Während Rupero Certane das Geld zu sich hin schaufelte und zu sortieren begann, sanken die Schultern von Aílton Santoro immer mehr ein.

      Aus, Ende, Vorbei, dachte er und während sein Körper ernüchtert zu zittern begann, schaltete sich sein Gehirn aus, sendete keine bewussten Impulse mehr aus. Mit der Langsamkeit eines endgültig Geschlagenen zog er sich müde die Schirmmütze vom Kopf, ließ sie achtlos auf den Tisch fallen, fuhr sich mit dem Ärmel über die schweißnasse Stirn, stand wie benommen auf, wankte wie in Trance davon.

      In der Bar vorne würde ihm einer der Kellner beim Anziehen seines Mantels behilflich sein und ihm auch seinen Hut reichen, sogar die Türe für ihn aufhalten. Doch danach würde er draußen stehen, in der Kühle der Nacht, mit dem gnadenlosen Himmel über sich, deren kalt-silberne Sterne ihn und sein Schicksal verhöhnten.

      Dann stand er vor der Bar auf dem Gehsteig, legte seinen Kopf in den Nacken, blickte hinaus ins Weltall, fühlte die absolute Kälte dort oben, diese Minus 270 Grad Celsius, spürte sie beinahe körperlich und fühlte, wie sie Besitz von seinem Herzen nahm.

      *

      Marta Gonzales kam nach Hause, wurde von ihrem Mann erwartet.

      »Gib mir Geld«, verlangte er trunken, beinahe grölend, starrte sie mit seinen wässrigen, entzündeten Augen grimmig an.

      »Ich hab kein Geld, du Nichtsnutz«, gab die Köchin der Lings zurück und wandte sich ab, als wollte sie wieder gehen. Erstaunlich rasch stand ihr Mann jedoch vom Sofa auf und war mit wenigen, langen Schritten an ihr vorbei und an der Haustüre, blockierte sie mit seinem Rücken, sah sie zornig an.

      »Ich brauch Geld. Gib mir welches«, forderte er erneut und streckte seine Hand